Russland: Hoffnungen trotz Beinahe-Rezession

Wirtschaftsexperten machen trotz Risiken Hoffnung

Im ersten Halbjahr hat es wohl fast eine „technische Rezession“ gegeben. Renommierte Experten sehen aber trotzdem Fortschritte in der russischen Wirtschaftspolitik. Wir geben vor dem Hintergrund der aktuellen Konjunkturlage insbesondere Hinweise zu Kommentaren von Chris Weafer (Unternehmensberatung „Macro Advisory“) und Yaroslav Lisovolik (Senior Managing Director im Research der Sberbank).

Weafer sieht die russische Wirtschaft aktuell in einer sehr wichtigen Phase, in der sich sogar eine „neue Wirtschaftsordnung“ herausbilden könne. Lisovolik geht nicht so weit. Aber er meint, in Russlands Wirtschaftspolitik sei eine „Wende“ geplant, insbesondere die bisher „ziemlich konservative“ Fiskalpolitik solle gelockert werden.

Während die beiden Experten Hoffnung auf mehr Wachstum machen, sieht die russische Rating-Agentur ACRA in ihrem „Risiko-Szenario“ bei einem weltweit zunehmenden Protektionismus in Russland die Gefahr einer deutlichen Rezession.

VEB-Institut: Knapp an der Rezession vorbei

Das russische Wirtschaftsministerium schätzte in seinem monatlichen Bericht zur Wirtschaftsentwicklung am 18. Juli, dass sich das Wachstum der Wirtschaft im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorjahresquartal auf 0,8 Prozent beschleunigte. Im ersten Quartal war es nach ersten Berechnungen der Statistikbehörde Rosstat nur 0,5 Prozent höher als ein Jahr zuvor.

Allerdings machte das Ministerium keine Angaben, ob das reale Bruttoinlandsprodukt vom ersten zum zweiten Quartal saisonbereinigt gestiegen ist oder ob es wie im ersten Quartal gegenüber dem vorangegangenen Quartal zurückging. Im ersten Quartal war es laut Rosstat gegenüber dem Vorquartal nämlich saisonbereinigt um 0,4 Prozent gesunken. Wenn es im zweiten Quartal einen weiteren Rückgang gegenüber dem Vorquartal gegeben hat, ist die russische Wirtschaft in eine „technische Rezession“, also einen Rückgang des bereinigten realen Bruttoinlandsprodukts in zwei aufeinander folgenden Quartalen, geraten.

Erste Schätzungen zur saisonbereinigten BIP-Entwicklung im ersten Halbjahr lieferte in der letzten Woche das Vnesheconombank Institute, ein 2017 von der staatlichen Bank für Außenwirtschaft und Entwicklung VEB gegründetes gemeinnütziges Forschungsinstitut. In seinem monatlichen Bericht zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts teilte es mit, dass das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal 0,1 Prozent höher war als im ersten Quartal. Zu der von vielen Beobachtern erwarteten Rezession kam es nach seinen Schätzungen also nicht, stellte das Institut fest.

Rating-Agentur ACRA erwartet 2019/2020 nur knapp 1 Prozent Wachstum

Ob die russische Wirtschaft aber ohne eine erneute Rezession den Aufschwung zu einem kräftigen Wachstum schafft, wird offenbar für einige Beobachter immer zweifelhafter. Sogar die russische Rating-Agentur ACRA, die auf Initiative der russischen Regierung von Banken und anderen Unternehmen 2016 gegründet wurde, senkte ihre Wachstumsprognose für 2019 in ihrem Basis-Szenario jetzt auf 0,9 Prozent.

Sehr trüb sieht die Agentur auch die weiteren Perspektiven. 2020 geht ACRA nicht wie fast alle Experten von einem Anziehen des Wachstums aus, sondern rechnet im Basis-Szenario mit einer weiteren leichten Abschwächung des Produktionsanstiegs auf 0,8 Prozent.

ACRA: Weltweiter Protektionismus könnte Russland in Rezession stürzen

Zur Begründung verweist die Agentur auf den weltweit wachsenden Protektionismus. Es sei sehr wahrscheinlich, dass die gegenseitige Erhöhung von Zöllen durch die USA und andere Länder zu einer Stagnation oder einer Abnahme der Produktion in einigen Industrieländern im Jahr 2020 führen werde. Dann würde wahrscheinlich auch die Ausfuhr traditioneller russischer Exportgüter sinken.

In einem „pessimistischen“ Szenario“ hält ACRA im Jahr 2020 unter der Annahme einer Rezession in den USA (- 1,5 Prozent) sogar eine deutliche Rezession in Russland für möglich (- 2,2 Prozent).

Zu den längerfristigen Perspektiven meint ACRA, Russland könne gegenüber den „entwickelten Industrieländern“ nur aufholen, wenn die richtigen Anreize für Investititonen gesetzt würden. Wichtiger als Bauinvestitionen sei die Schaffung hochentwickelter Arbeitsplätze.

Zentralbank: Wachstum blieb bisher unter den Erwartungen

Zur schwachen Entwicklung der russischen Wirtschaft nahm auch die russische Zentralbank Stellung, als sie am Freitag ihren Leitzins erneut um 0,25 Prozentpunkte auf jetzt 7,25 Prozent senkte. In ihrer Pressemitteilung meinte sie unter anderem, die Wachstumsrate der russischen Wirtschaft sei unter ihren Erwartungen geblieben.

Als Ursachen der Konjunkturschwäche nennt die Zentralbank die geringe Investitionsdynamik und einen deutlichen Rückgang der Zuwachsraten im Export. Das Anziehen des Wachstums der Industrieproduktion im zweiten Quartal könnte möglicherweise nicht von Dauer sein meint die Zentralbank. Sie verweist zur aktuellen Konjunkturlage außerdem auf den Rückgang der Wachstumsraten des realen Einzelhandelsumsatzes bei weiter sinkenden verfügbaren Einkommen der Haushalte.

In der ersten Jahreshälfte sei die Wirtschaftsaktivität außerdem durch die Fiskalpolitik gedämpft worden. Teilweise sei dies durch Verzögerungen bei der Realisierung der geplanten „nationalen Projekte“ bedingt. In der zweiten Jahreshälfte werde aber eine Erhöhung der staatlichen Ausgaben, einschließlich der Ausgaben für Investitionen, erwartet.

Chris Weafer: „Nicht auf kurzfristige Indikatoren fokussieren“

Dass die aktuellen Konjunkturindikatoren schlecht aussähen, sollte keine Überraschung sein, kommentierte Chris Weafer, Gründungs-Partner der Moskauer Unternehmensberatung „Macro Advisory“, in einem Beitrag für Intellinews.com. Er warnt davor, bei Analysen der Entwicklung der russischen Wirtschaft kurzfristige Indikatoren in den Mittelpunkt zu stellen.

Weafer erinnert daran, dass insbesondere das Wirtschaftsministerium immer die Ansicht vertreten habe, dass das erste Halbjahr zwar „hart“ würde (Mehrwertsteuer-Erhöhung, schwache Vertrauenswerte, niedrige Investitionen, langsamer Start der nationalen Projekte). Im Verlauf des zweiten Halbjahres sowie insbesondere 2020 würden sich aber die Daten dann mit zunehmender Realisierung der nationalen Projekte verbessern.

Ob die Regierung mit ihrer Prognose der Wachstumsentwicklung recht behalte, werde sich herausstellen, fügt Weafer zwar vorsichtig an. „Macro-Advisory“ prognostizierte im Bericht „Russia – A Basic Guide“ im Juli aber ebenso zuversichtlich wie das Wirtschaftsministerium, dass sich das Wirtschaftswachstum von 1,3 Prozent in diesem Jahr auf 2,0 Prozent im nächsten Jahr beschleunigen wird.

Professor Andrey Nechaev, früherer Wirtschaftsminister in der Regierung Jelzin, ist skeptischer. Er warnt in einem Kommentar für owc.de, dass sich die Erwartungen an die nationalen „Leuchtturm-Projekte“ als zu hoch erweisen könnten. Das Problem sei, dass die russische Regierung keine ernsthaften Alternativen anzubieten habe, mit denen das Wachstum generell beschleunigt werden könnte. Der Kreml scheine zu notwendigen institutionellen und strukturellen Reformen nicht bereit zu sein.

Russlands Wirtschaft hat eine neue Anpassungsphase begonnen

Weafer stellt in seinem Artikel längerfristige Entwicklungstrends der russischen Wirtschaft in den Mittelpunkt. Er sieht die russische Wirtschaft aktuell in einem sehr wichtigen Stadium. Anfang 2019 habe eine neue größere Anpassungsphase mit einem Wechsel der politischen Prioritäten begonnen, die dritte derartige Phase seit der Entstehung des „modernen“ Russlands im Jahr 1991.

Weafer weckt anders als Nechaev Hoffnungen. Er meint sogar, Russland könne die Entstehung einer „neuen Wirtschaftsordnung“ und den Beginn eines nachhaltigeren und stetigeren Wachstums erleben – allerdings nur wenn jetzt richtig gehandelt werde.

„This particular stage in the evolution is when, if handled correctly, Russia should start to see the emergence of a new economic order and the start of more sustainable and steady growth (…).“

Verzögerungen beim Start der nationalen Projekte sind nicht so wichtig

2019 habe mit lautstarken Ankündigungen der „Nationalen Projekte“ begonnen, für die Ausgaben von rund 400 Milliarden US-Dollar in den nächsten 5 Jahren geplant seien, schreibt Weafer (siehe auch Russia – A Basic Guide, S. 14). Realistischer wäre nach seiner Meinung allerdings, das Programm auf sechs bis acht Jahre zu veranschlagen. Der oft kritisierte langsame Start der Umsetzung der Projekte sei deswegen nicht so wichtig. Es gebe keinerlei Anlass, jetzt schon ein Scheitern des Programms zu vermuten.

Unmittelbarer Handlungsbedarf für die Regierung besteht, so Weafer, hinsichtlich der sehr niedrigen Vertrauenswerte bei Befragungen von Verbrauchern und Unternehmen. Um die derzeit viel zu niedrige Investitionsquote zu erhöhen, werde es insbesondere nötig sein, das Vertrauen der Unternehmen zu stärken.

Neue Sanktionen können mehr ausländische Investitionen verhindern

Russland brauche auch mehr ausländische Investitionen, um die nationalen Projekte zu unterstützen. Ob es Russland gelingen werde, mehr Investitionen aus dem Ausland anzuziehen, hängt für Weafer vor allem davon ab, welche weiteren Sanktionen von den USA verhängt werden. Mit dem Beschluss weiterer Sanktionen rechnet er auf jeden Fall. Wenn sie nicht nur „kosmetischer Art“ seien, sondern wirtschaftlich schädlich ausfielen, werde es sicherlich für einige Zeit nicht zum erhofften Anstieg der ausländischen Investitionen kommen.

Weafer: Offene wirtschaftspolitische Debatte ist ermutigend

Zur verbreiteten Kritik am langsamen Start der nationalen Projekte merkt Weafer an, es sei ein gutes Zeichen für die Zukunft des Programms, dass so offen über seinen schlechten Start und jetzt nötige Maßnahmen debattiert werde.

Generell stellt er heraus, dass es in Russland derzeit auch unter Spitzenvertretern der Regierung offenen Streit gebe, was zur Belebung der Wirtschaft getan werden müsse. Es sei neu und ermutigend, dass Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierung nicht unterdrückt würden (siehe dazu Lesetipps: Streit zwischen Oreschkin und Nabiullina).

Weafers Fazit: Es hat sich eine Menge geändert

Zusammenfassend meint Weafer, nach fast sechs Jahren Krisen-Management und einer schwachen Entwicklung der Wirtschaft liege für viele zwar die Annahme nahe, es werde sich nie etwas ändern. Es habe sich aber schon viel geändert.

Weafer selbst lässt zwar offen, ob diese Änderungen zum Beginn einer weiteren Phase einer starken Entwicklung der russischen Wirtschaft führen mit mehr gesellschaftspolitischer Stabilität. Er verweist aber darauf, dass die Anleger am russischen Kapitalmarkt optimistisch seien. Der in Dollar notierende RTS-Index habe seit Jahresbeginn um über 30 Prozent zugelegt und die Rendite für Eurobonds mit 30 Jahren Laufzeit sei gleichzeitig von 4,25 Prozent auf 3 Prozent gesunken. Für einen reibungslosen Machwechsel im Kreml im Jahr 2024 sei es erforderlich, dass die Optimisten recht behielten, schließt Weafer.

Lisovolik: Wende in der „ziemlich konservativen Fiskalpolitik“ zu erwarten

Anders als Weafer deutet Yaroslov Lisovolik (Senior Managing Director im Research der Sberbank) nicht an, dass es in Russland grundlegende Änderungen der Wirtschaftsordnung geben könnte. Er schreibt in einem Beitrag für den Valdai Club (dessen Programm-Direktor er ist), die Entwicklung der russischen Wirtschaft hebe sich von wirtschaftspolitischen Prozessen im „Rest der Welt“ positiv ab.

International könne man folgende Trends feststellen:

  • Wegen der hohen Staatsverschuldung ist der Freiheitsgrad der Regierungen in der Ausgabenpolitik begrenzt.
  • Nach einer langen Phase niedriger Zinsen fehlt der Geldpolitik die Flexibilität.
  • Der wachsende Protektionismus macht immer mehr Sorgen.
  • Auf den Finanzmärkten gibt es Rezessionsängste. Sie setzten ihre Hoffnungen hauptsächlich auf Hilfe durch die Geldpolitik der führenden Volkswirtschaften. Fraglich ist aber, ob die Möglichkeiten der Geldpolitik ausreichen.

Dass die Entwicklung in Russland anders verlaufe, ist laut Lisovolik insbesondere der Einhaltung wirtschaftspolitischer Regeln zuzuschreiben:

  • In der Fiskalpolitik, gibt es die „Fiskal-Regel“ (zum Sparen energiepreisbedingter Mehreinnahmen) mit konservativen Annahmen zur Entwicklung der Ölpreise.
  • Die Geldpolitik der russischen Zentralbank verfolgt Regeln, die sich darauf richten, das Ziel einer Inflationsrate von 4 Prozent zu erreichen.
  • Die russische Außenwirtschaftspolitik wird entsprechend den Verpflichtungen gestaltet, die mit der Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation übernommen wurden.

Lisovolik meint aber gleichzeitig, in Russlands Wirtschafts-, Budget, Geld- und Strukturpolitik sei jetzt eine „Wende“ geplant. Dazu verweist er insbesondere darauf, dass die „ziemlich konservative“ Fiskalpolitik, mit der erhebliche Reserven im Nationalen Wohlfahrtsfonds angesammelt worden seien, wahrscheinlich durch eine lockerere Ausgabenpolitik ersetzt werde. Zum Teil sei dies auf die Ausgaben für die sogenannten „Nationalen Projekte“ zurückzuführen. Dazu beitragen werde aber auch, dass vorgesehen sei, einen Teil des Fonds für Ausgaben zu verwenden, wenn der Bestand des Fonds 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übersteigt. Wahrscheinlich werde das 2020 der Fall sein.

Titelbild
[toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”]Titelbild: Natalja Nikolaeva / Shutterstock.com
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Quellen und Lesetipps

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte (meist monatlich, vierteljährlich)

Aktuelle Wirtschaftslage:  Monatsbericht des Wirtschaftsministeriums und Rosstat-Monatsdaten Juni 2019 mit Analysten-Kommentaren

Preisentwicklung und Geldpolitik

Konsumentenverschuldung – Streit zwischen Oreschkin und Nabiullina

Sonstige Veröffentlichungen zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann seit Anfang Juli 2019: