Russlands Armutsquote: Besserung trotz Corona?

Nimmt Russlands Armutsquote 2020 trotz der Corona-Rezession ab?

Berechnungen der Weltbank zufolge entwickelt sich die Armutsquote in Russland weniger dramatisch als die Pandemie vermuten ließe. Für die Wirtschaftspolitik gibt es Lob.

Vor einer Woche erschien die Sommerausgabe des halbjährlichen „Russia Economic Report“ der Weltbank. In diesen Berichten analysiert die Weltbank regelmäßig auch die Entwicklung der Armut in Russland. Als „arm“ stuft das russische Statistikamt jeden ein, dessen Einkommen unterhalb des staatlich festgelegten Existenzminimums von durchschnittlich etwa 10.900 Rubel (umgerechnet etwa 136 Euro) liegt. Das waren 2019 mit 18,1 Millionen Personen 12,3 Prozent der gesamten Bevölkerung.

Die Weltbank wagt in ihrem Bericht auch eine Prognose zur Entwicklung der Armutsquote bis 2022. Viele werden überrascht sein, dass sie 2020 trotz der Corona-Krise keinen Anstieg der Armutsquote erwartet. Sie rechnet dank der Hilfsmaßnahmen der Regierung sogar damit, dass der Anteil der Armen an der Bevölkerung 2020 etwas weiter sinkt und 2022 so niedrig sein wird wie nie zuvor.

Der Weltbank-Repräsentant in Russland, Renaud Seligmann, lobte in einem Interview die Wirtschaftspolitik der Regierung ausdrücklich. Im Gegensatz zu vielen Kritikern ihrer „Sparpolitik“ findet er auch nicht, dass die Regierung zu wenig zur Erholung der Wirtschaft ausgeben will. Russland plane etwa ebenso hohe Ausgaben wie Staaten mit ähnlichem Einkommensniveau.

Bei einem „moderaten Schock“ nimmt die Armutsquote weiter ab

Bereits Anfang Juni hat die Weltbank in ihren „Global economic prospects“ prognostiziert, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion in Russland 2020 wegen der Produktionsausfälle durch die Corona-Pandemie um 6 Prozent sinken dürfte. Bei dieser Einschätzung bleibt sie in ihrem neuen „Russia Economic Report“. Sie bezeichnet diese Entwicklung als „moderaten Schock“. Daneben entwirft sie ein Szenario für einen „schweren Schock“ mit einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um fast 10 Prozent.

Beim „moderaten Schock“ mit einem BIP-Rückgang um 6 Prozent erwartet die Weltbank trotz sinkender real verfügbarer Einkommen und steigender Arbeitslosigkeit, dass der Anteil der „Armen“ an der Bevölkerung von 12,3 Prozent im Jahr 2019 auf 12,2 Prozent im Jahr 2020 abnimmt. Dafür würden die von der Regierung beschlossenen Maßnahmen zur Unterstützung der Haushalte und Unternehmen sorgen. Die Weltbank erläutert ihre Rechnung mit folgender Abbildung:

Rückgang der Armutsquote (blaue Linie)
bei einem „moderaten Einkommensschock“

World Bank: Russia Economic Report, Page 56; 06.07.2020

Die Weltbank rechnet so:

Wenn Russlands Wirtschaft 2020 entsprechend der bisherigen Weltbank-Prognose vom März um 1 Prozent wachsen würde, würde die Armutsquote von 12,3 im Jahr 2019 auf 12,0 Prozent im Jahr 2020 sinken.

Jetzt ist wegen der Corona-Pandemie aber mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 6 Prozent zu rechnen. Er würde die Armutsquote für sich genommen von 12,0 Prozent um 2,8 Prozentpunkte auf 14,8 Prozent steigen lassen.

Schon die im Januar beschlossenen sozialpolitischen Maßnahmen der Regierung werden aber bewirken, dass die Armutsquote um einen Prozentpunkt weniger steigt. Die weiteren von März bis Juni beschlossenen Maßnamen werden den Anstieg um weitere 1,6 Prozentpunkte drücken.

Im Ergebnis sinkt die Armutsquote laut den Weltbank-Berechnungen von 12,3 im Jahr 2019 auf 12,2 Prozent im Jahr 2020. Fünf Jahre zuvor hatte die Armutsquote noch 13,3 Prozent betragen.

Bis 2022 sinkt die Armutsquote laut Weltbank auf ein historisches Tief

Bleibt es bei dem „moderaten Schock“ und erholt sich die gesamtwirtschaftliche Produktion 2021 um 2,7 Prozent, wird die Armutsquote laut Weltbank im nächsten Jahr deutlich weiter auf 11,3 Prozent sinken. 2022 soll sie bei einem Wirtschaftswachstum von 3,1 Prozent nur noch 10,5 Prozent betragen.

Damit wäre sie noch etwas niedriger als 2012. Damals war sie auf 10,7 Prozent gesunken, den bisher niedrigsten Wert. Im Jahr 2000, als Wladimir Putin erstmals Staatspräsident wurde, hatte sie noch 29 Prozent betragen (siehe Weltbank-Chart und folgende Abbildung aus „Patriotic Guide“).

Entwicklung der Armutsquote von 1992 bis 2012
Amteil der Bevölkerung mit einem Einkommen
unterhalb des Existenzminimums in Prozent

Patriotic Guide: Salaries and Income in Russia; ruxpert.ru

Rosstat-Umfrage: Befragte sehen ihre finanzielle Lage verschlechtert

Die langfristige Entwicklung der Armutsquote hat auch Martin Brand, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen, im Februar in einem Artikel in den Russland-Analysen untersucht. In der Dokumentation „Kennzahlen zur Armut in Russland“ vergleicht er u.a. die Entwicklung der offiziellen Armutsquote mit den Ergebnissen von Meinungsumfragen. Sie lassen erkennen, dass der Anteil der Bevölkerung, der sich selbst als „arm“ empfindet, viel höher ist als die offizielle Armutsquote.

Das zeigt auch eine Anfang Juli veröffentlichte Rosstat-Umfrage zur finanziellen Lage der privaten Haushalte. Sie ergab, dass im zweiten Quartal 2020 insgesamt 31 Prozent der Befragten ihre finanzielle Lage als „schlecht“ (27,0 Prozent) oder „sehr schlecht“ (4,0 Prozent) bezeichneten.

Ein Jahr zuvor meinten im zweiten Quartal 2019 insgesamt nur 26,5 Prozent, dass ihre finanzielle Lage „schlecht“ sei (24,0 Prozent) oder „sehr schlecht“ (2,5 Prozent). Nach Einschätzung der Befragten hat sich ihre finanzielle Lage im Verlauf des letzten Jahres also verschlechtert.

Weltbank: Bei einem BIP-Einbruch um fast 10 Prozent steigt die Armut nur wenig

In einem Szenario mit einem „schweren Schock“ nimmt die Weltbank an, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt 2020 um 9,6 Prozent sinkt und sich 2021 nur um 0,1 Prozent erholt. Sie geht in diesem Szenario davon aus, dass die Betriebe teilweise weitere drei Monate geschlossen bleiben. Trotz staatlicher Hilfen würden in diesem Fall viel mehr Unternehmen in Konkurs gehen, die privaten Haushalte würden ihren Verbrauch scharf einschränken und der Reiseverkehr bliebe sehr schwach.

Auch bei diesem „schweren Schock“ wird die Armutsquote 2020 laut den Berechnungen der Weltbank aber nur relativ moderat von 12,3 Prozent auf 13,4 Prozent steigen, 2021 auf diesem Niveau verharren und 2022 auf 12,5 Prozent sinken.

Weltbank-Direktor Seligmann lobt Russlands Wirtschaftspolitik

In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Ria Novosti erläuterten Renaud Seligmann, Weltbank-Direktor für Russland, und Russland-Chefvolkswirt Apurva Sanghi, ihren Bericht.

Seligmann stellte heraus, dass sich Russland dank der Wirtschafts- und Finanzpolitik seiner Regierung angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise in einer besseren Ausgangslage befinde als viele vergleichbare Volkswirtschaften. Russlands Wirtschaft sei in „relativ guter Form“ was den Stand der Staatsverschuldung, die Währungsreserven, den „Nationalen Wohlfahrtsfonds“ und die flexible Wechselkurspolitik angehe.

Russlands gibt ähnlich viel aus wie vergleichbare Emerging Markets

Der Weltbank-Direktor lobt die „Krisenpolitik“ der Regierung. Sie habe inzwischen Hilfsmaßnahmen von fast 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beschlossen. Im Vergleich mit „entwickelten Volkswirtschaften“ sei das zwar wenig. Russlands „Corona-Ausgaben“ entsprächen aber dem Niveau der Hilfsmaßnahmen von Ländern mit einem ähnlichen Einkommensniveau. Der Weltbank-Bericht zeigt das mit einer Abbildung, in der die von der russischen Regierung vorgesehenen Corona-Ausgaben sowie die von ihr geplanten Kredite, Kapitalbeteiligungen und Garantien mit denen in China, Argentinien, Kasachstan, Rumänien und Bulgarien verglichen werden (siehe Weltbank-Bericht S. 48).

Corona-Hilfen Russlands im Vergleich mit anderen Emerging Markets
Anteile am Bruttoinlandsprodukt in Prozent

World Bank: Russia Economic Report, Page 48; 06.07.2020

Zwei Drittel der Corona-Hilfen der Regierung erhalten Unternehmen

Laut dem Bericht der Weltbank (S. 47, 48) betragen die geplanten russischen Corona-Hilfen insgesamt rund 3,9 Billionen Rubel (4,0 Prozent des BIP). Davon entfallen rund 67 Prozent auf Hilfen für Unternehmen (2,7 Prozent des BIP) und rund 17 Prozent auf Hilfen für private Haushalte (0,7 Prozent des BIP). Die Regionen sollen knapp 10 Prozent der Hilfen erhalten (0,4 Prozent des BIP). Für das Gesundheitswesen sind rund 6 Prozent der gesamten Ausgaben vorgesehen (0,3 Prozent des BIP).

Seligmann meint, die Regierung gebe so viel wie möglich für Hilfsmaßnahmen aus, ohne die Mittel im Nationalen Wohlfahrtsfonds auszuschöpfen. Sie bewahre sich so die Fähigkeit, auch in Zukunft die Wirtschaft unterstützen zu können.

Vorschläge der Weltbank für Verbesserungen der Sozialpolitik

Seligmann schlägt im Interview vor, die russische Regierung solle die aktuelle Krise für eine Reform des Systems der Sozialen Sicherung nutzen.

Im Bericht der Weltbank heißt es dazu, Russlands Ausgaben für soziale Zwecke machten zwar 3,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Das sei doppelt so viel wie im weltweiten Durchschnitt. Menschen unterhalb der Armutsgrenze müßten von der  russischen Sozialpolitik aber besser erfasst werden. Die Leistungen für sie müßten erhöht werden. Bisher erhielten sie nur rund 10 Prozent der Sozialausgaben. Das reiche nicht aus, damit sie sich aus der Armut lösen könnten.

Die jetzt beschlossene Erhöhung der Leistungen für Familien mit Kindern sei aber ein Schritt in die richtige Richtung, meint Seligmann im Interview mit Ria Novosti.

Ein Schritt in die richtige Richtung seien auch die Pläne der Regierung, kleine und mittlere Unternehmen zu unterstützen. Ihr Anteil an der russischen Wirtschaft betrage  nur rund 20 Prozent, viel weniger als in Deutschland und Frankreich. Die Bedeutung kleiner und mittlerer Unternehmen werde künftig wachsen.

Als ein nachahmenswertes Vorbild erwähnt Seligmann auch die in Deutschland üblichen Lohnersatzleistungen bei der Vereinbarung von „Kurzarbeit“. Sie wirkten als „automatischer Stabilisator“ der Nachfrage in Krisenzeiten.

Seligmann meint, bei der Einschätzung der Wirksamkeit der von der russischen Regierung beschlossenen Leistungen müsse gesehen werden, dass 15 bis 21 Prozent der Arbeitskräfte in Russland „informell“ beschäftigt seien. Sie seien nicht in einem festen Beschäftigungsverhältnis und hätten deswegen keinen Vorteil von den Verbesserungen von Sozialleistungen wie einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes.

Die Investitionen sinken 2020 stärker als der private Verbrauch

Der im Basisszenario angenommene Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 6 Prozent wird sich laut Weltbank im Jahr 2020 auf der Verwendungsseite des Brutttoinlandsprodukts in einem Rückgang des privaten Verbrauchs um 4,9 Prozent und der Bruttoanlageinvestitionen um 8 Prozent niederschlagen.

Apurva Sanghi, Chefvolkswirt für Russland der Weltbank, unterstrich im Interview mit Ria Novosti die hohe Unsicherheit aktueller Prognosen. Das Basisszenario gehe davon aus, dass die Erholung der Wirtschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 beginne. Aber es könne auch eine Rückkehr des Virus und einen längeren Lockdown geben. In diesem Fall werde sich die Erholung bis in die erste Hälfte des nächsten Jahres verzögern.

Die weitere Entwicklung der russischen Wirtschaft hänge zudem nicht nur von Maßnahmen der Regierung ab. Ebenso wichtig sei die Entwicklung außerhalb Russlands bei seinen wichtigsten Handelspartnern, der EU und China, und in der gesamten Welt.

Russland wird gut 2 Jahre brauchen, um den Rückschlag aufzuholen

Im Jahr 2021 wird sich die Erholung der Wirtschaft gegenüber 2020 zeigen. Der private Verbrauch wird dann laut Weltbank voraussichtlich um 3,3 Prozent zunehmen, die Investitionen um 3 Prozent. Ahnliche Wachstumsraten für Verbrauch und Investitionen werden 2022 erwartet. Die gesamtwirtschaftliche Produktion erholt sich laut Weltbank 2021 um 2,7 Prozent und 2022 um 3,1 Prozent. Damit wird ihr Rückgang im Jahr 2020 um 6 Prozent erst nach 2 Jahren fast aufgeholt sein.

Wachstum des Brutttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Ölpreise in US-$ pro Barrel

World Bank: Russia Economic Report, Page 63; 06.07.2020

Staatshaushalt und Leistungsbilanz rutschen 2020 ins Defizit

Tiefe Einbrüche wird es laut der Weltbank-Prognose durch die Corona-Krise (die mit einem Rückgang der Ölpreise verbunden ist) in der Entwicklung des Staatshaushalts und der Leistungsbilanz geben:

Der 2019 im staatlichen Gesamthaushalt erzielte Überschuss (+ 1,7 Prozent des BIP) verwandelt sich 2020 in ein beträchtliches Defizit (- 7,2 Prozent des BIP). Schon 2021 erwartet die Weltbank aber eine Verringerung des Defizits auf 1,6 Prozent und 2022 auf 0,5 Prozent.

Der 2019 verzeichnete hohe Leistungsbilanzüberschuss (5,5 Prozent des BIP; 94,2 Milliarden Dollar) wird 2020 von einem Defizit von 2,9 Prozent des BIP abgelöst. 2021 soll sich das Defizit in der Leistungsbilanz auf 1,0 Prozent des BIP verringern. 2022 soll sie ausgeglichen sein. Dabei geht die Weltbank davon aus, dass der Ölpreis steigt: von 32 Dollar/Barrel im Jahr 2020 auf 38 Dollar (2021) und 41 Dollar (2022).

Titelbild
Titelbild: Dmitriy Kandinskiy / Shutterstock.com
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Quellen und Lesetipps:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weltbank: Russia Economic Report #43: Russia: Recession and Growth under the Shadow of a Pandemic; Special Focus: Education; 06.07.2020

Weitere Berichte zu Armut und Einkommen

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte (monatlich, vierteljährlich, halbjährlich)

Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland

Verbraucherpreise im Juni