Russische Wirtschaft: Auch die EU-Kommission bleibt für 2020 skeptisch

EU-Kommission erwartet mäßiges Wachstum in Russland

Am 7. Mai veröffentlichte die EU-Kommission ihre „Frühjahrsprognose“ zur Konjunkturentwicklung in der EU und wichtigen Handelspartnern. 2019 erwartet die Kommission in Russland mit 1,5 Prozent weiterhin ein etwas stärkeres Wirtschaftswachstum als die russische Regierung (1,3 Prozent). Andererseits geht die Kommission für 2020 unverändert davon aus, dass das Wachstum der russischen Wirtschaft nur auf 1,8 Prozent anzieht. Die Regierung erwartet hingegen im nächsten Jahr eine stärkere Belebung auf 2 Prozent.

Die russische Regierung hatte bereits in ihrer Haushaltsplanung im Herbst 2018 angenommen, dass sich das Wirtschaftswachstum 2019 insbesondere wegen der Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 1,3 Prozent abschwächt.

Zuletzt bestätigte das Wirtschaftsministerium diese Erwartung in einer Aktualisierung seiner mittelfristigen Prognosen bis zum Jahr 2024 am 22. April. Es geht dabei jetzt von einem Urals-Ölpreis von 63,4 Dollar/Barrel im Jahr 2019 und 59,7 Dollar/Barrel im Jahr 2020 aus. Der russische Wirtschaftsminister Oreschkin sagte am Rande des „Arctic Forum“ in St. Petersburg Anfang April zwar, es sehe so aus, als sei in diesem Jahr ein höheres Wachstum als 1,3 Prozent möglich. Im Hinblick auf das Wachstum der Weltwirtschaft, die Ölmarktentwicklung und drohende Sanktionen gebe es aber eine Menge Risiken. Er werde die Prognose von 1,3 Prozent bis Mitte 2019 nicht ändern. Vielleicht wird er vor dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg (6.-8. Juni) eine neue Prognose vorlegen.

2019 rechnen alle Experten mit deutlich weniger Wachstum

Analysten in Banken und Forschungsinstituten rechnen inzwischen meist mit einer fast ebenso starken Abschwächung des Wachstums wie die Regierung. Die Anfang Mai veröffentlichte Umfrage des Research Unternehmen FocusEconomics lässt im Durchschnitt 1,4 Prozent Wachstum erwarten, eine Reuters-Umfrage 1,5 Prozent.

Ähnlich niedrig sind die Prognosen der internationalen Wirtschaftsorganisationen. Der IWF bestätigte im April im „World Economic Outlook“ seine Erwartung, dass in Russland 2019 mit einem Rückgang des Wachstums auf 1,6 Prozent zu rechnen ist.

Die Weltbank senkte in einem Anfang April veröffentlichten Bericht zur Entwicklung der Volkswirtschaften in Europa und Zentralasien („Financial Inclusion“) ihre Prognose für das Wachstum in diesem Jahr geringfügig auf 1,4 Prozent.

Die Frühjahrsprognose der EU-Kommission fiel jetzt mit 1,5 Prozent fast ebenso niedrig aus.

Wachstumsprognosen 2019 bis 2021
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

  Bruttoinlandsprodukt, real ggü. Vj. %  
201920202021
Commerzbank, Frankfurt10.05.191,51,2
Helaba, Frankfurt10.05.191,71,7
EU-Kommission, Brüssel07.05.191,51,8
FocusEconomics
Consensus Forecast
07.05.191,41,71,7
Berenberg Bank, Hamburg06.05.191,31,7
Reuters Umfrage30.04.191,5
RIA Rating24.04.191,3
BNP Paribas, Paris19.04.191,51,7
Eurasian Development Bank17.04.191,52,0
Economist Intelligence Unit17.04.191,51,61,7
DekaBank, Frankfurt10.04.191,41,6
OPEC10.04.191,6
Russisches Wirtschaftsministerium09.04.191,3
Urals 63,4 $/b
2,0
Urals 59,7 $/b
3,1
Urals 57,9 $/b
Internationaler Währungsfonds09.04.191,61,7
Weltbank; Financial Inclusion05.04.191,41,81,8
Gemeinschaftsdiagnose04.04.191,51,7
Danske Bank, Kopenhagen01.04.191,31,8
WIIW, Wien27.03.191,81,71,9
Russische Zentralbank,
Basisszenario
22.03.191,2 bis 1,7
Urals 60 $/b
1,8 bis 2,3
Urals 55 $/b
2,0 bis 3,0
Urals 55 $/b
Sachverständigenrat19.03.192,11,6
BOFIT, Bank of Finland15.03.191,41,71,6

2019 wird nach Einschätzung der EU-Kommission die Nachfrage von Verbrauchern und Unternehmen in Russland durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer gedämpft. Sie beschleunigt den Preisanstieg und mindert die Kaufkraft. Die EU erwartet, dass der reale private Verbrauch mit einem Plus von 1,2 Prozent rund einen Prozentpunkt schwächer wächst als 2018.

Die Investitionsaktivitäten der Unternehmen werden zudem wahrscheinlich, so die EU, durch höhere Finanzierungskosten belastet. Geopolitische Risiken verunsicherten die Unternehmen. Das reale Wachstum der Bruttoanlageinvestitionen dürfte sich etwa halbieren und nur noch 1,6 Prozent erreichen.

EU-Kommission: 2019 wird das Wachstum von innen und außen gebremst

Das zur Modernisierung und Erweiterung der Infrastruktur geplante staatliche Ausgabenprogramm wird nach Einschätzung der Kommission erst ab der zweiten Jahreshälfte 2019 wirksam. Sie erwartet, dass sich das Wachstum des realen Staatsverbrauchs 2019 lediglich auf 0,6 Prozent erhöht. Der Überschuss im staatlichen Gesamthaushalt werde in diesem Jahr mit 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fast ebenso hoch sein wie 2018. Einschließlich der Ausgaben für soziale Zwecke, Bildung und Erziehung sollen die russischen Staatsausgaben in den nächsten 6 Jahren nach Angaben der Kommission um rund 1 Prozent des BIP jährlich steigen. Durch die allmähliche Anhebung des Renteneintrittsalters sei aber nur eine „marginale Erhöhung“ des Wachstumspotenzials zu erwarten.

Auf der außenwirtschaftlichen Seite erwartet die EU, dass der Export durch eine schwächere Nachfrage aus dem Ausland beeinträchtigt wird. Außerdem dürfte das Wachstum der Ausfuhr gedämpft werden, weil Russland im Rahmen der OPEC+ eine Einschränkung seiner Ölproduktion vereinbart hat. Wegen der schlechten Ernte im letzten Jahr könne zudem die Ausfuhr von Agrarerzeugnissen sinken. Der reale Anstieg der Exporte von Waren und Dienstleistungen werde 2019 voraussichtlich mit 2,7 Prozent nur noch knapp halb so hoch sein wie 2018. Er werde aber weiterhin stärker sein als der Anstieg der Importe (+ 1,9 Prozent). Der „Nettoexport“ bleibe positiv und werde 2019 mit 0,5 Prozentpunkten ein Drittel zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 1,5 Prozent beitragen.

Die folgende Abbildung zeigt die Wachstumsprognose der EU für 2019 und 2020 und wie sie die Entwicklung der Wachstumsbeiträge der volkswirtschaftlichen Verwendungsbereiche einschätzt.

Reales Wirtschaftswachstum gegenüber dem Vorjahr in Prozent (rote Linie):
Wachstumsbeiträge der Verwendungsbereiche in Prozentpunkten

Verwendungsbereiche: Privater Verbrauch, Staatsverbrauch, Bruttoanlageinvestitionen, Netto-Exporte, Lagerinvestitionen; Quelle: EU-Kommission: European Economic Forecast Spring 2019; Russian Federation: Output likely to recover from a temporary blip in 2019 as public spending accelerates; 07.05.2019

2020 erwartet EU nur schwache Wachstumsbeschleunigung auf 1,8 Prozent

Die EU-Kommission rechnet damit, dass sich der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion 2020 voraussichtlich auf 1,8 Prozent beschleunigt.

Steigende Investitionen des öffentlichen Sektors und der Energiewirtschaft würden das Wachstum im nächsten Jahr voraussichtlich stützen. Das Wachstum der Bruttoanlageinvestitionen könnte 2,8 Prozent erreichen. Der Anstieg des privaten Verbrauchs werde von 1,2 Prozent im Jahr 2019 auf 2,0 Prozent anziehen.

Das Wachstum der Importe werde sich voraussichtlich nur 2019 wegen der schwächeren inländischen Nachfrage verringern. 2020 erwartet die Kommission bei einem Anspringen der öffentlichen Investitionen ein beschleunigtes Wachstum der Importe.

Das 2019 halbierte Wachstum der Exporte werde sich 2020 voraussichtlich etwas erholen. Dazu beitragen könnten höhere Erdgasausfuhren nach der Fertigstellung von Anlagen zur Erdgas-Verflüssigung.

Alles in allem erwartet die Kommission, dass der Beitrag des Außenhandels zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in den nächsten beiden Jahren knapp positiv bleibt.

An einen Wachstumssprung auf über 3 Prozent ab 2021 glaubt kaum jemand

Vor allem ab 2020 sieht die russische Regierung deutlich bessere Wachstumsperspektiven als die internationalen Wirtschaftsorganisationen. Sie erwartet mit der Realisierung der „nationalen Projekte“ 2020 eine Beschleunigung des Wachstums auf 2,0 Prozent und 2021 dann einen „Wachstumssprung“ auf 3,1 Prozent.

Analysten und internationale Wirtschaftsorganisationen glauben fast alle nicht an diese sprunghafte Erhöhung des Wachstums ab 2021. Die Weltbank rechnet 2020 und 2021 nur mit einem Anziehen des Wachstums auf jeweils 1,8 Prozent. Die vom Research-Unternehmen FocusEconomics befragten Analysten trauen der russischen Wirtschaft 2020 und 2021 im Durchschnitt sogar nur jeweils 1,7 Prozent Wachstum zu.

Sergey Aleksachenko, früherer Erster Stellvertretender Präsident der russischen Zentralbank, der 2013 in die USA emigrierte, meinte in einem Interview mit mk.ru zu den „nationalen Projekten“, es sei naiv zu glauben, dass mit höheren Steuern finanzierte öffentliche Investitionen effektiver als private Investitionen seien. In der Praxis zeige sich: Je mehr der russische Staat investiere, desto mehr Milliardäre tauchen im Land auf. Auch die Politik der Import-Substitution sei eine Sackgasse. Der Schlüssel zu schnellem Wachstum sei die Einbindung in die globale Wirtschaft.

Auch mit dem früheren Rektor der Moskauer „New Economic School“, Sergey Guriev, Chef-Volkswirt der EBRD und Professor der Pariser SciencesPo, sprach mk.ru. Guriev sagte, man sollte kein schnelles Wachstum in Russland erwarten. Die Wirtschaft wachse weiter mit einer Rate von 1,5 bis 2 Prozent jährlich und bleibe zunehmend hinter den USA, den Ländern Zentral- und Osteuropas und sogar Kasachstan zurück. Die wichtigsten Hindernisse für die Entwicklung seien Unzulänglichkeiten der Institutionen, das schlechte Investitionsklima, die weit verbreitete Korruption und die Isolierung von der Weltwirtschaft.

Unter Volkswirten, die die russische Wirtschaft analysierten, habe sich folgender Konsens gebildet: Erstens sei eine Beschleunigung des Wachstums ohne institutionelle Reformen unmöglich. Zweitens erwarte aber niemand diese äußerst wichtigen Reformen.

Titelbild
[toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”]Titelbild: Sergey Fedoskin / Shutterstock.com
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Quellen und Lesetipps:

Konjunkturberichte internationaler Wirtschaftsorganisationen (EU, Weltbank, IWF…):

Konjunkturberichte von Ministerien, Zentralbank, Rosstat (mit Medienberichten):

Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften:

Sonstige meist monatliche Konjunkturberichte:

Kalender für Veröffentlichung neuer russischer Konjunkturdaten:

Sonstige Berichte und Analysen zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann: