Russische Wirtschaft: Neue Zentralbankprognosen

Am Freitag präsentierte die russische Zentralbank die Konjunkturergebnisse für 2022 – und gab neue Prognosen zum aktuellen Wirtschaftswachstum bekannt.

Russlands Bruttoinlandsprodukt ist 2022 laut einer am Freitag veröffentlichten Schätzung der russischen Zentralbank um 2,5 Prozent geschrumpft. Präsident Putin hatte bereits Mitte Januar erwähnt, dass der Rückgang des BIP im letzten Jahr auf 2,5 Prozent veranschlagt werde. Bei einem Treffen mit Vertretern der Luftfahrtindustrie sagte er am 09. Februar zudem voraus, dass Russlands Wirtschaft 2023 ein leichtes Wachstum erreichen werde.

Die Zentralbank hält es jetzt auch für möglich, dass sich die gesamtwirtschaftliche Produktion schon im laufenden Jahr etwas erholt. Sie erwartet in ihrer neuen mittelfristigen Prognose, dass die diesjährige Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts zwischen -1 Prozent und +1 Prozent liegen wird. In ihrer letzten Prognose im Oktober hatte sie noch damit gerechnet, dass Russlands BIP im Jahr 2023 um mindestens 1 Prozent sinkt. Gleichzeitig schloss sie damals eine Verschärfung der Rezession auf 4 Prozent für 2023 nicht aus.

Der Internationale Währungsfonds hatte seine Prognose für Russlands BIP-Veränderung im Jahr 2023 bereits Ende Januar um 2,6 Prozentpunkte von – 2,3 Prozent auf + 0,3 Prozent angehoben, also ähnlich stark wie jetzt die Zentralbank.

Zentralbank bleibt bei Leitzins von 7,5 Prozent

Die Zentralbank veröffentlichte ihre neuen mittelfristigen Konjunkturprognosen anlässlich ihrer Leitzinsentscheidung am 10. Februar. Wie von vielen Beobachtern erwartet, beließ die Zentralbank den Leitzins bei 7,5 Prozent, obwohl der Anstieg der Verbraucherpreise weiter gesunken ist. Er verminderte sich im Dezember 2022 im Vorjahresvergleich auf 11,9 Prozent und im Januar 2023 auf 11,8 Prozent (Rosstat-Bericht).

Die folgende Abbildung des Forschungsinstituts der Wneschekonombank zeigt als letzten Monatswert den Rückgang im Dezember auf 11,9 Prozent und die jährlichen Preissteigerungsraten in den beiden Wochen bis zum 06. Februar.

Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent

Anteile an der Inflationsrate: Lebensmittel (hellrot), Sonstige Waren (hellgrün), Dienstleistungen (dunkelgrün)

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“, 10.02.23

Zentralbankpräsidentin Nabiullina begründete die Entscheidung, den Leitzins von 7,5 Prozent beizubehalten, in ihrem Statement mit den insgesamt gestiegenen Inflationsrisiken. Die Zentralbank verweist in ihrer Presseerklärung dazu auf die beschleunigt wachsenden staatlichen Ausgaben. Außerdem gebe es preistreibende Effekte der Abwertung des Rubels am Jahresende und von der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt. Seit der Jahreswende habe sich der wöchentliche Preisanstieg beschleunigt.

Prognose der Zentralbank: Bis Ende 2023 halbiert sich die Inflationsrate

In ihrer mittelfristigen Prognose (siehe folgende Tabelle) erwartet die Zentralbank, dass der Leitzins im Jahresdurchschnitt 2023 zwischen 7,0 und 9,0 Prozent liegen wird. Präsidentin Nabiullina meinte in ihrem Statement, die Wahrscheinlichkeit, dass der Leitzins in diesem Jahr angehoben wird, sei höher als die Wahrscheinlichkeit, dass er weiter gesenkt wird.

Die Inflationsrate wird im Jahresdurchschnitt 2023 laut der Prognose auf 4,0 bis 5,3 Prozent sinken. Am Jahresende, im Dezember 2023, rechnet die Zentralbank mit einer jährlichen Inflationsrate von 5,0 bis 7,0 Prozent.  Damit wäre sie nur noch rund halb so hoch wie ein Jahr zuvor im Dezember 2022 (+11,9 Prozent).

Mittelfristige Prognosen der russischen Zentralbank bis 2025

Bank of Russia: Mid-term forecast; 10.02.2023

Der Rückgang des privaten Verbrauchs könnte aufgeholt werden

Die Zentralbank schätzt, dass der reale Verbrauch der privaten Haushalte („Consumption expenditures households“) 2022 um 1,8 Prozent gesunken ist. Insgesamt sei der Endverbrauch („Final consumption expenditure“) im letzten Jahr um 1,3 Prozent niedriger gewesen.

Aktuell, so Präsidentin Nabiullina in ihrem Statement, sei die Verbrauchernachfrage gedrückt. Angesichts der Veränderungen auf der Angebotsseite und der zurzeit hohen Unsicherheit sei die Neigung der privaten Haushalte zu größeren Ausgaben, wie zum Beispiel für Immobilien, Autos, Reparaturen und Auslandsreisen gesunken. Die Sparneigung sei hoch, auch wenn es kürzlich Zeichen für eine Verbesserung der Stimmung der Verbraucher gegeben habe. Die weiterhin hohen Inflationserwartungen könnten die Kaufneigung beleben.

Die Zentralbank erwartet in ihrer Prognose, dass der reale Verbrauch der privaten Haushalte im Jahr 2023 stagniert oder um bis zu 2 Prozent wächst. Sie schließt mit dieser Prognose-Spanne also nicht aus, dass der Rückgang des privaten Verbrauchs noch in diesem Jahr aufgeholt wird.

Untypisch: Die Bruttoanlageinvestitionen sind 2022 um 5,5 Prozent gestiegen

Stutzig macht, dass die obige Tabelle mit den Schätzungen der Zentralbank für das Rezessionsjahr 2022 einen Anstieg der Bruttoanlageinvestitionen („gross fixed capital formation“) um 5,5 Prozent ausweist. Eine Erklärung dafür bietet „Bloomberg Economics“. In einem Artikel von Cash.ch zu einem Bloomberg-Bericht heißt es zum Anstieg der Anlageinvestitionen:

„Die boomenden Rohstoffexporte haben Geld in die Kassen der Regierung und der Unternehmen gespült und für einen beispiellosen Aufschwung der Unternehmensinvestitionen gegenüber früheren Konjunkturabschwüngen gesorgt. … Grosse und kleine Unternehmen gaben Geld aus, um ausländische Ausrüstung und Software zu ersetzen, oder investierten in den Aufbau neuer Lieferketten, um alternative Märkte zu erreichen. Nach anfänglichen Prognosen, die von einem Rückgang der Investitionsausgaben um bis zu 20% ausgingen, verzeichnete Russland laut Bloomberg Economics im Jahr 2022 stattdessen einen Anstieg um 6 Prozent.“

Mit den Investitionen wurde versucht, die durch die Sanktionen verursachten Engpässe zu bewältigen. Es entstanden neue Privatunternehmen, von denen viele mit staatlichen Krediten oder Subventionen gefördert wurden.

Bloomberg Ökonom Alexander Isakow erklärte zum ungewöhnlichen Anstieg der privaten Investitionen im Rezessionsjahr 2022:

“Russlands Rezession ist anders als alle anderen zuvor. Bei einem typischen Abschwung werden die privaten Investitionen am stärksten getroffen, während der Konsum der Haushalte weniger stark zurückgeht. Diesmal nicht. Wir schätzen, dass diese Anomalie im Jahr 2023 verschwinden wird, da die hohe Unsicherheit und die Risiken der Geschäftstätigkeit in Russland die Investitionen dämpfen”.

Die Anlageinvestitionen werden 2023 sinken

Auch nach Einschätzung der Zentralbank werden die Bruttoanlageinvestitionen 2023 sinken (-4,5 bis -1,5 Prozent). Bloomberg Economics prognostiziert einen Investitionsrückgang um 5 Prozent (bei einer weiteren Abnahme des Bruttoinlandsprodukts um 1,5 Prozent).

Olga Belenkaja, Chefvolkswirtin des Finanzportals Finam.ru, meint auch, dass ein Rückgang der Unternehmensgewinne und der Druck durch die Sanktionen die Anlageinvestitionen im Jahr 2023 wahrscheinlich sinken lassen. Es habe zwar den Anschein, dass die von der Regierung und den staatlichen Unternehmen getragenen Investitionen weiter erhöht würden. Die Investitionen des privaten Sektors werden nach ihrer Einschätzung aber zurückgehen.

Bruttoanlageinvestitionen und Bruttoinvestitionen entwickeln sich gegensätzlich

Nach Einschätzung der Zentralbank sind aber laut der Tabelle die Bruttoinvestitionen („Gross capital formation“) in Russland 2022 nicht wie die Bruttoanlageinvestitionen („Gross fixed capital formation“) gestiegen, sondern um 5,2 Prozent gesunken. Zu erklären ist dies vermutlich hauptsächlich mit der Verringerung der Lagervorräte von importierten Waren.

Die Bruttoinvestitionen umfassen neben den Anlageinvestitionen auch die Vorratsinvestitionen. Die Sanktionen verhinderten 2022 wohl vielfach weitere Wareneinfuhren zur Aufrechterhaltung der Lagervorräte.

2023 rechnet die Zentralbank jedoch damit, dass die Bruttoinvestitionen steigen (+0,5 Prozent bis +3,5 Prozent) während die Bruttoanlageinvestitionen sinken (-4,5 Prozent bis -1,5 Prozent). Vermutlich geht sie davon aus, dass es den Unternehmen im laufenden Jahr gelingt, ihre Warenbeschaffung an die Sanktionen anzupassen und ausreichend Waren zur Auffüllung der Vorräte zu beschaffen.

Wie sich die realen Ein- und Ausfuhren voraussichtlich entwickeln

Den realen Rückgang der Einfuhren veranschlagt die Zentralbank für das letzte Jahr auf 17,7 Prozent. Der reale Rückgang der Ausfuhren sei aber kaum schwächer gewesen (-15,1 Prozent).

Im laufenden Jahr erwartet die Zentralbank eine kräftige Erholung der realen Einfuhren (+12,5 Prozent bis +15,5 Prozent). Bei den realen Ausfuhren rechnet sie hingegen allenfalls mit einer sehr schwachen Erholung. Die Prognosespanne reicht von –2,5 Prozent bis +0,5 Prozent.

Der Leistungsbilanzüberschuss sinkt 2023 voraussichtlich um 71 Prozent

In US-Dollar wird der Wert der russischen Einfuhren von Waren und Dienstleistungen nach Einschätzung der Zentralbank 2023 um rund 11 Prozent auf 384 Milliarden US-Dollar steigen (s. folgende Tabelle). Die Ausfuhren dürften gleichzeitig um rund 19 Prozent auf 507 Milliarden US-Dollar sinken. Damit wird Russlands Überschuss im Handel mit Waren und Dienstleistungen voraussichtlich um rund 56 Prozent sinken und nur noch 123 Milliarden US-Dollar erreichen.

In der Leistungsbilanz („Current account“) dürfte 2023 lediglich ein Überschuss von 66 Milliarden US-Dollar verbleiben (rund 29 Prozent des 2022 verzeichneten Leistungsbilanzüberschusses).

Indikatoren der russischen Leistunsgsbilanz
Milliarden US-Dollar

Bank of Russia: Mid-term forecast; 10.02.2023

Höhere Staatsausgaben stützen die Stabilisierung der Produktion

Die Zentralbankpräsidentin begründet die kräftige Anhebung der BIP-Prognose der Zentralbank für das Jahr 2023 auf -1 bis +1 Prozent auch damit, dass die Staatsausgaben stärker erhöht werden als im Oktober angenommen wurde. In einigen Bereichen des verarbeitenden Gewerbes und in der Bauwirtschaft wachse die Produktion. Die Verkehrsinfrastruktur werde bei zunehmenden staatlichen Investitionen rasch ausgebaut. Im Kontrast dazu würden 2023 Investitionen im privaten Sektor aufgeschoben oder verringert, weil die Unternehmen erforderliche Ausrüstungen nicht beschaffen könnten oder hinsichtlich der künftigen Nachfrage unsicher seien. Insgesamt wachse der Beitrag der staatlichen Ausgaben zur Gesamtnachfrage.

Rosstat-Daten zum Einbruch im Einzelhandel bei niedrigeren Einkommen

Neue Daten zur Entwicklung des privaten Verbrauchs, der Reallöhne, der privat verfügbaren Realeinkommen und des Arbeitsmarktes im Jahr 2022 veröffentlichte am 08. Februar das russische Statistikamt Rosstat.

Der von der Zentralbank geschätzte Rückgang des realen Verbrauchs der privaten Haushalte zeigte sich 2022 vor allem in der Entwicklung des Einzelhandels. Die realen Einzelhandelsumsätze brachen gegenüber dem Vorjahr um 6,7 Prozent ein. Das war das schlechteste Ergebnis seit 2015.

Das Moskauer „Zentrum für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognosen (CMASF)“ veröffentlichte dazu folgende Abbildung:

Index des realer Einzelhandelsumsatzes
durchschnittlicher Monatswert 2018=100
unbereinigte Daten: helle Linie; saisonbereinigte Daten: dunkele Linie

CMASF: Trends in the Russian Economy, 10.02.2023

Im Dezember 2022 waren die realen Einzelhandelsumsätze im Jahresvergleich sogar um 10,5 Prozent rückläufig. Seit Mai 2020, dem Höhepunkt der Corona-Krise, sind sie nicht mehr so stark gesunken.

Zum Rückgang des privaten Verbrauchs beigetragen hat die Abnahme der real verfügbaren Einkommen. Sie waren im vierten Quartal 2022 zwar 0,9 Prozent höher als vor einem Jahr, gingen im Jahresvergleich 2022 gegenüber 2021 aber um 1 Prozent zurück.

Produktionsergebnisse wichtiger Branchen im Jahr 2022 im Überblick

Olga Belenkaja stellte die Ergebnisse der Produktion wichtiger Wirtschaftsbereiche, die Entwicklung der Reallöhne und der real verfügbaren Einkommen sowie die Entwicklung der Arbeitslosenquote in einem ausführlichen Bericht in einer Tabelle zusammen.

Während die Industrieproduktion 2022 gegenüber 2021 insgesamt um 0,6 Prozent sank und die Produktion im Bereich des Warentransports um 2,6 Prozent abnahm, stieg die Produktion der Landwirtschaft (+10,2 Prozent) und des Baugewerbes (+5,2 Prozent). Dem Rückgang des realen Umsatzes im Einzelhandel (-6,7 Prozent) standen Zuwächse im Bereich des Gastgewerbes/Catering (+4,7 Prozent) und bei den Dienstleistungen für die Bevölkerung (+3,2 Prozent) gegenüber.

Entwicklung wichtiger Wirtschaftsindikatoren

Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

Olga Belenkaya: Results of 2022. The first year of structural transformation, 09.02.23

Weiterhin angespannter Arbeitsmarkt, Reallöhne im November gestiegen

Die Lage auf Russlands Arbeitsmarkt blieb im Dezember angespannt. Die Arbeitslosenquote verharrte auf einem Rekordtief von 3,7 Prozent.

Eine Ursache für den Mangel an Arbeitskräften ist die von Präsident Wladimir Putin Ende September angeordnete „teilweise Mobilisierung“. Laut Reuters wurden rund 300.000 Männer zur Armee eingezogen. Hunderttausende Russen seien ins Ausland geflohen.

Die Reallöhne stiegen im November im Jahresvergleich um 0,3 Prozent. Das war der zweite Anstieg seit März. In den ersten 11 Monaten waren die Reallöhne 1,1 Prozent niedriger als im Vorjahr.

Auswirkungen der Sanktionierung russischer Energieexporte

Wie sich die gegen Russlands Ausfuhren von Rohöl und Mineralölprodukten gerichteten Sanktionen auf die russischen Staatseinnahmen und die Handelsbilanz auswirken dürften, hat die Frankfurter DekaBank in den am Freitag erschienenen „Emerging Markets Trends“ analysiert:

„Das Rohölembargo der EU in Kombination mit der G7-Preisobergrenze, die im Dezember in Kraft getreten waren, haben sich im Januar in erster Linie über den Preis der russischen Ölsorten ausgewirkt, während sich die Exportmengen im Vergleich zu Dezember erholt haben. Die Hauptabnehmer für das russische Öl scheinen die asiatischen Schwellenländer zu sein, allen voran China und Indien.

Nach den Angaben der russischen Regierung lag der durchschnittliche Urals-Preis bei knapp 50 USD/Fass, somit war die G7-Preisobergrenze nicht bindend.

In Verbindung mit den stark gesunkenen Erdgasexporten hat das Embargo im Januar 2023 zu einem Einbruch der Staatseinnahmen auf dem Öl- und Gassektor um etwa 45% im Vorjahresvergleich geführt.

Seit Februar ist nun auch das EU-Embargo für verarbeitete Erdölprodukte in Kraft, ebenfalls in Verbindung mit einer Preisobergrenzen-Regelung. Auf diesem Teilmarkt dürfte sich Russland bei der Suche nach Alternativmärkten schwertun, weil sowohl China als auch Indien selbst hohe Raffineriekapazitäten haben.

Die komfortable Lage des Jahres 2022 mit rekordhohen Staatseinnahmen aus dem Rohstoffsektor und dem hohen Handelsbilanzüberschuss dürfte sich somit nicht noch einmal wiederholen. Das Budgetdefizit wird aktuell u.a. aus den Mitteln des Staatsfonds über den Verkauf der Renminbi gedeckt. Auch eine Art (quasi freiwillige) „windfall“ Abgabe im Unternehmenssektor wird in Erwägung gezogen.“

Die DekaBank erwartet, dass die Rezession in Russland 2023 anhält. Nach einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 2,7 Prozent im Jahr 2022 rechnet sie jetzt aber mit einer Abschwächung der Rezession auf 1,6 Prozent im Jahr 2023.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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