Zivilgesellschaft in Russland und Europa

Seminar „Russland als Teil Europas“ in Berlin – Tag 4

Welche Werte einen Russland und Europa? 50 Russen und Deutsche suchen bei einem viertägigen Seminar des Deutsch-Russischen Forums Antworten. Ostexperte.de ist mit dabei. (Lesen Sie hier von Tag 1Tag 2 und Tag 3.)

Auf dem großen Bildschirm hinter Aleksej Lewinson stehen viele Fragen. Haben wir eine Zivilgesellschaft? Wenn nein, brauchen wir eine? Wenn ja, wie können wir eine bekommen? Es ist der letzte Tag des Seminars “Russland als Teil Europas”, der russische Meinungsforscher vom unabhängigen Lewada-Zentrum spricht über die russische Zivilgesellschaft. Das Thema sei soziologisch nicht geklärt: Manche behaupteten, sie floriere, andere das Gegenteil, manche meinten, sie gab es mal, andere bestreiteten das, wieder andere sagten, die Zivilgesellschaft in Russland würde kommen.

Doch seine persönliche These: Sie gibt es nicht mehr, 70 Jahre Sowjet-Repression hätten jegliches bürgerliches Engagement vernichtet, davon habe sich die Gesellschaft nicht wieder erholt. Zwar hätten die Leute in Russland durchaus Interesse, sich zu engagieren, aber öffentlich sichtbar sein wolle kaum einer.

Dies sei aber von elementarer Bedeutung, wie Lewinsons Gesprächspartner, CDU-Politiker Jörg Heckmann, einwarf: “Vereine sind der Kitt der Gesellschaft.” 31 Millionen Menschen würden sich in Deutschland ehrenamtlich engagieren.

Helden des Alltags – Bürgerengagement in Russland

Lewinson erklärte, welche Formen von Bürgerengagement es in Russland immerhin gebe: Einerseits Interessensgruppen wie die der Angehörigen von Kriegsopfern, Witwen oder Betrogenen im Immobiliengeschäft. Solche Verbände würden aus einer gemeinsamen Not entstehen.

Dann gebe es Freiwillige, die etwa Brände löschen, bei Hochwasser helfen oder Vermisste suchen. Solche Verbände seien zwar lose organisiert, aber durchs Internet gut vernetzt. Sie erledigten die Aufgaben des Staates teilweise besser als dieser selbst. Deswegen versuche die Regierung, sich diese Gruppen einzuverleiben, sie zwar finanziell zu unterstützen aber gleichzeitig zu kontrollieren.

Politische Vereine, die sich nicht mit der Regierungsagenda decken, würden als Ausländische Agenten eingestuft. Generell spüre man stets den Atem des Staates.

“Ist das ganze nicht auch eine ökonomische Frage? Wer sich engagieren will, braucht ja erst einmal die Zeit und das Geld dazu”, wollte jemand aus dem Publikum wissen.  Lewinson verneinte. Es sei aus seiner Sicht eine Frage der Mentalität: Die Menschen kämen gar nicht auf die Idee, dass sie bestimmte Dinge selbst in die Hand nehmen könnten. Da würde auf einen Spielplatz im Viertel eher jahrelang gewartet, als gemeinsam aktiv zu werden. Man zahle ja steuern, also solle sich der Staat drum kümmern.

Abschluss-Statements: “Ich fühle mich als Teil Europas”

Doch bei dieser demoralisierenden Erkenntnis wollte es Lewinson nicht belassen und lobte die Engagierten im Saal, die Flüchtlingshelferin Swetlana Gannuschkina, die am zweiten Tag gesprochen hatte, und die Mitinitiatorin Elena Nemirowskaja. “Das sind natürlich alles Helden. Wir müssen allerdings zur einer Gesellschaft aus Helden kommen.”

Zum Abschluss durfte jeder der Teilnehmer ein Statement vortragen. “Es ist so schön, hier Gleichgesinnte getroffen zu haben. Das ist das beste Mittel, um nicht in innere Emigration zu verfallen”, sagte ein Repräsentant der sibirischen Stadt Tomsk.

“Ich werde viele Gedanken mitnehmen und zuhause hoffentlich in die Praxis umsetzen”, sagte eine Teilnehmerin aus Irkutsk am Baikalsee. Sie war zum ersten Mal in Europa.

Ein Professor aus St. Petersburg äußerte sich ernüchtert: “Während wir hier sitzen, wird Russland weiter zu einem geschlossenem Land.”

Doch die am meisten erhebenden Worte fand ein Teilnehmer aus der Stadt Chabarowsk nahe der chinesischen Grenze: “Ich bin der östlichste Teilnehmer hier. Dank dieser Veranstaltung fühle ich mich als Teil Europas.”

Titelbild
Titelbild: Kunstprojekt-Baum aus Vogelhäusern vor einer Fassade in Perm am Ural. Quelle: Evgeny Haritonov / Shutterstock.com
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