Wie wirken die Sanktionen? Neue Russland-Prognosen der Vereinten Nationen

Er erscheint selten, aber ist sehr ausführlich: Der neue Weltwirtschaftsbericht der Vereinten Nationen nimmt Stellung zu der Entwicklung der Russischen Wirtschaft. Die aktuellen Prognosen im Überblick.

Bekannt für ihre Prognosen zur Entwicklung der Weltwirtschaft sind vor allem der Internationale Währungsfonds und die Weltbank. Aber auch die Abteilung für Wirtschaft und Soziales der Vereinten Nationen veröffentlicht jedes Jahr, meistens im Januar und Mai, Berichte zur weltwirtschaftlichen Entwicklung. In der neuen Ausgabe ihres Berichts „World Economic Situation and Prospects“ nimmt sie im Vergleich mit dem IWF und der Weltbank zur Entwicklung in Russland sogar ziemlich ausführlich Stellung. Die Prognosen von UN, IWF und Weltbank zum Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts in den Jahren 2022 und 2023 unterscheiden sich aber kaum. Wir haben außerdem Stimmen internationaler Analysten zu den Wirkungen der Sanktionen auf die russische Wirtschaft ausgewertet.

UN bestätigt: Russlands Rezession war 2022 viel schwächer als erwartet

In einer besonderen Pressemitteilung zur Entwicklung der Volkswirtschaften in der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ stellt die UN-Abteilung fest, dass sich die russische Wirtschaft 2022 viel besser entwickelt hat als erwartet wurde.

So hat auch die UN-Abteilung im Mai 2022 noch prognostiziert, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt 2022 um 10,6 Prozent schrumpfen werde. Jetzt heißt es in der UN-Pressemitteilung, dass der BIP-Rückgang im letzten Jahr nur „bei etwa 3 Prozent“ gelegen habe. Im UN-Bericht selbst wird der voraussichtliche Rückgang für das Jahr 2022 mit 3,5 Prozent angegeben (S. 7).

Für das Jahr 2023 erwartet die UN-Abteilung jetzt eine weitere Abnahme der Produktion der russischen Wirtschaft um 2,9 Prozent. Im Mai hatte sie damit gerechnet, dass die Rezession auf rund ein Jahr beschränkt bleibt und die russische Wirtschaft im Jahresvergleich 2023/2022 stagnieren werde. Jetzt erwartet die UN-Abteilung den Beginn einer Erholung erst 2024 (+ 1,5 Prozent).

Weitreichende Sanktionen beeinträchtigen Russlands Wirtschaft

Die UN-Abteilung skizziert in ihrem Bericht die Auswirkungen der „strengen“ Wirtschaftssanktionen, die praktisch alle OECD-Länder gegen Russland verhängt hätten, wie folgt.

Sanktionen, die die Lieferung von Materialien und Technologien an russische Unternehmen betrafen, haben die Produktion wichtiger russischer Industriebereiche beeinträchtigt (Beispiele für sanktionierte Bereiche: Lieferung von „Dual-Use“-Technologien, Lieferung von Flugzeugen und Flugzeugkomponenten, Lieferungen von Materialien für die Mineralölverarbeitung).

Im Finanzbereich wurde die Verbindung einer Reihe großer russischer Banken zum internationalen Zahlungsverkehr durch ihren Ausschluss vom „SWIFT-Messaging-System“ gelöst. Sanktionen richteten sich auch gegen die russische Zentralbank. Sie kann nicht mehr über ihre ausländischen Devisenreserven verfügen.

Eine Reihe von Staaten hat ein teilweises Verbot für die Lieferung von russischen Kohlenwasserstoffen eingeführt. Die EU verhängte ein Embargo für russische Rohöllieferungen auf dem Seeweg. Im Februar 2023 wird dies auf Ölprodukte ausgeweitet. Die EU verringert außerdem weiter ihre Einfuhren von russischem Erdgas.

Die russische Wirtschaft ist zudem durch die Aufgabe der Geschäftstätigkeit vieler ausländischer Unternehmen in Russland betroffen (Wie viele Unternehmen sich tatsächlich aus Russland zurückgezogen haben, ist allerdings sehr umstritten, siehe Tagesschau-Bericht).

Was den Einbruch der russischen Wirtschaft 2022 dämpfte

Warum die Rezession der russischen Wirtschaft 2022 viel schwächer ausfiel als erwartet, erklärt die UN-Abteilung so:

Während der „Corona-Krise“ hatten viele russische Unternehmen wegen Unterbrechungen von Lieferketten und zunehmender Unsicherheit hohe Lagervorräte gebildet. Sie machten es möglich, die Produktion im zweiten und dritten Quartal 2022 in vielen Branchen trotz der verhängten Sanktionen aufrechtzuerhalten. In einigen Industriezweigen sank die Produktion jedoch deutlich, z.B. in der Automobilindustrie (2022: rund – 80 Prozent).

Die Steigerung der Militärausgaben trug zum Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion bei.

Die russische Zentralbank ergriff Maßnahmen, um die Finanz- und Währungsstabilität zu wahren. Dazu gehörten eine starke Erhöhung des Leitzinses und die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen. Das Bankensystem blieb widerstandsfähig.

Hohe Energiepreise und durch Sanktionen gedrückte Importe führten zu einem massiv steigenden Leistungsbilanzüberschuss (siehe Ostexperte.de-Bericht). Der Rubel wertete im zweiten Quartal stark auf, auch weil die russischen Exporteure verpflichtet wurden, eingenommene Devisen in Rubel zu tauschen.

Die Aufwertung des Rubel trug zu einer Dämpfung des Preisanstiegs bei. So wurde ein starker Rückgang der verfügbaren Einkommen verhindert und die Nachfrage der Verbraucher gestützt.

Die anfängliche Straffung der Geldpolitik der Zentralbank konnte im Jahresverlauf von einer Senkung der Leitzinsen abgelöst werden. Die Aufnahme von Krediten durch Unternehmen und Privatkunden wuchs 2022.

Analyse in „RBC Trends“: Warum die russische Wirtschaft nicht kollabierte

Warum fast alle Prognosen für 2022 falsch lagen, hat auch Anton Pogorelsky in einem Artikel in „RBC Trends“ analysiert. Er befragte Analysten und Wissenschaftler.

Laut Natalia Akindinowa, Direktorin des Konjunkturforschungsinstituts der Moskauer „Higher School of Economics“, ist der wichtigste Grund für die falschen Prognosen die Unterschätzung der Anpassungsfähigkeit der russischen Wirtschaft. Sie verweist außerdem auf die vielfältigen Maßnahmen der Regierung zur Vermeidung eines tiefen Einbruchs der russischen Wirtschaft.

Akindinowa meint, angesichts der Flexibilität der Preise und der zuvor gebildeten Vorräte importierter Produkte seien die russischen Unternehmen in der Lage gewesen, ziemlich schnell neue Lieferbeziehungen innerhalb Russlands aufzubauen. Die Unternehmen hätten sanktionsbedingte Beeinträchtigungen der Einfuhren und der finanziellen Transaktionen mit dem Ausland ziemlich schnell ausgleichen können. Von Seiten der russischen Regierung sei eine Lockerung von Regulierungen hinzugekommen, vor allem bei der Zulassung von „Parallel-Einfuhren“.

Umfangreiche staatliche Hilfsprogramme für Unternehmen

Die Hilfen der Regierung für die russischen Unternehmen beschränkten sich, so der RBC-Bericht, nicht wie zunächst geplant auf rund 1 Billion Rubel. Nach Angaben von Akindinowa erreichten die Ausgaben im föderalen Haushalt 2022 nicht wie geplant 23,7 Billionen Rubel, sondern 31,1 Billionen Rubel. Der Wirtschaft seien damit gut 7 Billionen Rubel mehr aus dem Budget zugeflossen. Das entspreche 5,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Das Defizit im föderalen Haushalt stieg 2022 nach ersten Angaben des Finanzministeriums auf 2,3 Prozent des BIP. Das berichtet die Moscow Times.

Kleine und mittlere Unternehmen unterstützte die Regierung mit speziellen Programmen (Kredithilfen, zeitweiliger Verzicht auf Steuerprüfungen, Verlängerung von Fristen für die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen, Zuschüsse für Gründer von Unternehmen).

2022 stiegen die staatlichen Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich

Stanislaw Muraschow, Chef-Volkswirt Russland der Raiffeisenbank, meint, niemand habe erwartet, dass Russland so schnell andere Abnehmer für seine Öl- und Gasausfuhren finden werde. Außerdem seien die Lieferungen von russischem Öl nach Europa nur langsam gesunken, von Februar bis August um rund 30 Prozent.

Natalia Akindinowa weist darauf hin, dass die Weltmarktpreise für Öl 2022 gestiegen sind. Auch wenn man den Preisabschlag für russisches Öl berücksichtige, sei es im letzten Jahr möglich gewesen, die nominalen Einnahmen des föderalen Haushalts aus dem Öl- und Gasbereich zu steigern.

Der für Energie zuständige Vize-Ministerpräsident Alexander Nowak teilte laut Interfax vom 16. Januar mit, dass Russlands Haushaltseinnahmen aus dem Öl- und Gasbereich 2022 um 28 Prozent gestiegen sind. Die Ausfuhr von Erdöl habe der Menge nach um sieben Prozent zugenommen. Die exportierte Menge von Pipeline-Erdgas sei zwar gesunken. Der Export von verflüssigtem Erdgas sei aber um acht Prozent gestiegen.

2023 wird die Wirksamkeit der Öl-Sanktionen die Entwicklung bestimmen

Sergej Khestanow ist Professor an der Fakultät für Finanzwesen und Banken der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation (RANEPA). Er erwartet, dass die Entwicklung der russischen Wirtschaft im Jahr 2023 hauptsächlich von den Auswirkungen der Sanktionen im Ölbereich bestimmt werden wird. Er weist darauf hin, dass die Sanktionen Anfang Februar auch den Bereich der Ölprodukte erfassen. Die Folgen dieser Sanktionen könnten nicht vor Juni/Juli 2023 beurteilt werden. Dann seien verlässliche Daten verfügbar.

Dr. Janis Kluge, Russland-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, unterstrich am Jahreswechsel in einem Interview mit der Moscow Times, dass Russland in das neue Jahr 2023 ohne ein „dickes Polster“ gehe, nämlich ohne die Einnahmen aus den Gasexporten nach Europa, aber mit viel niedrigeren Ölpreisen und geringeren Ölexportmengen.

Im AHK Podcast “Zaren, Daten, Fakten” schätzte Kluge Mitte Januar, dass nach einem Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um 2,5 bis 3 Prozent im Jahr 2022 auch im Jahr 2023 mit einem BIP-Rückgang in dieser Größenordnung zu rechnen sei (ab Min. 9 in: Ist die russische Wirtschaft robuster als erwartet?)

Aktuell stimmen die Prognosen von UN, Weltbank und IWF weitgehend überein

Die neuen Prognosen der Vereinten Nationen zum Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts (2022: – 3,5%, 2023: – 2,9%) decken sich weitgehend mit den von der Weltbank Anfang Januar veröffentlichten Einschätzungen (2022: – 3,5%, 2023: – 3,3%). Auch die Ergebnisse der jüngsten Umfrage des Research-Unternehmens „FocusEconomics“ bei fast ausschließlich westlichen Instituten und Banken (2022: – 3,6%, 2023: – 3,0%) weichen im Durchschnitt von den UN-Prognosen kaum ab .

Der Internationale Währungsfonds hat bereits Mitte Oktober seine Prognosen für die Rezession in Russland deutlich abgeschwächt (2022: – 3,4%, 2023: – 2,3%). Der IWF näherte sich mit der Senkung seiner Rezessionsprognose für 2022 auf 3,4 Prozent weitgehend der Mitte September veröffentlichten Prognose des russischen Wirtschaftsministeriums  (- 2,9 Prozent). Am 31. Januar wird der IWF seinen „World Economic Outlook“ aktualisieren.

BIP-Prognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Das russische Statistikamt Rosstat wird am 17. Februar eine erste Schätzung für den Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 veröffentlichen. Wirtschaftsminister Reschetnikow hat angekündigt, dass die Regierung dann im März/April neue Prognosen veröffentlichen will.

Wie hätte sich die russische Wirtschaft ohne Krieg und Sanktionen entwickelt?

Die Research-Abteilung des US-Kongresses veröffentlichte Mitte Dezember ein Informationsblatt zu den Wirkungen der Sanktionen auf die Entwicklung der russischen Wirtschaft. Zur Abschätzung der Veränderungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung  durch den Ukraine-Krieg und die Sanktionen verglich Analystin Rebecca Nelson in der folgenden Abbildung die Prognosen des Internationalen Währungsfonds vom Oktober 2022 (gestrichelte braune Linien) mit den Prognosen, die der IWF vor dem Ukraine-Krieg im Oktober 2021 veröffentlicht hat (gestrichelte blaue Linien).

Während der IWF im „World Economic Outlook“ vom Oktober 2021 noch ein Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 von 2,9 Prozent erwartete, rechnet er in seiner jüngsten Prognose vom Oktober 2022 angesichts des Krieges in der Ukraine und der Sanktionen damit, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion 2022 um 3,4 Prozent gesunken ist. Ohne Krieg und Sanktionen wäre das russische Bruttoinlandsprodukt nach Einschätzung des IWF 2022 also gut 6 Prozent höher gewesen.

IWF-Prognosen vom Oktober 2021 und Oktober 2022 im Vergleich

In Prozent: Reales BIP, Veränderung gegenüber Vorjahr; Verbraucherpreise, Anstieg am Jahresende gegenüber Vorjahr; Arbeitslosenquote; Einfuhren, reale Veränderung gegenüber Vorjahr

US Congressional Research Service: The Economic Impact of Russia Sanctions, 13.12.2022

Laut der „Vorkriegs-Prognose“ des IWF vom Oktober 2021 wäre außerdem die Inflationsrate am Jahresende 2022 mit knapp 5 Prozent nicht einmal halb so hoch gewesen, wie der IWF im Oktober 2022 für das Jahresende 2022 erwartete.

Die Einfuhren wären im Jahr 2022 ohne Krieg und Sanktionen preisbereinigt weiter gestiegen, wenn auch schwächer als 2021. In seiner Prognose vom Oktober 2022 erwartet der IWF für 2022 hingegen jetzt einen Rückgang der Einfuhren um rund 15 Prozent.

Mit einem weiteren leichten Rückgang der russischen Arbeitslosenquote rechnete die IWF-Prognose vom Oktober 2021 für das Jahr 2022 allerdings nicht. Der IWF erwartete damals für 2022 eine Stagnation der Arbeitslosenquote. Einen leichten Rückgang der Arbeitslosenquote im Jahr 2022 prognostizierte der IWF erst im Oktober 2022.

Die Rezession 2009 war noch schärfer als die Rezession 2022

Der US-Amerikanische „Congressional Research Service“ macht mit der folgenden Abbildung darauf aufmerksam, dass der vom IWF für 2022 erwartete Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts in Russland mit 3,4 Prozent nur knapp halb so stark sein dürfte wie der Einbruch des BIP in der weltweiten Finanzkrise im Jahr 2009 um 7,8 Prozent.

Reales Bruttoinlandsprodukt
Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

US Congressional Research Service: The Economic Impact of Russia Sanctions, 13.12.2022

Die aktuelle Rezession hält aber voraussichtlich 2 Jahre an

Allerdings erholte sich das russische Bruttoinlandsprodukt von dem Einbruch im Jahr 2009 schon im folgenden Jahr 2010 mit einem Wachstum um rund 5 Prozent weitgehend.

Jetzt wird von fast allen Beobachtern mit einem weiteren deutlichen Rückgang des BIP im Jahr 2023 gerechnet. Der IWF erwartet in seiner Prognose vom Oktober 2022 für 2023 einen Rückgang um 2,3 Prozent, die Weltbank prognostiziert einen Rückgang um 3,3 Prozent.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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