Ist Russlands Rezession schon 2023 vorbei?

Der IWF ist skeptisch

Die Produktion der russischen Wirtschaft dürfte in den beiden Jahren 2022 und 2023 um insgesamt rund 10 Prozent sinken. Darüber sind sich inzwischen viele Konjunkturanalysten weitgehend einig – trotz oder vielleicht auch wegen der aktuell sehr hohen Unsicherheit. Weniger Einigkeit besteht hinsichtlich der Dauer der Rezession.

Überwiegend wird bereits im nächsten Jahr eine Stabilisierung oder eine schwache Erholung erwartet. So ergab sich bei einer Umfrage der russischen Zentralbank jetzt als Mittelwert (Median) der Prognosen für 2022 ein Produktionsrückgang um 9,2 Prozent. Im nächsten Jahr rechnen die Befragten mit einer Stagnation der Produktion.

Etliche Beobachter erwarten aber im nächsten Jahr einen erneuten Rückgang der Produktion, der allerdings längst nicht so scharf wie 2022 ausfallen dürfte. Eine zwei Jahre anhaltende Rezession prognostizierte jetzt auch der Internationale Währungsfonds. Wie letzte Woche berichtet, geht auch die Mitte April veröffentlichte „Gemeinschaftsdiagnose“ der deutschen Forschungsinstitute von einer Fortsetzung der Rezession im Jahr 2023 aus.

IWF: Im ersten Rezessionsjahr sinkt die Produktion um 8,5 Prozent

Der Internationale Währungsfonds erwartet im neuen „World Economic Outlook“, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion im laufenden Jahr um 8,5 Prozent sinkt. 2023 rechnet er mit einem weiteren Rückgang um 2,3 Prozent (WEO, Seite 4).

Der IWF verweist darauf, dass die gegen Russland verhängten harten Handels- und Finanzsanktionen sowie das von einigen Ländern angeordnete Embargo auf Öl- und Gaslieferungen aus Russland weitreichende Auswirkungen auf die Entwicklung der russischen Wirtschaft habe.

Vom Abzug ausländischer Unternehmen aus Russland seien viele Branchen betroffen, unter anderem der Luftverkehr, der Finanz-Sektor, der IT-Bereich und die Landwirtschaft.

Bei den privaten Investoren in Russland sei viel Vertrauen verloren gegangen, stellt der IWF fest. Es werde zu einem deutlichen Rückgang der privaten Investitionen und des privaten Verbrauchs kommen. Durch zusätzliche staatliche Ausgaben werde dieser Rückgang nur teilweise ausgeglichen werden können.

Auch der IWF geht davon aus, dass Russlands Einfuhren aufgrund der Sanktionen noch deutlich stärker sinken als die Ausfuhren. Er rechnet damit, dass der Leistungsbilanzüberschuss Russlands 2022 auf 12,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigt (2021: 6,9 Prozent des BIP; Seite 37, Tabelle 1.1.1).

Die Arbeitslosenquote verdoppelt sich fast, die Inflation erreicht 21,3 Prozent

Der diesjährige Produktionsrückgang um 8,5 Prozent wird nach Einschätzung des IWF fast zu einer Verdoppelung der Arbeitslosenquote führen. Sie dürfte von 4,8 Prozent im Jahr 2021 auf 9,3 im Jahr 2022 steigen.

Der Anstieg der Verbraucherpreise wird sich laut IWF im Jahresdurchschnitt 2022 von 6,7 Prozent auf 21,3 Prozent beschleunigen. Am Jahresende 2022 werde die Inflationsrate voraussichtlich 24,0 Prozent erreichen.

Für 2023 erwartet der IWF zwar einen weiteren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 2,3 Prozent. Gleichzeitig geht er aber davon aus, dass die Arbeitslosenquote von 9,3 Prozent auf 7,8 Prozent sinkt. Das Inflationstempo werde im Jahresdurchschnitt um rund ein Drittel von 21,3 Prozent auf 14,3 Prozent abnehmen.

Zentralbank-Umfrage: Die Rezession folgt 2023 eine Stagnation

Die zwei Tage nach dem „World Economic Outlook“ veröffentlichten Ergebnisse einer Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank lassen nur für 2022 eine Rezession erwarten. 2023 dürfte die Produktion der russischen Wirtschaft laut der Umfrage stagnieren.

Die russische Zentralbank hat als Median („Zentralwert“) der Prognosen der 36 befragten russischen und ausländischen Banken und Forschungsinstitute für 2022 einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 9,2 Prozent errechnet. Als arithmetisches Mittel („Durchschnitt“) der Prognosen gibt die Zentralbank einen Rückgang um 9,4 Prozent an.

Der IWF rechnet 2022 also mit einem etwas geringeren Rückgang als der Durchschnitt der Analysten in der Zentralbank-Umfrage. Andererseits erwartet der IWF aber für 2023 eine Fortsetzung der Rezession während die Umfrage eine Stagnation signalisiert.

Wachstumsprognosen 2021 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Analysten-Umfrage: Die Inflationsrate steigt Ende 2022 auf 22 Prozent

Für Dezember 2022 erwarten die Analysten einen Anstieg der jährlichen Inflationsrate auf 22 Prozent (IWF-Prognose: + 24,0 Prozent).

Bereits jetzt hat die Inflation den höchsten Stand seit 20 Jahren erreicht, berichtet auch Tagesschau.de. In der Woche bis zum 15. April stieg die jährliche Inflationsrate auf 17,6 Prozent. Dabei schwächte sich der wöchentliche Preisanstieg in den letzten drei Wochen aber ab (Wochenbericht des Forschungsinstituts der Vnesheconombank).

Nabiullina: Die Bewältigung der Sanktionsprobleme braucht Zeit

Zentralbankpräsidentin Elvira Nabiullina sprach laut Reuters anlässlich einer Rede vor dem russischen Parlament die Herausforderungen an, denen sich das Land bei der Bewältigung der Auswirkungen der westlichen Sanktionen gegenübersieht.

Probleme könnten auch bei Produktionsprozessen mit einem bereits erreichten hohen „Lokalisierungsgrad“ auftreten, sagte Nabiullina laut Reuters. Russland verwende zum Beispiel bei der Herstellung von Papier ausländische Bleichmittel. Ein dringender Importbedarf bestehe zum Beispiel auch bei Verpackungsmaterialien für in Russland produzierte Lebensmittel. „Das alles braucht Zeit“, sagte sie zur Substitution der Importe.

Die Zentralbank wird weitere Zinssenkungen prüfen

Nabiullina wurde für weitere fünf Jahre von den Abgeordneten im Amt bestätigt.

Die Zentralbankpräsidentin wiederholte laut Reuters, dass die Zentralbank weitere Senkungen des Leitzinses in Betracht ziehe. Um den Rubel zu stabilisieren, hatte die Notenbank den Leitzins Ende Februar zunächst von 9,5 auf 20,0 Prozent angehoben, am 08. April aber bereits wieder auf 17 Prozent gesenkt. Die nächste Leitzinsentscheidung steht am 29. April an.

In der jüngsten Umfrage der Zentralbank wird im Jahresdurchschnitt 2022 ein Leitzins von 14,5 Prozent erwartet. Anfang März war noch mit 18,9 Prozent gerechnet worden.

Andrei Kostin, Leiter von Russlands zweitgrößter Bank VTB, sagte laut TASS am Donnerstag, er erwarte, dass die Zentralbank ihren Leitzins im April auf 15 Prozent und bis Ende des Jahres auf 12 bis 13 Prozent senken werde.

Die Arbeitslosenquote steigt, der Rubel wertet ab

Die Entwicklung auf dem russischen Arbeitsmarkt sehen die von der Zentralbank befragten Analysten deutlich weniger pessimistisch als der IWF. Sie rechnen „nur“ mit einem Anstieg der Arbeitslosenquote von 4,3 Prozent am Jahresende 2021 auf 6,9 Prozent am Jahresende 2022. Der IWF erwartet hingegen, dass sich die Arbeitslosenquote im Jahresdurchschnitt 2022 fast verdoppelt.

Nachdem der Rubel-Kurs, der zunächst tief eingebrochen war, im März/April rasch wieder zu seinem Vorkrisen-Niveau zurückgekehrt ist, erwarten die Analysten für den Jahresdurchschnitt 2022 jetzt einen Rubelkurs von 85 Rubel/US-Dollar. Bei der letzten Umfrage Anfang März hatten sie mit einer viel stärkeren Abwertung auf 110 Rubel/US-Dollar für 2022 gerechnet.

Wie der IWF rechnen die Analysten damit, dass der Wert der russischen Einfuhren 2022 deutlich schneller sinkt (rund – 30 Prozent) als der Wert der Ausfuhren (rund – 12 Prozent).

Gunter Deuber erwartet BIP-Einbruch um mindestens 10 bis 15 Prozent

In einem Mitte April in den Russland-Analysen der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen veröffentlichten Artikel nahm Gunter Deuber, Managing Director und Chefvolkswirt der Raiffeisen Bank International AG in Wien, ausführlich zur aktuellen Entwicklung der russischen Wirtschaft Stellung.

Deuber gehört zu den Experten, die nicht an eine kurze Rezession in Russland glauben. Er schreibt:

„Russland steht in den Jahren 2022 und 2023 vor der schwersten und selbstverschuldeten Wirtschaftskrise seit der tiefen und mehrjährigen Transitionskrise Anfang der 1990er Jahre. Das komplexe Zusammenspiel von tiefen offiziellen westlichen Wirtschafts- und Finanzmarktsanktionen sowie einem in der modernen Wirtschaftsgeschichte nicht dagewesenen Rückzug von großen und mittelständischen ausländischen Firmen, Investoren und Handelspartnern aus Russland (private Sanktionen) wird in eine sehr tiefe Rezession und voraussichtlich lange anhaltende ökonomische Stagnation führen.“

Deuber vergleicht die zu erwartende Rezession mit früheren Rezessionen der russischen Wirtschaft. Dazu veröffentlichen die Russland-Analysen folgende Abbildung zum Rückgang des BIP in den Jahren 2022, 2020, 2015, 2009 und 1998 (rechte Skala) und den Wachstumsbeiträgen der BIP-Komponenten.

Russland-Analysen Nr. 418: Russlands Finanz- und Wirtschaftsindikatoren; 11.04.2022

Deuber betont die aktuell sehr hohe Unsicherheit von Prognosen. Eine „Punktprognose“ für die Tiefe der kommenden Rezession sei kaum möglich. Er schreibt:

„Der BIP-Einbruch bzw. der Einbruch an Wirtschaftsleistung im Jahr 2022 sollte deutlich tiefer sein als in vorigen Krisen (etwa während der globalen Finanzkrise 2008 und der Jahre nach der Krim-Annexion 2014 und 2015). Zudem ist im Vergleich zu früheren Krisen auch für 2023 mit einem weiteren BIP-Einbruch zu rechnen und mit einer langen anhaltenden Rezession über viele Quartale.

In Summe könnte die Wirtschaftsleistung in den kommenden 12 – 24 Monaten mindestens um 10 – 15 Prozent einbrechen, mit Abwärtsrisiken. Diesmal sind schnelle Erholungs- und Rückprallmuster, wie sie sonst für Emerging Markets kennzeichnend sind, im Falle Russlands undenkbar.“

Zur Inflationsentwicklung meint Deuber:

„Für das Jahr 2022 ist mindestens mit einer Inflation im Jahresschnitt von 20 bis 25 % zu rechnen. Auch im Jahr 2023 wird die Inflation aller Voraussicht nach zweistellig sein und dies wird zu weiter sinkenden Reallöhnen führen. Die Notenbank sieht ein Erreichen ihres Inflationszieles frühestens im Jahr 2024 als realistisch an.

Sanktionsbedingte Rezession bringt eine „strukturelle Transformation“

In einer am 22. April veröffentlichten Ausgabe der Studienreihe „Talking Trends“ der Research-Abteilung der russischen Zentralbank (keine offizielle Mitteilung der Zentralbank) wird festgestellt, dass die russische Wirtschaft im März in eine Rezessionsphase eingetreten sei.

Die Rezession werde in jeglichem Szenario tief sein und lange anhalten. Gleichzeitig wird aber betont, dass angesichts der hohen Unsicherheit Tiefe und Dauer des Rückgangs der Produktion und ihrer Erholung „diskutierbar“ seien.

Die Studie kommt unter anderem zu folgenden Schlussfolgerungen:

Bei einem Anhalten der Sanktionen und der Einschränkung der Aktivitäten ausländischer Unternehmen in Russland wird es zu einer „strukturellen Transformation“ der Wirtschaft kommen. Sie wird zum einen auf dem Import von technologisch weniger fortgeschrittenen Produkten beruhen. Außerdem wird Russland allmählich Technologien und Produktionsstätten entwickeln, die die Importe ersetzen können. Der Prozess der Erholung wird lange dauern.

Wenn die sanktionsbedingten Einschränkungen von Technologieimporten nach Russland anhalten und die Einschränkungen russischer Rohstoffexporte verschärft werden, wird der Anteil der Investitionsgüter an der gesamten Produktion der russischen Wirtschaft mittelfristig zunehmen während der Anteil der Konsumgüter an der Produktion abnehmen wird.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Popova Valeriya I Shutterstock