Russland: Wirtschaft und Gazprom unter Sanktionsdruck

Sie wird mit Spannung erwartet: die erste Schätzung des russischen Statistikamtes Rosstat zum Rückgang des Bruttoinlandsproduktes 2022. Denn insbesondere die Rohstoff-Exporte sorgen durch die internationale Sanktionierung für deutliche Einbuße im Staatshaushalt. Die aktuellen Prognosen im Überblick.

Am 22. Februar will Russlands Statistikamt Rosstat seine „erste Schätzung“ zum Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 veröffentlichen. Die ursprünglich für den 17. Februar geplante Veröffentlichung verzögert sich nach Angaben von Rosstat „aus technischen Gründen“. Eine Reihe von Indikatoren müsse erneut berechnet werden. Das berichtet Interfax.

Bisher wurde der Rückgang der Produktion der russischen Wirtschaft im letzten Jahr sowohl von der russischen Zentralbank als auch von Staatspräsident Putin auf 2,5 Prozent veranschlagt. Es ist wohl zu erwarten, dass der Staatspräsident in seiner „Rede zur Lage der Nation“ am 21. Februar die neue Rosstat-Schätzung für den BIP-Rückgang im Jahr 2022 mitteilen wird. Vielleicht beziffert er auch seine Wachstumserwartung für 2023 genauer als bisher.

Der folgende Artikel stellt zunächst eine in der letzten Woche von der russischen Rating-Agentur „RIA Rating“ veröffentlichte Analyse der Entwicklung der russischen Wirtschaft in den Jahren 2022 und 2023 vor. Es folgen einige Hinweise zur Entwicklung im Gas- und Ölbereich, vor allem zu den Veränderungen der Erdgasproduktion und des Erdgasexports von Gazprom. Sie haben erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des russischen Außenhandels und des Staatshaushalts. Preise und Ausfuhrmengen von Gas und Öl aus Russland verändern sich wegen der westlichen Sanktionen derzeit stark.

Aktuelle Konjunkturprognosen im Vergleich

Laut der aktuellen Prognose der russischen Zentralbank dürfte Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion 2023 weitgehend stagnieren. Die Prognosespanne der Zentralbank reicht von minus ein Prozent bis plus ein Prozent.

Die Rating-Agentur „RIA Rating“, Teil des staatlichen Medien-Unternehmens „Russia Today“, teilt die Einschätzung der Zentralbank zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion fast völlig. Die Agentur zog in der letzten Woche in einem Artikel eine Bilanz der Konjunkturentwicklung im letzten Jahr und erläuterte die Perspektiven für 2023. RIA Rating geht davon aus, dass Russlands BIP 2022 um 2,5  Prozent gesunken ist. Für 2023 nennt die Agentur eine Prognose-Spanne von minus 1 Prozent bis plus 0,5 Prozent.

Die Moskauer Rating-Agentur „Expert RA“ und das „Zentrum für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognosen, CMASF“ sehen in ihren jüngsten Prognosen hingegen noch nicht die Möglichkeit, dass im Jahresvergleich 2023/2022 ein schwaches  Wirtschaftswachstum erreicht werden kann.

BIP-Prognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Warum 2022 eine tiefe Rezession der Gesamtwirtschaft vermieden wurde

Auch RIA Rating stellt zunächst fest, dass sich Russlands Konjunktur 2022 viel besser entwickelte als im letzten Frühjahr nach dem Beginn des Ukraine-Krieges oft erwartet wurde. Als Gründe, warum eine „tiefe Rezession“ vermieden werden konnte, nennt die Agentur:

  • Das „Preisumfeld auf den Auslandsmärkten“ war 2022 günstig (Damit ist wohl vor allem der starke Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise gemeint).
  • Die staatlichen Ausgaben zur Unterstützung der russischen Wirtschaft wurden mit „Rekordgeschwindigkeit“ erhöht.
  • Die russische Wirtschaft bewies eine gute Anpassungsfähigkeit. Der Außenhandel wurde schnell auf die Märkte „befreundeter Länder“ umorientiert.

RIA Rating zieht folgendes Fazit: 2022 zeigte sich, dass die Weltwirtschaft derzeit nicht ohne eine Zusammenarbeit mit Russland funktionieren kann. Auch künftig wird es im Welthandel keine totale Ablehnung der Einfuhr von russischem Gas und Öl geben. Das gilt auch für die Einfuhr von Nickel, Palladium, Kupfer, Aluminium, Mineraldünger und Weizen aus Russland.

Höhere Rüstungsausgaben stützten die Produktion

Auch höhere Rüstungsausgaben trugen 2022 zur Stabilisierung der Produktion der russischen Wirtschaft bei. Diesen Hinweis gibt auch die Konjunkturanalyse von RIA Rating. Hervorgehoben wird dieser Aspekt in einem bei Focus.de veröffentlichten Artikel des englischen Wirtschaftsmagazins „The Economist“.

Russlands Haushaltsplan für 2022 sah Ausgaben in Höhe von insgesamt 23,7 Billionen Rubel vor. Tatsächlich waren die Ausgaben nach Angaben der Regierung aber rund 7 Billionen Rubel höher als geplant. Sie erreichten rund 31 Billionen Rubel.

Laut Natalia Subarewitsch, Wirtschaftsgeografin und Professorin an der Staatlichen Lomonossow-Universität in Moskau, flossen von den Mehrausgaben nach Angaben der Regierung rund 2,5 Billionen Rubel in Sozialleistungen und andere Transfers. Für die übrige ungeplante Ausgabensteigerung in Höhe von rund 5 Billionen Rubel gab die Regierung keinen Verwendungszweck an. „The Economist“ vermutet, dass ein Großteil dieser Ausgaben für militärische Zwecke verwendet wurde.

2023 ist in einigen Wirtschaftsbereichen Wachstum möglich

Bei der Prognose für 2023 geht RIA Rating davon aus, dass „die geopolitischen Spannungen“ nicht eskalieren. Unter dieser Voraussetzung erwarten die RIA-Experten, dass im Jahr 2023 in einigen Wirtschaftsbereichen ein Wachstum der Produktion möglich ist. Dazu verweisen sie zunächst vor allem auf die durch die Rezession gedrückte Ausgangsbasis.

Vor allem in der Auto-Industrie könne man 2023 mit einem „Rebound“ von den niedrigen Produktionszahlen des letzten Jahres rechnen. Hinzu komme, dass das Ministerium für Industrie und Handel eine Vervielfachung der Produktion von Elektrofahrzeugen erwartet. Es sei zwar möglich, dass sich der Rückgang der Produktion fortsetze, meint RIA Rating. Aber das Abnahmetempo werde „um eine Größenordnung“ geringer sein als im Jahr 2022.

Ein Wachstum ist laut RIA Rating auch in Sparten des Maschinenbaus zu erwarten (Bau von Eisenbahnen, Maschinen für die Landwirtschaft und den Straßenbau). Auch durch den Wegzug westlicher Unternehmen dürfte die Nachfrage nach Produkten russischer Unternehmen steigen.

Die Agentur-Experten rechnen zwar mit anhaltenden Problemen bei der Beschaffung von bisher importierten Bauteilen. Sie meinen aber, diese Probleme würden allmählich durch die Schaffung eigener Produktionsstätten in Russland und durch Lieferungen aus „befreundeten Ländern“ gelöst werden. Die Notwendigkeit der „Importsubstitution“ sei ein wichtiger Faktor bei der Wiederbelebung der russischen Wirtschaft.

Wachstumsimpulse für die gesamtwirtschaftliche Produktion erwartet RIA Rating auch von einer verstärkten Nachfrage nach Materialien und Ausrüstungen für Bauinvestitionen.

Im Einzelhandel ist eine Umsatzerholung um real rund 5 Prozent zu erwarten

2022 ist der reale Einzelhandelsumsatz gegenüber dem Vorjahr laut Rosstat um 6,7 Prozent gesunken. Eine Ursache dafür war laut RIA Rating, dass die privaten Haushalte mehr gespart haben. RIA Rating geht von einer „aufgestauten“ Nachfrage bei den privaten Verbrauchern aus, die 2023 wirksam werden dürfte. Im Vergleich zum gedrückten Konsumniveau des Jahres 2022 werde der reale Einzelhandelsumsatz 2023 um rund 5 Prozent steigen.

Die Sanktionen bremsen Produktion und Ausfuhr von Öl und Gas

Als „Bremsfaktor“ für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft nennt RIA Rating zunächst die Verschärfung der Sanktionen hinsichtlich des Exports von Energie aus Russland. Die USA und die EU hätten Einfuhrbeschränkungen verhängt und Preisobergrenzen für Energieexporte aus Russland angeordnet.

Die Rating-Agentur erwartet, dass Russlands Ölförderung 2023 höchstwahrscheinlich zurückgehen wird, da es unmöglich sei, den Ölexport „nach Osten“ umzulenken.
Auch die Gasproduktion werde voraussichtlich weiter sinken.

Steigende Kreditkosten und Personalmangel drücken die Produktion

Eine Belastung der Konjunktur erwartet RIA Rating auch von der Zinsentwicklung. Der Inflationsdruck werde 2023 allmählich zunehmen. Die Zentralbank werde zu Zinserhöhungen gezwungen sein. Die Kreditkosten für die Unternehmen würden sich deswegen voraussichtlich erhöhen.

Hinzu komme ein verschärfter Personalmangel. Es fehlten Fachkräfte, u.a. zur Lösung der vielfältigen Probleme, die sich infolge der Sanktionierung von Technologieimporten ergäben.

Negative Konsequenzen für Handelsbilanz und Haushaltsdefizit

Im Zuge der diesjährigen Konjunkturentwicklung dürfte nach Einschätzung von RIA Rating Russlands Überschuss in der Handelsbilanz aufgrund niedrigerer Ausfuhrpreise und sinkender Ausfuhrmengen abnehmen.

Auch die Steuereinnahmen aus dem Außenhandel dürften sinken – bei gleichzeitig wachsenden Staatsausgaben.

Nach Angaben des russischen Finanzministeriums ist das Defizit im Föderationshaushalt 2022 deutlich gestiegen. Die Ausgaben wurden gegenüber 2021 um rund 26 Prozent erhöht. Demgegenüber stiegen die Einnahmen nur um rund 10 Prozent.

Das föderale Haushaltsdefizit erhöhte sich auf 2,3 Prozent des BIP. Das berichtet russland.capital.de.

Finanzminister Siluanow strebt 2023 aber weiterhin ein Defizit von 2,0 Prozent des BIP an, obwohl die Ausgaben für das Militär stark erhöht werden sollen. Im Vergleich mit den Haushaltsplanungen vom Herbst 2021 für 2023 sind jetzt für das laufende Jahr rund 45 Prozent höhere Verteidigungsausgaben vorgesehen. Ihr Anteil an den Gesamtausgaben soll auf 17 Prozent steigen.

Der Erdgas-Absatz von Gazprom brach 2022 tief ein

Wie stark sich die Absatzmöglichkeiten auf dem Weltmarkt vor allem für Gazprom, den größten russischen Gasexporteur, verschlechtert haben, macht ein in Finam.ru veröffentlichter Artikel von Sergey Kaufman deutlich:

Bis 2018 hat Gazprom seine Erdgasexporte in Länder außerhalb der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“, in das sogenannte „Ferne Ausland“, auf fast 201 Milliarden Kubikmeter gesteigert. Sie haben sich inzwischen jedoch halbiert. 2022 erreichten sie nur noch rund 101 Milliarden Kubikmeter. Im Vergleich zur Absatzmenge im Vorjahr (2021: 185,1 Milliarden Kubikmeter) war das laut Reuters ein Rückgang um rund 45 Prozent.

Die folgende Abbildung aus einer Studie von Vitaly Yermakov, Oxford Institute for Energy Studies, OIES, zeigt, wie sich die Erdgasproduktion und der Erdgasexport von Gazprom ins Ferne Ausland im Verlauf der Jahre 2021 und 2022 entwickelten. Nicht nur der Gazprom-Export ins Ferne Ausland (gestrichelte rote Linie) hat sich seit März 2022 deutlich verringert und brach im Vergleich mit 2021 tief ein. Auch die Gazprom-Erdgasproduktion sank gegenüber dem Vorjahr drastisch.

Gazproms Erdgasproduktion und Erdgasexporte ins Ferne Ausland,
Monatswerte 2021 und 2022, Mrd. Kubikmeter

Vitaly Yermakov,  OIES:  “Catch 2022” for Russian gas: plenty of capacity amid disappearing market, Key Takeaways for Year 2022 and Beyond, 25.01.2023

Russlands Erlöse aus dem Erdgasexport stiegen 2022 aber auf Rekordniveau

Obwohl der Erdgasexport ins Ferne Ausland 2022 mengenmäßig um rund 45 Prozent gesunken ist, stiegen Russlands Erlöse aus dem Erdgasexport per Pipeline gleichzeitig um rund zwei Drittel. Das lässt die folgende Abbildung 10 der OIES-Studie erkennen. Sie zeigt, dass die russischen Erlöse aus dem Erdgasexport per Pipeline nach Schätzung von Yermakov von gut 50 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 auf bis zu 90 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 zunahmen.

Russlands Erlöse aus Erdgasausfuhren per Pipeline
Milliarden US-Dollar

Vitaly Yermakov,  OIES:  “Catch 2022” for Russian gas: plenty of capacity amid disappearing market, Key Takeaways for Year 2022 and Beyond, 25.01.2023

Laut Schätzung der Nachrichtenagentur Reuters sind die Erlöse Gazproms aus dem Erdgasexport 2022 etwas schwächer auf rund 80 Milliarden US-Dollar gestiegen. Die höheren Erlöse hätten geholfen, auch die Steuereinnahmen des Staates nach oben zu treiben. Der Fiskus habe außerdem von einer verschärften Gasbesteuerung und den hohen Dividendenzahlungen der Gazprom profitiert.

Im ersten Halbjahr 2022 stieg der Netto-Gewinn von Gazprom laut Reuters auf einen Rekordstand von 2,5 Billionen Rubel (34 Milliarden US-Dollar). Seither veröffentlicht Gazprom, wie viele andere russische Unternehmen, keine Geschäftsergebnisse mehr.

Wie wird sich der Gazprom-Absatz 2023 entwickeln?

Finam-Analyst Kaufman schätzt, dass die Gazprom-Lieferungen in die „Non-CIS“ 2023 von rund 101 Milliarden Kubikmeter weiter auf 75 bis 85 Milliarden Kubikmeter sinken dürften. Gazprom habe kaum Aussichten für eine Rückkehr auf den europäischen Markt. Zum einen sei die Nachfrage wegen der hohen Preise und der Einsparbemühungen gesunken. Die Kunden hätten sich außerdem auf LNG-Bezüge umorientiert. Auch ein allmähliches Wachstum der Erdgasbezüge per Pipeline aus anderen Ländern habe der EU geholfen, ihre Abhängigkeit von russischen Gazprom-Lieferungen bereits im Jahr 2022 drastisch zu verringern (siehe auch: Alexey Belogoriev, in: oilcapital.ru: On the humble: prospects for Russian pipeline gas exports to Europe in 2023, February 14, 2023).

Falls sich die Beziehungen zwischen Russland und der EU nicht verbessern, wird Gazprom nach Einschätzung von Kaufman fast vollständig vom europäischen Markt verdrängt werden und zwar vor allem durch LNG-Lieferungen aus den USA.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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