Karelienreise (1/2): Zug-Klischees und Bärenangst

Eine Reise nach Karelien im Norden Russlands

Im Nordwesten Russlands liegt Karelien, eine Region voller Wälder und Seen. Unser Autor berichtet von seiner Reise dorthin – und den Menschen, die er dabei traf.

Ich liege mit pochendem Herzen im Stockbett des Nachtzuges und bin einfach nur erleichtert. Nach einer viertelstündigen Diskussion hat sich die Kontrolleurin als gnädige Gebieterin erwiesen und mich mit einem “Guten Tag Deutschland” in mein Abteil geschickt. Ich darf meine Reise also doch antreten, obwohl ich nur eine Kopie meines Reisepasses dabei habe und nicht das Original. Ein absolutes No-Go, wie ich mittlerweile weiß. Während im Gang das Licht ausgeht und ich mich beruhige, rattert der Zug aus dem Moskauer Stadtgebiet durch die Nacht Richtung Norden.

“Moskau ist nicht Russland.” Diesen Satz bekam ich immer wieder zu hören, wenn ich Russen erzählte, dass es mir hier bisher gut gefalle. Mit jedem Mal wurde meine Lust größer, endlich etwas anderes zu sehen als die geschäftige Metropole. Eine Metropole, deren Gehwege zweimal am Tag poliert werden und deren Zentrum nachts in opulentem Lichtschmuck strahlt. Wie sieht das Leben abseits davon aus? Mein auserkorenes Ziel das zu überprüfen: Karelien, die Region an der finnischen Grenze im Nordwesten des Landes.

In Hausschuhen vorbei an Wäldern

Auf der insgesamt 16-stündigen Fahrt bestätigen sich gleich ein paar Klischees über die russische Zugkultur: Viele Reisende tragen Hausschuhe, auch für mich lag im Coupé ein Exemplar bereit. Jedes Abteil hat einen eigenen “Manager”. Dieser verkauft Tee und notiert auf einem handgeschriebenen Zettel, wer wann aussteigt und gegebenenfalls geweckt werden muss. Und: Die junge Mutter gegenüber bietet mir mehrmals von ihrem üppigen Reiseproviant an. So schweigsam Russen in der Metro sind, so heißt es, umso redseliger und gastfreundlicher sind sie in Fernzügen.

Zwischenstopp in irgendeiner Kleinstadt. An den Gleisen verkaufen ältere Damen Eis, Coca Cola und Fische. Die Schaffnerin, die mich wenige Stunden vorher noch schikaniert hat, will mich und meinen Reisepartner jetzt lächelnd überreden, einen Fisch zu kaufen. Stundenlang sind wir an Tannenwäldern, hübschen Seen und kleinen Dörfern vorbeigefahren. Es ist nicht mehr lange bis zur ersten Etappe: Petrozavodsk, der 260.000-Einwohner-Stadt am Onegasee, dem zweitgrößten See Europas.

Dort kommen wir bei Natalia unter, Couchsurferin und Mutter des 12-jährigen Ilja. Die beiden bewohnen mit einer Katze eine Dreizimmerwohnung unweit der Uferpromenade. Wir dürfen auf der Klappcouch im Wohnzimmer schlafen, neben einem überquellenden Bücherschrank. “Ich liebe Bücher”, sagt Natalia. Auch das hat sich mittlerweile bewahrheitet: Die Russen lesen mehr als die Deutschen.

Ein karelisches Dorf im Mai.

Nachdem wir die Nacht durchgeschwitzt haben (die Heizung in der Wohnung lässt sich nicht runterdrehen), begleiten wir die beiden auf dem für den freien Tag geplanten Ausflug zu einem Wasserfall. Weil Natalia kein Auto hat, heißt das in dem Fall: Mit dem Bus so weit wie möglich aus der Stadt, und dann: Anhalter fahren. In Deutschland als Familienausflug durchs Land trampen? Unvorstellbar. Aber wir sind ja jetzt in Russland, und es klappt erstaunlich gut. Nach höchstens zehn Minuten Daumenstrecken sind wir auf zwei Autos verteilt auf dem Weg zum Ziel.

Trampender Familienausflug

Kleiner Vorgriff: Nach weiteren Trampingerfahrungen würde ich die russischen Anhalter in zwei Gruppen einteilen: Die einen lassen einen wortlos einsteigen und fragen höchstens noch, wohin man will, bevor sie die Fahrt durchschweigen. Die anderen plaudern lebhaft, sprechen manchmal sogar Deutsch und erzählen von ihren Erfahrungen in Deutschland oder von dem Ferienlager vor 20 Jahren, wo einmal auch ein Deutscher dabei war. Beide Typen kommen sowohl in modernen SUVs und in klapprigen Ladas mit Heiligenbildchen vor.

Am nächsten Tag steht eine Tageswanderung durch die Wälder am Ufer an. Ziel: die Felsformation Teufelsstuhl”. Gestein, Wälder und Holzhäuser auf dem Weg muten skandinavisch an. Kein Wunder, sind wir doch längst auf der Höhe Finnlands. Die Region Karelien liegt übrigens teilweise auch auf finnischem Staatsgebiet. Doch uns beschäftigt ein russischer Mythos: Was ist mit Bären? Die Dame im Tourismusbüro hat uns gewarnt, vorsichtig zu sein und wir sind uns nicht sicher, ob sie gescherzt hat. Wir fragen mehrere Anwohner, diese geben Entwarnung. “Manchmal gehen die Bären hier Beerensammeln, aber ganz sicher nicht in dieser Jahreszeit”, sagt eine Mutter mit Kind und führt uns zum Beginn des Wanderweges. Ein mulmiges Gefühl bleibt, mehrmals zucken wir anfangs zusammen weil wir in einem Baumstamm in der Ferne einen hungrigen Braunbären gesehen haben. Nachher lachen wir natürlich drüber – wir sind wirklich nicht weit von der Zivilisation.

Waldläufer und tückischer Wind

Die Landschaft ist unbeschreiblich schön. Warum bringt man mit tiefgrünen Tannenwäldern an glatten Seen eher Länder wie Kanada in Verbindung? Auch Russland hat ihrer reichlich, vor allem in Karelien: Über 66.000 Seen gibt es hier, die Hälfte der Region besteht aus Wald. Doch leider blickt das Auge nicht nur auf Bäume und Wasser, sondern auch auf den am Ufer herumliegenden Plastikmüll.

Im Wald begegnen wir einem munteren russischen Opi, der uns in beeindruckendem Tempo wieder auf den abhanden gekommenen Pfad führt. Auf seiner Digitalkamera zeigt er uns Bilder vom Eisfischen und seiner Waldhütte. Als Soldat war er zeitweise in der DDR stationiert, er erzählt vom Glücksspielautmaten an der Tankstelle und von Brigitte, seiner damaligen Freundin. Bevor wir ein herzliches Abschiedsfoto machen, fragen wir noch nach der Herkunft des vielen Plastikmülls. “Ja, das ist schlimm, den weht der Wind immer aus der Stadt hierher.” Wir haben da ja einen anderen Verdacht…

Seeufer außerhalb von Petrozavodsk.

Lest in Teil 2 über Sortavala am Ladogasee, einen ersten Banja-Besuch und Rangelspiele beim Schaschlikgrillen.

Titelbild
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