Auf den Spuren der deutschen Besatzer: Besuch im Donbass

Neue Eiszeit und eine Welt in Trümmern – Teil VII

Seit Beginn der neuen Eiszeit zwischen dem Westen und Russland stehen alle Menschen, die für Versöhnung und Verständigung zwischen Ost und West eintreten, vor einem Scherbenhaufen. In der siebten Folge dieser Essay-Serie erinnert sich unser Autor an seinen Besuch in der Donbass-Region – wo einst sein Großvater als Arzt der Wehrmacht ein Lazarett leitete. Eine Reise auf den Spuren einer schrecklichen Vergangenheit.

von Leo Ensel

Im Mai 2005 flog ich zum ersten Mal nach Kiew. Wie so oft war es das Goethe-Institut, das mich eingeladen hatte, ein interkulturelles Training, dieses Mal mit ukrainischen Deutschlehrerinnen durchzuführen. Da ich im Jahr zuvor intensiv zur Kriegsroute meines Großvaters recherchiert hatte, die ihn vom Juni 1941 bis Juli 1943 quer durch die Ukraine über den Donbass in den Kaukasus und dann auf die Tamanhalbinsel am Asowschen Meer führte, wollte ich die Gelegenheit unbedingt nutzen, auch in den Donbass zu fahren, wo mein Großvater von November 1941 bis Juli 1942 in den Städten Konstantinowka und Artemowsk (beide 80 Kilometer nördlich von Donezk) ein Armeelazarett geleitet hatte.

Mein sentimentaler Traum: Genau dort, wo mein Großvater im II. Weltkrieg als Soldat sein musste, interkulturelle Trainings durchzuführen und Menschen kennenzulernen, die mir bei den Recherchen vor Ort und beim Kontakteknüpfen mit Veteranen behilflich sein könnten. Mit Seminaren in den genannten Städten klappte es zwar nicht, weil das Goethe-Institut dort keine Partnerorganisationen hatte, dafür machte es das Kiewer Goethe-Institut aber möglich, dass ich Seminare in Donezk und Gorlowka (ukrainisch: Horliwka, 40 Kilometer südlich der beiden Städte) – wo mein Großvater ebenfalls zeitweise gewesen war – durchführen konnte. Ich vertraute fest auf das Prinzip „Ich kenn‘ jemand, der kennt jemand“, das im postsowjetischen Raum ja so gut funktioniert. Irgendwie würde ich über meine Seminare schon eine Person kennenlernen, die mich nach Artemowsk (heute wieder, wie bis 1924: Bachmut) und Konstantinowka (ukr.: Kostjantyniwka) bringen, vielleicht sogar aus einem der Orte stammen würde.

Kiew im Song-Contest-Fieber

Kiew im Mai. Überall blühten die Kastanienbäume, an den Straßenrändern verkauften die ukrainischen Babuschkas Flieder und Maiglöckchen, die Stadt war im “European Song Contest”-Fieber. Im Jahr zuvor hatte die Ukraine den Wettbewerb gewonnen, nun wurde er in Kiew ausgetragen. Auf dem Maidan, dem Kreschtschatik und dem Andreassteig herrschte ein buntes Durcheinander von Ständen mit Devotionalien der Orangen Revolution, Orden, ausrangierten Uniformen und anderen Militaria von Wehrmacht und Roter Armee – und einem Büchertisch mit sämtlichen Klassikern der antisemitischen Literatur, von den „Weisen von Zion“ bis zu Hitlers „Mein Kampf“ auf Russisch und Deutsch, gedruckt in Moskau.

Mein einwöchiges Seminar verlief wie im postsowjetischen Raum üblich. Die Germanistinnen waren hochmotiviert, die präsentierten Deutschlandbilder genau wie in Russland, Belarus und Kasachstan, die Arbeit machte uns allen großen Spass. Nahezu alle Teilnehmerinnen sympathisierten mit der Orangen Revolution, einige hatten sich an den Maidan-Demonstrationen ein halbes Jahr zuvor aktiv beteiligt, eine gewisse Ernüchterung war allerdings bereits spürbar.

Am Sonntag, den 22. Mai bestieg ich um 19 Uhr den Zug nach Donezk.

Donbass: Eine andere Welt

Als ich am nächsten Morgen um 7 Uhr 750 Kilometer weiter östlich in Donezk ankam, fand ich mich in einer anderen Welt wieder. Schon um diese Uhrzeit war es sehr heiß. Bereits auf dem weiten Weg ins Zentrum sah ich die ersten Терриконов, die großen Abraumhalden vom Kohleabbau, die mitten in der Stadt an vielen Orten anzutreffen sind und im Stadtbild wie in der ganzen Region charakteristische Akzente setzen. Donezk, 1,1 Millionen Einwohner, Hauptstadt des Donbass, dem Zentrum der Schwerindustrie in der Ostukraine und 150 Jahre jung. Keimzelle der Stadt war eine Siedlung um eine metallurgische Fabrik, die 1869 von dem Walliser John Hughes gegründet wurde – daher auch der russifizierte Name, den die Stadt bis zum Jahre 1924 trug: Jusowka. Zwischen 1924 und 1961, also auch zur Zeit der deutschen Besatzung, führte sie den Namen Stalino. Stadt und Umland, das wusste ich, hatten während des Krieges fürchterlich gelitten. Nach der Befreiung Anfang September 1943 waren im Gebiet Stalino Massengräber mit insgesamt über 300.000 Menschen – Zivilisten und sowjetischen Kriegsgefangenen – gefunden worden, die von den deutschen Besatzern erschossen, erhängt, im Gas erstickt oder lebendig die Förderschächte hinabgestoßen worden waren oder in den Lagern (vor allem sowjetische Kriegsgefangene) an Hunger, Kälte, Entkräftung und Seuchen gestorben waren. Wie überall hatten die Deutschen tausende Juden erschossen oder mit Gaswagen ermordet. Große Teile der jüngeren Bevölkerung waren als Zwangsarbeiter „ins Reich“ deportiert worden, der vor Ort verbliebene vorwiegend ältere Teil hungerte fast zwei Jahre lang, da die 17. Armee, die das Gebiet mit 250.000 Mann und 65.000 Pferden besetzt hielt, sich „aus dem Lande“ ernähren sollte, um die Lebensmittelversorgung „im Reich“ nicht zu belasten. Nach Ende der Kampfhandlungen war die Stadt fast vollständig zerstört.

Es war mein Geburtstag. Ich wurde 51 und es ging mir sehr ans Herz, als ich mir klarmachte, dass im Februar 1942 mein Großvater 80 Kilometer weiter nördlich in Konstantinowka unter gänzlich anderen Umständen ebenfalls 51 Jahre alt geworden war. Ich war einfach nur dankbar, dass ich niemals Krieg erleben und im Donbass nicht als Besatzer sein musste, sondern mich hier mit meinen Fähigkeiten nützlich machen konnte und vielleicht sogar mit den vielen Fotos meines Großvaters, die er in Konstatinowka und Artemowsk aufgenommen hatte, noch einen späten Beitrag zur Versöhnung mit den Menschen vor Ort leisten könnte.

Dr. Victor Becker (1891 – 1973), der Großvater des Autors.

Wir fuhren vorbei an einer neuerbauten orthodoxen Kirche, die breiten Straßen und großen Gebäude, viele von ihnen im Stalinstil der Fünfziger Jahre, waren überraschend gut in Schuss. Ich sah – womit ich gerade in dieser Gegend nicht gerechnet hatte – viele großzügig angelegte Grünanlagen, zwei große künstliche Seen, die das Stadtzentrum einrahmten, und meine Begleiterin klärte mich auf, dass Donezk nicht nur Stadt der Schwerindustrie, sondern auch die „Stadt der Millionen Rosen“ sei. Das erinnerte mich an Lipezk in der Schwarzerderegion: Kurort und ebenfalls Zentrum der Schwerindustrie – solch abenteuerliche Kombinationen gab es nur in der Sowjetunion! Nach einigen Tagen im Donbass konnte ich den Stolz der Donezker auf die „Millionen Rosen“, von denen man in der Tat viele im Stadtzentrum bewundern konnte, besser verstehen: Alles war in mühevoller Arbeit der Steppe abgerungen worden.

Die ehemalige Sowjetunion ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und nach meinem Seminar in Donezk hatte ich, wie erhofft, zwei Frauen gefunden, die mir weiterhelfen konnten: Marina wollte mit mir nach Artemowsk fahren und Lilija stammte sogar aus Konstantinowka! Dazu hatte man mir zum Geburtstag eine Flasche Krimsekt aus der Artemowsker Sektkellerei geschenkt. Bereits einen Tag später war ich in der Stadt, in der mein Großvater vom 19. Dezember 1941 bis zum 12. Januar 1942 ein Kriegslazarett geleitet hatte.

Die Mauer der Tränen

Hügelige Steppenlandschaft mit Terrikonen und Datschas auf der staubigen Strecke von Donezk über Gorlowka nach Artemowsk, einer Stadt, die aufgrund der nahegelegenen Gips- und Salzstollen lange vom Salzhandel gelebt hatte. Das Krankenhausgebäude, in dem mein Großvater gearbeitet hatte, war schnell gefunden. Aber im Heimatmuseum, wo ich der Leiterin eine CD mit Fotos übergab, die mein Großvater während der Besatzungszeit von der Stadt aufgenommen hatte, erlebte ich einen Schock. Ich sah ein Plakat mit folgendem Aufdruck in russischer Sprache:

                                        Mittwoch, den 07.01.1942

Aufruf an die Juden der Stadt Bachmut

  1. Aus Gründen einer isolierten Unterbringung haben sich alle Juden der Stadt Bachmut, Männer und Frauen aller Altersgruppen, am Freitag, dem 9. Januar um 8.00 Uhr morgens im Raum des ehemaligen Eisenbahn-NKWD-Gebäudes im Park einzufinden.
  2. Jede Person darf Gepäck bis zu 10 kg und auch Lebensmittelvorräte für acht Tage dabeihaben.
  3. Am oben erwähnten Sammelpunkt sind Wohnungsschlüssel mit Angaben des Namens und der Adresse (Straße und Hausnummer) des Wohnungsbesitzers abzugeben.
  4. Eintritt in leere jüdische Wohnungen und Mitnahme von irgendwelchen Gegenständen aus diesen Wohnungen durch Zivilisten ist als Plünderung anzusehen und wird mit dem Tode bestraft.
  5. Nichtbeachtung dieser Anordnung, insbesondere unpünktliches Erscheinen oder Abwesenheit am angegebenen Sammelort wird aufs Strengste bestraft.
  6. Juden, die irgendwo angestellt sind, haben zu kündigen.

Der Bürgermeister

Die Leiterin des Heimatmuseums erzählte mir den weiteren Verlauf der Ereignisse: Zwischen dem 9. und 12. Januar 1942 wurden circa 3.000 Juden aus der Stadt von Mitgliedern der Einsatzgruppe C unter logistischer Mithilfe der 17. Armee in einen Stollen eines ehemaligen Gips-Bergwerks nahe der Stadt verfrachtet und dort 50–70 Meter unter der Erde bei lebendigem Leibe eingemauert. Um die Aktion zu vertuschen, wurden die Wände des Stollens abgesprengt. Im September 1943, nach der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee, wurden nach einigem Suchen die Leichen entdeckt und geborgen. Da die Leichen aufgrund der ungewöhnlichen klimatischen Verhältnisse im Stollen (permanente Temperatur von +12°–14° sowie eine Luftfeuchtigkeit von 88–90 %) nicht verwest, sondern mumifiziert waren, konnte eine Reihe von ihnen identifiziert werden. Die Umstände der Ermordung der Artemowsker Juden waren nach dem Kriege Gegenstand der Nürnberger Prozesse.

9.-12. Januar 1942. Das war genau während der Zeit, als mein Großvater in Artemowsk das Kriegslazarett geleitet hatte. Schwer vorstellbar, dass er davon nichts mitbekommen hätte!

Aber die Geschichte geht noch weiter: Es stellte sich nämlich heraus, dass genau die klimatischen Bedingungen, die die Mumifizierung der Leichen bewirkt hatten, zugleich ideale Bedingungen für die Herstellung von Sekt sind. Im Jahre 1950 wurde daher in demselben Bergwerk eine Fabrik für den Krimsekt „Artemowskoje“ eingerichtet. Genau der Sekt, den man mir einen Tag zuvor zum Geburtstag geschenkt hatte!

Als ich drei Tage danach nochmals nach Artemowsk fuhr, besichtigte ich auch die Sektfabrik und ließ mich durch die tief unter der Erde gelegenen Salzstollen führen. Die Leiterin der Besichtigung erzählte von sich aus die gesamte Geschichte und führte uns auch zu dem entsprechenden Ort, zur „Mauer der Tränen“, aus der aus bislang ungeklärten Gründen immer wieder Wassertropfen hervorquillen. Dort hatte man eine kleine Gedenkstelle mit eingelassenen Skulpturen, Blumen und Leuchten eingerichtet, die entfernt an eine Seitenkapelle erinnert.

Skulpturen an der “Mauer der Tränen”.

Meinen spontanen Vorsatz, niemals wieder „Artemowskoje“ zu trinken, habe ich nicht eingehalten. Aber jedes Mal denke ich zuvor an die „Mauer der Tränen“.

„Erfrorene Füße sind erfrorene Füße!“

Es war mein vierter Tag im Donbass, als ich mit der Elektritschka vom Eisenbahnknotenpunkt Donezk-Makejewka in die Industriestadt Konstantinowka fuhr, wo mein Großvater fast ein halbes Jahr lang ein Armeelazarett geleitet hatte. Dieser Zeitraum war nicht nur durch seine Tagesnotizen, sondern auch mit über 50 Fotos gut dokumentiert, die neben dem Lazarettalltag auch die Stadt selbst und auch einige Frauen aus der lokalen Bevölkerung zeigten, die von den Deutschen für die Arbeit im Lazarett dienstverpflichtet worden waren. Diesmal wollte ich nicht nur Orte verifizieren, sondern mich vor allem mit Veteranen treffen, um von ihnen zu erfahren, wie sie die Zeit der deutschen Besatzung erlebt hatten. Lilija, die ich am Montag in Donezk kennengelernt hatte, hatte das typisch ‚sowjetische‘ Improvisationskunststück fertiggebracht, innerhalb kürzester Zeit in ihrer Heimatstadt alles zu organisieren.

Klopfenden Herzens betrat ich mit Lilija den kleinen Raum der Veteranen in der Stadtverwaltung von Konstantinowka. Dort saßen etwa zehn ältere Frauen, fast alle über 70 und ein sehr vitaler gleichaltriger Mann, die mich gespannt anschauten. Die Lokalzeitung hatte eine Journalistin geschickt, die eifrig mitschrieb. Ich erzählte den Menschen, dass ich ihnen guten Gewissens sagen könne, dass mein Großvater als bekennender Katholik – Lilija übersetzte „Katholiker“, was in meinen Ohren wie „Alkoholiker“ klang – und Leiter eines katholischen Krankenhauses kein Faschist war. Er ging dem Regime gegenüber soweit es ging auf Distanz und wurde einmal sogar von der Gestapo vorgeladen, weil er versucht hatte, seine jüdischen Ärztekollegen solange wie möglich am Krankenhaus zu halten. Nach dem Krieg hatte er mit viel Wärme über die Menschen in der Sowjetunion gesprochen und dabei auch zwei medizinische Mitarbeiterinnen aus Konstantinowka namentlich erwähnt.

Aber natürlich war er ein Okkupant – wenn auch ein Okkupant wider Willen. Auch er habe, wie alle deutschen Besatzer, ihnen das Essen weggegessen. Ich könne ihnen anhand seiner Tagesnotizen sogar noch sagen, was er Weihnachten 1941 im Donbass verspeist habe: Schweinebraten, „Pute und mächtige Weihnachtsstollen“! Ich fragte die Veteraninnen, was sie denn während der Okkupationszeit gegessen hätten. Die Alten schauten mich an wie ein Auto: „Was wir gegessen haben? – Gras und verfaulte Kartoffeln haben wir gegessen!“

Ich zeigte ihnen Fotos meines Großvaters aus den verschiedenen Phasen seines Lebens – und als wir beim Alter von 65, 70 Jahren angekommen waren, da ging auf einmal in den Gesichtern der Babuschkas die Sonne auf: „Was für ein sympathischer Mann!“

Natürlich erregten die Fotos von Konstantinowka während der Besatzungszeit größtes Interesse. „Das sind die ersten Fotos unserer Stadt aus der Zeit der Besatzung! Wir hatten bis jetzt keine!“ Ich wollte gerne einige Orte verifizieren und zeigte ihnen Fotos des Armeelazaretts. Die alten Menschen erkannten es sofort: „Наша, наша, наша!! Наша хирургия!“ („Unsere Chirurgie!“). Die deutschen Besatzer hatten sich mit ihrem Lazarett in der Chirurgie des Städtischen Krankenhauses einquartiert. Alle fingen sofort an zu rätseln, wer wohl die abgebildeten lokalen medizinischen Mitarbeiterinnen meines Großvaters gewesen sein könnten. Als es an die Fotos vom Lazarettalltag ging, warnte ich die Veteraninnen: „Ich kann Ihnen die Fotos zeigen. Darunter sind auch Fotos von erfrorenen Füßen. Aber ich muss Ihnen sagen, dass dies natürlich Fotos von erfrorenen Füßen der deutschen Besatzer sind! Wollen Sie sie dennoch sehen?“ – Die Antwort der ukrainischen Babuschkas aus dem Donbass: „Erfrorene Füße sind erfrorene Füße!“ Ich hätte sie küssen können.

Es war wie immer: Von Hass keine Spur! Dafür die Erleichterung, ja fast Dankbarkeit, dass sich endlich, endlich mal jemand aus dem Land der Besatzer für ihre Erfahrungen interessierte! Immer wieder wurde betont, die deutschen Ärzte im Krankenhaus hätten auch Menschen aus der lokalen Bevölkerung behandelt. Ich schenkte den Veteranen zum Abschied eine CD mit allen Fotos. Sie verabschiedeten mich mit viel Wärme und überreichten mir im Gegenzug das Gedenkbuch für die Opfer ihres Oblasts (Regierungsbezirks).

Mein Besuch hatte ein Echo in der Lokalpresse. Der Artikel der Journalistin enthielt einen Aufruf an die alten Menschen, Erfahrungsberichte aus der Okkupationszeit zu verfassen und an die Lokalzeitung zu senden. Einige Wochen später erschienen, illustriert mit Fotos meines Großvaters vom Besatzungsalltag in Konstantinowka, mehrere Berichte, von denen ich drei auszugsweise zitiere.

22 Monate Hunger, Erniedrigungen und Angst

In den ersten Kriegsjahren ist mein Mann an die Front gegangen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Dieser Verlust und 22 lange Monate der Besatzung – das war das Schrecklichste in meinem Leben. Die Fenster unseres Hauses gingen auf die zentrale Straße, die Krasnaja. Ich habe gesehen, wie durch diese Straße fast jeden Tag Leute getrieben wurden. Zuerst waren das unsere Kriegsgefangenen: ins KZ oder zum Erschießen. Später wurden die Arbeiter und die Jugend zum Bahnhof getrieben, wo auf sie die Güterwaggons nach Deutschland warteten. Wer aus der Reihe herauslief, wurde an Ort und Stelle erschossen. Bis jetzt höre ich noch das schauerliche Geschrei einer Frau in meinen Ohren, deren Bruder vor ihren Augen erschossen wurde.

Um nicht „Ostarbeiter“ zu werden, kratzte ich mir und den Kindern Füße und Beine auf und rieb sie danach mit Knoblauch ein, damit sie anschwollen. So haben das damals viele gemacht: Die Deutschen glaubten, es sei eine Infektion und schickten diese Leute nicht zur Deportation.

Nicht weit von uns befand sich die Gestapo. Es gab keinen Tag, an dem nicht eine Person dorthin zur Vernehmung geführt wurde. Nur sehr wenige kamen von dort wieder heraus. Es sei denn, dass sie in den gedeckten Planwagen außerhalb der Stadt zum Erschießen hinausgefahren wurden. Dieses Los traf auch sehr viele Arbeiter unserer Glasfabrik. Ich wohnte ständig in Angst und wartete, dass ich einmal abgeholt würde.

Am 5. September 1943 war in der Stadt ein Gerücht im Umlauf, dass die Deutschen alle Bewohner unserer Siedlung in der Schule Nr. 27 zu einer Versammlung sammeln würden, um sie in Wirklichkeit zu erschießen. Wir verbargen uns mit unserer Tochter und dem Sohn im Keller. Ich erinnere mich nicht, wie lange wir hier gesessen haben. Bei jedem Geräusch von draußen horchte ich auf. Und plötzlich hörte ich, dass jemand Russisch spricht. Aus den Gesprächsfetzen verstand ich, dass das es unsere Soldaten waren. Ich war so froh, dass ich die Kinder verließ und zu ihnen nach draußen herauslief. Aber plötzlich begann ein Feuergefecht und eines der Geschosse explodierte einige Meter von mir entfernt …

Ich kam zur Besinnung im Lazarett, aber schon nicht mehr im deutschen. Erst einige Jahre später konnte ich mich auf die Füße stellen. So war mein letzter Tag der Besatzung. Die Erinnerungen an diese Ereignisse lassen mich noch bis jetzt nachts nicht einschlafen. Und an etwas Gutes kann ich mich nicht erinnern.

A.F. Borodawkina

Im weißen Kittel

Bis zum Anfang des Krieges arbeitete ich als Operationskrankenschwester im 1. Stadtkrankenhaus. Dann kam die Front, wo wir Krankenschwestern, gezwungen waren, mit dem Tod zusammenzustoßen.

Das waren die schrecklichsten Jahre meines Lebens. Dass ich das Essen den Kranken reichte und dabei selbst hungrig blieb, ist nebensächlich. Ich gewöhnte mich daran, nach dem nächsten Angriff die Haufen von Leibern aufzugraben, um unter ihnen noch lebendige Soldaten zu finden. Viel schwieriger war es, das Leben der Menschen zu retten. Leider konnte vielen nicht geholfen werden. Noch mehr Menschen blieben nach der Verwundung Invaliden. Bis jetzt erinnere ich mich an den Gesichtsausdruck eines Frontoffiziers, nachdem ihm gesagt wurde, dass er bis an sein Lebensende blind bleiben werde. Ich beruhigte ihn und schwamm in Tränen; dabei stellte ich mir vor, dass meine Verwandten irgendwo auch so leiden!

Nachdem ich über den Sieg erfahren hatte, freute ich mich über diese Nachricht wie ein Kind. Ich kehrte in meine Heimatstadt zurück und bekam einen Schreck: Fast ganz Konstantinowka lag nach der deutschen Okkupation in Ruinen. Sehr viele Gebäude waren zerstört, die Fabriken in die Luft gesprengt, die Maschinen demontiert und gestohlen. Aber die Leute bauten die Stadt mit Enthusiasmus wieder auf.

Unser Krankenhaus (Gebiet des heutigen Zentralen Bezirkskrankenhauses) war nicht mehr wiederzuerkennen: Die Vorhalle war verunstaltet, Betten und Nachttische zerschlagen, in den Krankenzimmern gab es Kramhaufen, die Wände waren mit deutschen Schimpfwörtern vollgeschrieben.

Man hat mir erzählt, dass die Deutschen hier ihr Lazarett hatten. Aber hier arbeiteten auch hiesige Frauen. Hier konnte man Arzneimittel für unsere Kriegsgefangenen und Partisanen bekommen, ihnen mit Kleidung und Nahrung helfen. Viele Krankenschwestern und Ärzte waren Mitglieder der Patriotischen Gruppe von medizinischen Arbeitern, die in der Stadt von der Traumatologin Marija Schuleschowa geleitet wurde. Sie förderten die Flucht von Kriegsgefangenen, versteckten sie und die Eingekesselten, versorgten sie mit Hilfe von Untergrundarbeitern mit Dokumenten und setzten sie in ungefährliche Orte hinüber.

Nadeshda Laserko

Sie hatten auch Kinder

Ich war damals drei Jahre alt. Ich erinnere mich selbst nicht, aber mein älterer Bruder hat mir folgendes erzählt: Unsere Mutter ließ uns für lange Wochen allein und ging in die Dörfer, um Kleidung gegen Essen zu tauschen. Einmal gab es im Hause kein Brot und kein Zwieback mehr und die Mutter war noch nicht zurückgekehrt. Wir aßen schon drei Tage lang nichts, ich weinte ständig und mein Bruder konnte es nicht mehr ertragen. Da führte er mich an den Zaun des deutschen Lazaretts, das sich in der Schule Nr. 1 befand. Zu Hause erschrak er: Er kehrte zurück – aber ich war nicht mehr da! Bis zum Abend stand er vor dem Zaum, er wurde vertrieben und versteckte sich in der Hoffnung, dass ich irgendwo in der Nähe umherschlendern und mich sehen lasse würde. Sonst würde die Mutter ihn „töten“!

Als es zu dämmern begann, öffnete sich die Zauntür und ein Deutscher kam mit einem Laib Brot in den Händen und führte mich hinaus. Der Saum meines Hemdchens war vollgestopft mit Gebäck und Bonbons. Dem Bruder wurde befohlen, mich morgen wieder hinzuführen. Soviel er verstanden hat, hat es den im Lazarett behandelten Fritzen gefallen, mit dem aufgedunsenen Kind, das rosafarbige Wangen hatte, zu spielen – viele von ihnen hatten doch zu Hause auch Kinder.

Später tauchte bei mir noch ein „Freund“ auf – aus der Brotwarenfabrik gegenüber dem Lazarett. Er hieß Paul und immer wenn er durch das Fenster mich sah, hatte er für uns ein Viertel und manchmal die Hälfte eines heißen Brotes. Ich selbst kann mich schon daran erinnern. Besonders als Paul einmal nicht hinauskam. Wir standen mit dem Bruder und warteten. Plötzlich wurde „unser“ Deutscher in Handschellen hinausgeführt und man begann ihn in das gedeckte Fahrzeug hineinzustoßen. Ich lief zu ihm und er rief: „Lebe wohl, Edward!“ Das Fahrzeug fuhr weg. Und ich fiel auf den Weg hin und weinte lange.

E. Kondratjew

Nachtrag

Während der ganzen Woche meines damaligen Aufenhalts im Donbass habe ich keinen einzigen Menschen getroffen, der für die Orange Revolution gewesen wäre. Alle zeigten sich deutlich reserviert gegenüber die „Kiewern“ und den Menschen im Westen des Landes. Und es schwangen, deutlich vernehmbar, Kränkungen mit:„Die haben uns während der Wahlkämpfe Быдло (Hornochsen) genannt!“ Mir wurde klar, dass eine ganze Region hier völlig anders ‚tickt‘ – am ehesten vielleicht vergleichbar mit den Bayern in Deutschland.

Gorlowka gehört jetzt zur selbsternannten „Donezker Volksrepublik“ (DNR). Konstantinowka war zeitweise von den Rebellen besetzt, wurde aber im Sommer 2014 von Truppen der Kiewer Zentralgewalt zurückerobert. Artemowsk heißt seit 2016 wieder Bachmut und ist jetzt ein Vorposten der ukrainischen Armee. Die Eisenbahnlinie Donezk-Konstantinowka wurde gekappt. Eine Busfahrt, die mehrere Grenzposten passieren muss, dauert jetzt acht Stunden.

Aufnahmen aus dem Donbass von Dr. Victor Becker (1891 – 1973), dem Großvater des Autors. Auf die Bilder klicken, um sie zu vergrößern.

Aufnahmen aus dem Donbass von Dr. Victor Becker (1891 – 1973), dem Großvater des Autors. Auf die Bilder klicken, um sie zu vergrößern.

Titelbild
Titelbild: Konstantinowka, Brücke über den Kriwoj Torez (April 1942). Fotos: Dr. Victor Becker (1891 – 1973)

Dieser Text erschien zuerst bei RT Deutsch.

Über diese Serie:
Seit dem Ausbruch der erneuten Spannungen zwischen dem Westen und Russland stehen diejenigen, deren Lebensthema ein gutes Verhältnis zwischen Ost und West ist, vor einem Scherbenhaufen. Unser Autor reflektiert in acht Essays Russlandbilder und Begegnungen mit Menschen im postsowjetischen Raum quer durch ein Leben. Hier geht es zu Teil 1, 2, 3, 4, 5 und 6.