Russland: Wachstumsprognosen sinken – auch der Leitzins?

Auch IWF und S&P nahmen Prognosen für 2019 weiter zurück

Immer mehr Experten rechnen 2019 mit immer weniger Wachstum in Russland. Wie entwickelte sich die Wirtschaft im ersten Halbjahr? Wird die Zentralbank den Leitzins bereits am Freitag erneut senken? Eine Analyse.

Nach dem schwachen Wachstum der russischen Wirtschaft im ersten Quartal (+ 0,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr) hat die Weltbank bereits Anfang Juni ihre Prognose für das diesjährige Wachstum auf 1,2 Prozent zurückgenommen. Am 16. Juli senkte auch der Internationale Währungsfonds in seinem Bericht über die Konsultationen mit der russischen Regierung seine Wachstumserwartung auf 1,2 Prozent. Am letzten Donnerstag gab schließlich die Rating-Agentur Standard & Poor’s bekannt, dass sie nur noch mit einem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,3 Prozent rechnet. Diese Einschätzung entspricht der Prognose, die das russische Wirtschaftsministerium bereits vor rund einem Jahr vorlegte und bisher beibehalten hat.

Analysten-Umfrage: 2020 bleibt das Wachstum unter 2 Prozent

Im nächsten Jahr rechnet die Regierung aber mit einer Beschleunigung des Wachstums auf 2,0 Prozent. Weltbank, IWF, S&P und fast alle anderen Experten bleiben mit ihren Prognosen meist etwas darunter. Vom Research-Unternehmen FocusEconomics befragte Analysten erwarteten im Juni für das nächste Jahr im Durchschnitt aber immerhin ein Anziehen des Wachstums auf 1,8 Prozent.

Mehr Dynamik wird die russische Wirtschaft nach Meinung der meisten aber auch 2021 nicht entfalten können. Die Prognose der Regierung, mit der Realisierung der „Nationalen Projekte“ werde das Wachstum 2021 auf 3,1 Prozent gesteigert werden können, wird von fast niemand für realistisch gehalten. Die „Economist Intelligence Unit“ (Forschungsabteilung des englischen Wirtschaftsmagazins „The Economist“) senkte ihre Wachstumsprognosen für 2020 und 2021 jetzt sogar auf nur noch 1,5 Prozent. Besonders skeptisch werden die Wachstumschancen in Russland auch von der Alfa Bank, der größten russischen Privatbank, und der niederländischen ING Bank beurteilt.

Wachstumsprognosen 2019 bis 2021
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

   201920202021
S&P Rating Agentur19.07.191,31,8
RIA Rating19.07.191,0
Helaba, Frankfurt19.07.191,71,7
Economist Intelligence Unit17.07.191,31,51,5
Internationaler Währungsfonds16.07.191,21,9
BNP Paribas, Paris15.07.191,21,8
OPEC, Wien11.07.191,41,4
DekaBank, Frankfurt09.07.191,11,6
ING, Amsterdam05.07.190,81,51,7
WIIW, Wien04.07.191,31,71,9
Alfa Bank, Moskau02.07.190,81,2
FocusEconomics,
Consensus Forecast
02.07.191,41,81,8
Berenberg Bank, Hamburg01.07.191,31,7
Reuters Umfrage28.06.191,2
Citibank28.06.191,52,5
Commerzbank, Frankfurt28.06.191,51,2
Unicredit, Mailand27.06.191,21,0
Danske Bank, Kopenhagen20.06.191,31,82,4
Ifo Institut, München18.06.191,01,5
Fitch Rating17.06.191,21,91,9
Russische Zentralbank,
Basisszenario
14.06.191,0 bis 1,5
Urals 65 $/b
1,8 bis 2,3
Urals 60 $/b
2,0 bis 3,0
Urals 55 $/b
DIW Berlin13.06.191,51,9
IfW Kiel13.06.191,31,6
Morgan Stanley07.06.191,51,8
Weltbank;
Global Economic Prospects
04.06.191,21,81,8
Russisches Wirtschaftsministerium09.04.191,3
Urals 63,4 $/b
2,0
Urals 59,7 $/b
3,1
Urals 57,9 $/b

Wachstum im ersten Halbjahr 2019 erreichte nur 0,7 Prozent

Nachdem das Statistikamt Rosstat am Donnerstag seinen monatlichen Bericht mit wichtigen Indikatoren für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Russland veröffentlicht hatte (Tabelle in Englisch), analysierte das Wirtschaftsministerium die Daten am Freitag in seinem Bericht „Bild der Wirtschaftsaktivität“. Es schätzt, dass das Bruttoinlandsprodukt im ersten Halbjahr 0,7 Prozent höher war als im Vorjahr. Die Wachstumsrate gegenüber dem Vorjahr habe von 0,5 Prozent im ersten Quartal auf 0,8 Prozent im zweiten Quartal angezogen. Zuletzt  sei die gesamtwirtschaftliche Produktion im Juni 0,7 Prozent höher gewesen als vor einem Jahr.

Die folgende Abbildung zeigt die Schätzungen des Wirtschaftsministeriums für die monatliche Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (hellblaue Linie). Die dunklen Punkte markieren die Rosstat-Berechnungen für die vierteljährlichen Wachstumsraten (1. Quartal 2019/1. Quartal 2018: + 0,5 Prozent).

Wachstum des BIP beschleunigte sich im Juni etwas

Wirtschaftsministerium: Bild der Wirtschaftsaktivität; 18.07.2019

Nur die Industrie trug das schwache Wachstum im ersten Halbjahr

Das Ministerium stellt fest, die Industrie habe wie im ersten Quartal auch im zweiten Quartal den wichtigsten Beitrag zum Wachstum geleistet (0,8 Prozentpunkte). Die Wachstumsbeiträge anderer wichtiger Wirtschaftsbereiche (Handel, Bau, Transport) hätten hingegen nahe der Null-Marke gelegen.

Die allgemeine Nachfrageschwäche der Wirtschaft in den letzten Monaten wird laut Wirtschaftsministerium auch durch folgende Trends bestätigt:

  • Die Inflationsrate ist rasch gesunken. Mitte Juli betrug sie nur noch 4,5 Prozent, nachdem sie im März ihren Höhepunkt mit 5,3 Prozent überschritten hat.
  • Die Zahl der offenen Stellen auf dem Arbeitsmarkt war im Juni rund 7 Prozent niedriger als vor einem Jahr.
  • Die Wareneinfuhr war im Juni rund 6,5 Prozent niedriger als vor einem Jahr, obwohl der real effektive Rubel-Kurs im ersten Halbjahr um 5,8 Prozent gestiegen ist.

Einzelhandelsumsatz stieg real nur dank wachsender Verschuldung

Rosstat legte unter anderem auch folgende Daten zur Entwicklung von Einkommen und Einzelhandel im ersten Halbjahr 2019 vor:

  • Der Einzelhandelsumsatz stieg real um 1,7 Prozent.
  • Die Löhne stiegen real um 1,8 Prozent; bei einer auf 4,4 Prozent gesunkenen Arbeitslosenquote.
  • Die real verfügbaren Einkommen sanken aber um 1,3 Prozent; ihr Rückgang verlangsamte sich dabei von 2,5 Prozent im ersten Quartal auf 0,2 Prozent im zweiten Quartal.

Möglich war das Wachstum des Einzelhandels nur, weil die Verbraucher mehr Kredite aufnahmen. Laut Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, erreichte die Zunahme der Verschuldung aber im April ihren Höhepunkt (+ 23,8 Prozent gegenüber Vorjahr). Im Juni sank die Wachstumsrate auf 22,8 Prozent. Bis zum Jahresende rechnet Orlova mit einer weiteren Abnahme auf rund 18 Prozent. Sie erwartet, dass der Einzelhandelsumsatz im dritten Quartal ähnlich moderat wächst wie im zweiten Quartal (+ 1,5 Prozent).

Über die Risiken der wachsenden Verschuldung der Verbraucher für die Konjunktur war in den letzten Wochen insbesondere zwischen Wirtschaftsminister Oreschkin und Zentralbankpräsidentin Nabiullina sehr kontrovers diskutiert worden (siehe Lesetipps).

Dmitry Dolgin, Chef-Volkswirt für Russland der ING, stellte in seiner Analyse der jüngsten Monatsdaten („June activity not too bad“) in folgender Abbildung die Entwicklung des realen Einzelhandelsumsatzes (dunkle Linie) vor dem Hintergrund der Entwicklung der Reallöhne (rote Linie) und der Aufnahme von Verbraucherkrediten (graue Fläche) dar:

Schlüssel-Indikatoren zur Verbrauchsentwicklung in Russland
Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent

State Statistics Service, Bank of Russia, ING
Dmitry Dolgin (ING): Russia: June activity not too bad; 17.07.2019

Dolgins Beitrag bietet auch eine Abbildung zur Entwicklung der Produktion der Industrie (1. Halbjahr 2019: + 3,3 Prozent) und der Bauwirtschaft (1. Halbjahr: + 0,1 Prozent) sowie der Unternehmenskredite (Juni 2019/Juni 2018: + 6,4 Prozent).

Orlova und Dolgin erwarten Zinssenkung

Zur Frage, ob die russische Zentralbank am Freitag den Leitzins erneut senken wird, sind sich Orlova und Dolgin einig. Beide erwarten, dass eine weitere Senkung um 0,25 Prozentpunkte auf dann 7,25 Prozent beschlossen wird. Bei einer Ende Juni veröffentlichten Reuters-Umfrage ging die Mehrheit der Analysten noch davon aus, dass der Leitzins erst im September gesenkt wird.

Orlova verweist jetzt aber auf den scharfen Rückgang der Teuerungsrate auf nur noch 4,7 Prozent im Juni. Angesichts der niedrigen Arbeitslosenquote und zu erwartender Gehaltsanhebungen in der öffentlichen Verwaltung werde die Zentralbank im weiteren Verlauf des Jahres jedoch genügend Gründe haben, eine „vorsichtige“ Zinspolitik zu verfolgen.

Dolgin schätzt, dass der Leitzins in den nächsten 6 bis 12 Monaten um insgesamt 0,5 bis 0,75 Prozentpunkte gesenkt wird. Er argumentiert, dass sich die Aussichten für niedrigere Preissteigerungen dank der günstigen Entwicklung auf den Agrarmärkten verbessert hätten. Außerdem entwickele sich der Rubelkurs stärker als erwartet und dämpfe den Preisanstieg.

Für eine kurzfristige Belebung des Wachstums der russischen Wirtschaft ist die Zinssenkung nach Dolgins Meinung aber irrelevant – im Gegensatz zu den geplanten Erhöhungen der öffentlichen Ausgaben.

Föderalhaushalt: Ausgaben stiegen viel schwächer als Einnahmen

Die folgende Abbildung des Forschungsinstituts BOFIT der finnischen Zentralbank zeigt, dass die Ausgaben im föderalen Haushalt seit Mitte 2017 deutlich schwächer erhöht wurden als die Einnahmen stiegen.

Auch im ersten Halbjahr 2019 wuchsen die gesamten Einnahmen (schwarze Linie) nominal noch um rund 10 Prozent. Die Ausgaben (rote Linie) wurden gleichzeitig nur um rund 3 Prozent erhöht. Der Haushaltsüberschuss hat laut BOFIT in den letzten 12 Monaten noch 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts überstiegen.

 

Föderationshaushalt: Einnahmen und Ausgaben 2015 bis 2019
Prozentuale Veränderung der Summe der letzten sechs Monate
gegenüber dem Vorjahreszeitraum in Prozent

Quelle: Finanzministerium
BOFIT (Bank of Finland): Russian federal budget produces strong first half surplus; BOFIT Weekly, 19.07.2019

Mit der Umsetzung der geplanten „Nationalen Projekte“ sollen die Ausgaben im zweiten Halbjahr 2019 jedoch stärker erhöht werden. Im gesamten Jahr 2019 sollen sie rund 10 Prozent höher sein als 2018. Das Finanzministerium plant, dass der Haushaltsüberschuss deswegen in diesem Jahr auf 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sinkt (siehe Ostexperte.de-Bericht: Wachstumsflaute setzt russische Fiskalpolitik unter Druck; 15.07.2019).

BOFIT macht darauf aufmerksam, dass dabei von einem Urals-Ölpreis von rund 63 Dollar/Barrel ausgegangen wird. Im ersten Halbjahr erreichte er rund 66 Dollar/Barrel. Wie stark die Öl- und Gaseinnahmen des föderalen Haushalts seit 2015 schwankten zeigt die BOFIT-Abbildung.

Lob vom IWF und S&P für die russische Fiskalpolitik

Der kräftige Anstieg der Öl- und Gaseinnahmen im föderalen Haushalt im letzten Jahr trug dazu bei, dass 2018 ein hoher Überschuss von 2,6 Prozent des BIP erreicht wurde. Der IWF wirft in seinem neuen Bericht der Regierung aber deswegen keine restriktive Fiskalpolitik vor. Er rechnet damit, dass der Überschuss im Föderalhaushalt in diesem Jahr auf 1,5 Prozent des BIP verringert wird und bezeichnet die makroökonomische Politik der Regierung als „sound“ (gesund, vernünftig). Sie sei geeignet, externe Schocks abzufedern. Der IWF empfiehlt bei den jetzigen Regeln für das Sparen von Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich zu bleiben.

Der IWF unterstreicht gleichzeitig erneut, dass umfassende strukturelle Reformen wichtig seien, um das Wachstum zu erhöhen. Priorität sollte dabei die Förderung des Bereichs der privaten Unternehmen haben.

Standard & Poor’s beurteilt die russische Fiskal- und Geldpolitik ähnlich positiv wie der IWF, merkt aber an, dass die aktuelle Abnahme des Wachstums auch eine Folge von Verzögerungen bei der Finanzierung öffentlicher Ausgaben für die Infrastruktur sei.

Titelbild
[toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”]Titelbild: Brunnen der Völkerfreundschaft im Moskauer VDNH. Foto: Ekaterina Bykova / Shutterstock.com
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Quellen und Lesetipps

Aktuelle Wirtschaftslage:
Monatsbericht des Wirtschaftsministeriums und
Rosstat-Monatsdaten Juni 2019 mit Analysten-Kommentaren

Industrieproduktion im Juni

Preisentwicklung im Juni und Geldpolitik

Konsumentenverschuldung – Streit zwischen Oreschkin und Nabiullina

Präsentationen im Investoren-Programm der Zentralbank in Englisch

Start der Internet-Seite „ECONS – Economic Conversations“ der Zentralbank

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte (meist monatlich, vierteljährlich)

Sonstige Veröffentlichungen zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann seit Ende Mai 2019:

Klaus Dormann: Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland
Veröffentlichung des Deutsch-Russischen Wirtschaftsclubs Düsseldorf; 38 Seiten, 02.06.2019