“Covid-19 bringt das Schiff nicht zum Sinken”

Vorstandsvorsitzender der AHK im Interview mit der MDZ

Deutsche Unternehmen machen auch in Russland keine leichten Zeiten durch. Wie schwer sie sind, darüber spricht Matthias Schepp, Vorstandsvorsitzender der Auslandshandelskammer (AHK), mit der MDZ. Der ehemalige Journalist hatte die Sars-Epidemie 2003 in Peking mitten im Geschehen erlebt. Nicht zuletzt deswegen zeigt er sich im Interview entschlossen und nicht ohne Zuversicht.
Die Fragen stellte Tino Künzel.

Viele Menschen haben sich in diesen Tagen notgedrungen einen neuen Arbeitsplatz suchen müssen – in den eigenen vier Wänden. Von wo leiten Sie die Geschäfte der AHK?

Vom Büro. Dabei hätte ich ein schönes Homeoffice: Ich wohne in einem Dorf bei Moskau. Ein Haus direkt am Wald, zwei Stockwerke, Terrasse und Balkone. Der ein oder andere Mitarbeiter von mir aber sitzt mit zwei Kindern und Ehepartner in einem Ein-Zimmer-Appartement. Ich habe als Journalist in Peking während der ersten Sars-Epidemie 2003 gesehen, wie hart es für viele Menschen ist, über Wochen eine enge Bleibe nicht zu verlassen. Wer ins AHK-Büro kommen will, kann dies tun, allerdings nur per Auto oder Taxi, nicht mit der Metro. Und auch im Büro werden große Abstände eingehalten.

Hat es nach Ihrer Kenntnis bisher Fälle von Coronavirus-Infektionen bei deutschen Unternehmen in Russland gegeben?

Ja, vereinzelt. Aber sie haben alle einen leichten Verlauf genommen. Bei der AHK selbst gab es bisher keinen Fall. Eine Mitarbeiterin von uns hat die Notrufnummer angerufen, weil sie Symptome hatte, die auch bei Covid-19 auftreten. An diesem Beispiel konnte man sehen, wie professionell die Moskauer Gesundheitsbeamten inzwischen reagieren. Sie kamen zu der Mitarbeiterin in die Wohnung, haben den Test durchgeführt und gesagt, dass sie bei einem positiven Befund informiert würde. Das war zum Glück nicht nötig.

Macht Ihnen Angst, was gerade passiert?

Ich selbst habe keine Angst. Aber ich verstehe die Ängste anderer. Ich habe den Vorteil, ganz ähnliche Erfahrungen schon einmal gemacht zu haben, als ich Asien-Büroleiter des „Stern“ war. Im April 2003 habe ich enthüllt, dass die chinesische Regierung nicht die Wahrheit gesagt hat, als sie behauptete, Sars sei nur auf Hongkong begrenzt. Ich habe recherchiert, dass es in Peking mehr als ein Dutzend Tote in Krankenhäusern gab.

Rolf Hilgenfeld, ein bekannter deutscher Virologe, der auch jetzt wieder in den Medien ist, reiste damals nach Peking und bekam von seinen chinesischen Kollegen zur Forschung Sars-Viren in einem Bleicontainer. Der war zu groß, um ihn in der Minibar seines Hotelzimmers unterzubringen. Ich habe ihm dann angeboten, den Container bis zu seiner Abreise aufzubewahren. Und so lebte Sars vier Tage fröhlich bei uns im Kühlschrank. Ich habe einen Totenkopf auf den Container gemalt. Aber es wussten bis hin zur Putzfrau auch so alle, dass man das Ding lieber nicht aufmachen sollte.

Die Szenen, die sich damals abspielten, waren vergleichbar mit heute?

Als durchsickerte, dass es Sars-Tote in Peking gab, brach eine Massenpanik in der Stadt aus. Sie war schnell menschenleer. Aus Angst isolierten sich die Menschen selbst,  ohne dass der Staat es verordnen musste. Die meisten Ausländer flüchteten in ihre Heimat. Wie später klar wurde, war Sars zwar sehr tödlich, aber das Ansteckungsrisiko überschaubar. Meine Frau, eine Moskauerin, besuchte damals gerade Freunde und Verwandte in Russland. Wir entschieden, dass sie mit unseren beiden kleinen Kindern nach Peking zurückkehrt und noch einen Koffer mit Mundschutzmasken und Desinfektionsmittel mitbringt. Diese Dinge habe ich dann an meine dortigen fünf Mitarbeiter und ihre Familien verteilt. Im Büro führte ich Fiebermessen ein und wir hielten Abstand. Das alles schon einmal durchgemacht zu haben, lässt mich jetzt ruhig schlafen. Ich weiß, was zu tun ist.

Was ist dabei vorrangig?

Erstens die Gesundheit der Mitarbeiter und ihrer Familien. Wir haben gerade tausende Masken für unsere Mitarbeiter, deren Partner, Kinder und Eltern gekauft. Zweitens ist Aufklärung wichtig, dass es Risiken gibt und Sars-Cov-2 die unangenehme Eigenschaft hat, sich schnell auszubreiten, aber dass es nicht die Vogelgrippe, nicht Ebola und auch nicht die Pest ist. Drittens hänge ich einem altmodischen Verständnis von Führung an: Wenn es stürmt, steht der Kapitän für alle sichtbar und Mut machend auf der Brücke. Wenn Wasser in den Schiffsbauch eindringt, gibt er klare Anweisungen und packt notfalls selbst mit an. Und wenn das Schiff sinkt, geht der Kapitän als Letzter von Bord. Aber Covid-19 bringt das Schiff nicht zum Sinken.

Es ist ungefähr einen Monat her, dass Sie in einer Mitteilung der AHK vor „vorschnellen Maßnahmen, die die Bekämpfung des Virus bei nüchterner Betrachtung nicht erleichtern, aber die Wirtschaft schädigen“, gewarnt haben. Wäre Russland nicht umgekehrt gut beraten gewesen, wenn es sich schon früher zu harten Einschnitten entschlossen hätte?

Die Politik ist in allen Ländern gefordert, zwischen der nötigen Gesundheitsvorsorge und dem langfristigen Gemeinwohl abzuwägen. Sie muss auch  die Folgen einer Pleitewelle, von Massenarbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Unsicherheit und sozialer Ungerechtigkeit bedenken. Die Wirtschaft darf keinen übergroßen Schaden erleiden, die Folgen der Anti-Corona-Maßnahmen dürfen nicht schlimmer sein als das Virus selbst.

Wie sehen Sie Russland in wirtschaftlicher Hinsicht für die Bewältigung der Krise gerüstet?

Das Land sitzt auf gewaltigen Währungsreserven von gegenwärtig 550 Milliarden US-Dollar. Sie haben Anfang März sogar ihren Höchststand seit der Weltfinanzkrise von 2008 erreicht. Die Zentralbank unter Elvira Nabiullina hat in der Finanzkrise und in den Jahren 2014 und 2015 unter dem Doppelschock von Sanktionen und niedrigen Ölpreisen bereits gezeigt, dass sie den Rubel stabilisieren kann. Ich bin zuversichtlich, dass dies auch diesmal gelingt.

Wie beurteilen Sie die angekündigten Hilfsleistungen für Unternehmen?

Russland hat ein relativ kleines Hilfs­paket aufgelegt. Gleichzeitig wurde die Hauptlast auf die Schultern der Unternehmen gelegt, indem der Präsident mehrere arbeitsfreie Wochen bei gleichzeitiger Lohnfortzahlung verkündet hat. Wir befürchten, dass insbesondere der ohnehin kleine Mittelstand und kleine Unternehmen leiden werden. Nach der Corona-Krise wird es mehr Staats- und weniger Privatwirtschaft geben. Große, staatsnahe Unternehmen werden eine noch größere Rolle spielen. Wir versuchen, mit unseren Mitteln da­rauf Einfluss zu nehmen, dass sich der Schaden gerade für kleine und mittlere Unternehmen in Grenzen hält.

Im ständigen Kontakt zu Ministerien

Werden Sie denn von den russischen Regierungsstellen gehört?

Wir sehen eine große Bereitschaft der russischen Regierung, auf unsere Vorschläge zu reagieren, speziell bei unseren Partnern im Industrie- und Handelsministerium und im Wirtschaftsministerium, zu denen wir enge und tägliche Kontakte pflegen.

Da findet ein intensiver Austausch statt?

Auf eine ganz hervorragende Weise, um die mich meine AHK-Kollegen in anderen Ländern beneiden, auch die in Großmächten wie den USA und China.

Mit welcher Wucht trifft Corona die deutschen Unternehmen in Russland?

Wir führen dazu aktuell eine Umfrage durch und haben exklusiv für die MDZ eine Zwischenauswertung vorgenommen. Die Tendenz ist klar. Mehr als die Hälfte unserer 900 Mitgliedsunternehmen sieht sich als stark oder sehr stark betroffen. Ein Drittel der Unternehmen rechnet mit Schäden zwischen einer und zehn Millionen Euro. Zwei Drittel der in Russland produzierenden Unternehmen haben bereits mit unterbrochenen Lieferketten beziehungsweise einem mindestens teilweisen Produktions­stopp zu kämpfen. Aber unsere Unternehmen sind durch viele Krisen gestählt und werden in ihrer Mehrheit auch durch die Corona-Krise kommen.

Kurze Nächte bei der AHK

Wie viele Hilferufe haben Sie in jüngster Zeit schon erhalten und wie hilft die AHK?

Bei uns sind hunderte Anfragen eingegangen. Wir versuchen vor allem, möglichst viele Mitglieds­unternehmen auf die Liste systemrelevanter Firmen zu bekommen, die eine Fortsetzung der Produk­tion erlaubt, und auf  entsprechende Ausnahmelisten in den Regionen. Krisenzeiten sind Kammerzeiten. Wir arbeiten derzeit zwischen 12 und 18 Stunden am Tag, die Nächte sind kurz.

Die Zahl der deutschen Unternehmen in Russland ist in den letzten Jahren von fast 6200 auf knapp 4300 gesunken. Werden sich die Reihen jetzt noch einmal deutlich lichten?

Zwei Trends bleiben. Erstens werden die deutschen Direktinvestitionen in Russland mittelfristig ihr hohes Niveau halten, auch wenn Covid-19 wohl zu einer Delle führt. Laut Deutscher Bundesbank lagen die Nettoinvestitionen – die Summe aus Zufluss und Abfluss deutschen Kapitals – im vergangenen Jahr bei 2,1 Milliarden Euro.

Zweitens sinkt die Zahl der deutschen Firmen schon seit 2012 und wird vermutlich weiter abnehmen. Auch weil das schwache Wirtschaftswachstum in Russland und die westlichen Sanktionen dazu führen, dass sich Spreu vom Weizen trennt. Diejenigen Unternehmen, die in Russland produzieren, haben aber nach wie vor gute Umsätze und gute Gewinne.

In der Wirtschaft spricht man statt von Problemen lieber von  Chancen. Können Sie der Krise auch etwas Positives abgewinnen?

Unternehmen, die sie gut managen, werden digitaler, schneller, kunden- und mitarbeiterorientierter daraus hervorgehen. Das haben wir uns auch in der Kammer zum Ziel gesetzt.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Moskauer Deutschen Zeitung.

Titelbild
Titelbild: AHK-Pressekonferenz / Ostexperte,de
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