Eine Zwischenbilanz der Folgen des Ukraine-Krieges und der Sanktionen für die russische Wirtschaft zum Jahreswechsel 2023/2024.
Die Produktion der russischen Wirtschaft hat sich seit dem Beginn des Ukraine-Krieges viel besser entwickelt als vor zwei Jahren erwartet wurde. Trotzdem kämpft auch die Wirtschaft mit den Folgen des Krieges. Wie viel Wachstum hat Russland durch den Krieg und die westlichen Sanktionen tatsächlich verloren?
Der Anstieg der Verbraucherpreise hat sich unter dem Einfluss der starken Abwertung des Rubels im ersten Kriegsjahr 2022 zwar auf 13,8 Prozent beschleunigt. 2023 verteuerte sich die Lebenshaltung im Vorjahresvergleich aber nur noch um 5,9 Prozent.
Wie sich der Staatshaushalt der Russischen Föderation angesichts der starken Erhöhung der Rüstungsausgaben entwickelte, hat das Forschungsinstitut BOFIT der finnischen Zentralbank jetzt näher analysiert. Nach Angaben des russischen Finanzministeriums sank das Budget-Defizit 2023 auf 1,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 2024 soll sich die Defizitquote laut der Haushaltsplanung auf 0,9 Prozent des BIP halbieren. Das hält BOFIT jedoch für unrealistisch.
Wie viel Wachstum hat Russland durch Krieg und Sanktionen verloren?
Um die Produktionseinbußen der russischen Wirtschaft durch den Ukraine-Krieg und die Sanktionen zu veranschaulichen, hat Laura Solanko, „Senior Advisor“ des Forschungsinstituts BOFIT der finnischen Zentralbank, Ende Dezember zwei „Jahrgänge“ von IWF-Prognosen verglichen. Sie stellte den „Vorkriegs-Prognosen“ des IWF für die Entwicklung des russischen Bruttoinlandsprodukts vom Oktober 2021 (blaue Linie in der folgenden Abbildung) die jüngsten Prognosen des IWF vom Oktober 2023 (rote Linie) gegenüber. Der rote Pfeil in der Abbildung signalisiert, dass Russlands reales Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2023 laut den IWF-Prognosen vom Oktober 2023 rund 4 Prozent niedriger gewesen ist als laut den IWF-Prognosen vom Oktober 2021 zu erwarten gewesen wäre.
Zwei Jahrgänge von IWF-Prognosen für Russlands BIP
Entwicklung des Indexes des realen Bruttoinlandsprodukts (2010=100)
laut den IWF-Prognosen vom Oktober 2021 und vom Oktober 2023
Laura Solanko: Why did initial estimates get Russian economic performance so wrong? 20.12.23
Am 30. Januar wird der IWF seinen „World Economic Outlook“ aktualisieren. Er dürfte dann berücksichtigen, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2022 nach Angaben des russischen Statistikamtes Rosstat vom Jahresende nicht um 2,1 Prozent, sondern nur um 1,2 Prozent gesunken ist (RBC.ru). Außerdem wird er wahrscheinlich seine bisherige Prognose für das im Jahr 2023 von der russischen Wirtschaft erreichte Wachstum von 2,2 Prozent auf nahe 3 Prozent anheben, ähnlich wie die Weltbank und die Vereinten Nationen, die Anfang Januar Russlands Wachstum im Jahr 2023 auf 2,6 Prozent bzw. 2,7 Prozent schätzten. Der „Wachstumsverlust“ der russischen Wirtschaft durch den Ukraine-Krieg und die Sanktionen dürfte dann nicht mehr bei 4 Prozent, sondern bei 2 bis 3 Prozent liegen.
Das Bruttoinlandsprodukt stieg seit Kriegsbeginn um jährlich rund 1 Prozent
Nach Schätzung von Wirtschaftsminister Reschetnikow ist die gesamtwirtschaftliche Produktion im letzten Jahr sogar um 3,5 Prozent gewachsen. Der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022, der laut der dritten Schätzung des Statistikamtes Rosstat nur 1,2 Prozent betrug, ist damit also bereits um gut 2 Prozentpunkte überboten. Im Durchschnitt der beiden Kriegsjahre 2022 und 2023 stieg Russlands Bruttoinlandsprodukt trotz der westlichen Sanktionen damit um rund 1 Prozent pro Jahr.
Führende deutsche und österreichische Konjunkturforschungsinstitute haben jetzt auf die Bedeutung der Rüstungsausgaben für die rasche Erholung der russischen Wirtschaft hingewiesen. In einem vom Münchner ifo Institut und dem „Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche“ veröffentlichten „ECONPOL Policy Report“ heißt es, die Wirtschaft habe sich aufgrund der Stärke der Inlandsnachfrage erholt. Die inländische Nachfrage sei wiederum zu einem großen Teil durch „kriegsbedingte fiskalische Anreize“, also die erhöhten Rüstungsausgaben, angetrieben worden.
Zur Frage der Dauerhaftigkeit dieses von hohen Rüstungsausgaben getriebenen Wachstums meinen die Institute in der Zusammenfassung ihres Berichts, da kein Ende des Krieges in der Ukraine in Sicht sei, werde der aktuelle Produktionsanstieg der russischen Wirtschaft „wahrscheinlich noch einige Zeit“ anhalten, obwohl die Wirtschaft unter einem zunehmenden Mangel an Arbeitskräften leide und aufgrund der westlichen Sanktionen technologisch zurückfalle. Gleichzeitig betonen die Institute: Je länger der Krieg dauert, desto abhängiger wird die russische Wirtschaft von den Rüstungsausgaben. Damit steige das Risiko, dass sie stagniere und sogar in eine „regelrechte Krise“ stürze, sobald der Krieg beendet werde.
Anhaltend hoher Inflationsdruck nach Abwertung des Rubels
Die Konjunkturforschungsinstitute rücken in der Zusammenfassung ihres „ECONPOL Policy Report“ die inflationstreibende Wirkung der Rubel-Abwertung in den Blickpunkt. Sie argumentieren:
Russlands Warenexporte sanken 2023 (Trading Economics Chart). Das gegen russische Ölexporte verhängte Einfuhrembargo verstärkte den Rückgang der Ölpreise. Russland verlor in der EU einen großen Teil seines historisch wichtigsten Absatzmarktes für Erdgas.
Gleichzeitig stiegen Russlands Wareneinfuhren (Chart), weil sich die russische Wirtschaft fortschreitend erholte. Außerdem wurden neue Wege zur Umgehung von sanktionsbedingten Einfuhrbeschränkungen gefunden.
Diese deutliche Wende im Außenhandel (Handelsbilanz-Chart) hat 2023 den Rubel unter starken Abwertungsdruck gebracht (Chart).
Als Reaktion auf den Kursverlust des Rubels und den zunehmenden Inflationsdruck hat die Zentralbank ihren Leitzins erhöht (Chart).
Die Institute schreiben In ihrem bereits im Oktober 2023 redaktionell abgeschlossenen Bericht weiterhin: Diese Maßnahmen konnten den Wechselkurs vorerst erfolgreich stabilisieren. Aufgrund der Weitergabe der bisherigen Abwertung auf die Verbraucherpreise wird der Inflationsdruck in den kommenden Monaten aber hoch bleiben.
Die Kriegswirtschaft zwingt zu hohen Zinsen
In einem Gespräch mit Thomas Baier im Podcast „Zaren, Daten, Fakten“ der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer sieht auch Professor Dr. Rolf J. Langhammer, früherer Vizepräsident des Kiel Institut für Weltwirtschaft, in der Inflationsentwicklung ein zentrales Problem der russischen Wirtschaft (ab Minute 18).
Die russische Regierung, so Langhammer, nenne in ihren Verlautbarungen nicht die Kriegssituation als Risikofaktor für die russische Wirtschaft, sondern die drei folgenden Faktoren:
- Erstens die flaue Nachfrage der Weltwirtschaft.
- Zweitens die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt: Die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte sei zu gering und ihre Qualifikationen entsprächen nicht dem Bedarf. Deswegen sinke die Produktivität.
- Drittens die restriktive Geldpolitik zur Bekämpfung der Inflation. Wegen der hohen Zinsen würden Investitionen unterbleiben.
Langhammer stellt heraus, dass die Abwertung des Rubels zu einem Inflationsschub in Russland geführt habe. Es sei bekannt, dass es zwischen dem russischen Finanzministerium und der Zentralbank „durchaus auch Meinungsverschiedenheiten“ gegeben habe, wie man mit dem Inflationsproblem, das für die russischen Verbraucher „absolut spürbar“ sei, umgehen sollte.
Während Langhammer in der EU die Chance sieht, dass die Geldpolitik wieder expansiver werden kann, erwartet er dies für Russland „zur Zeit“ nicht. Eine Lockerung sei einfach deswegen nicht zu erwarten, weil es in Russland eine „Kriegswirtschaft“ gebe, die an die Grenzen der Produktionskapazitäten der russischen Wirtschaft gehe.
Wie sich der Anstieg der Verbraucherpreise in Russland entwickelt hat
Die folgende Trading Economics-Abbildung zeigt:
Der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem jeweiligen Vorjahresmonat hat sich in Russland von 2,3 Prozent im April 2023 auf 7,5 Prozent im November 2023 beschleunigt. Im Dezember 2023 sank die jährliche Inflationsrate geringfügig auf 7,4 Prozent.
Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent
Trading Economics: Russia Inflation Rate
Nach Angaben von Rosstat verteuerte sich die Lebenshaltung im Jahresdurchschnitt 2023 aber nur noch um 5,9 Prozent, nachdem sich der Anstieg der Verbraucherpreise im Jahresdurchschnitt 2022 unter dem Einfluss der starken Abwertung des Rubels auf 13,8 Prozent beschleunigt hatte.
Zum Vergleich: In Deutschland betrug der Anstieg der Verbraucherpreise nach Mitteilung des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2023 ebenfalls 5,9 Prozent. 2022 hatte er 6,9 Prozent betragen. Im Verlauf des Jahres 2023 sank die jährliche Inflationsrate in Deutschland von 8,7 Prozent im Januar auf 3,7 Prozent im Dezember.
BOFIT: Die „Verteidigungsausgaben“ werden von 2021 bis 2024 fast verdreifacht
Wie stark die Rüstungsausgaben der Russischen Föderation im Zeitraum 2021 bis 2024 ausgeweitet werden, analysierte BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, in seinem Wochenbericht „BOFIT Weekly“. BOFIT stellt zur geplanten Entwicklung der Ausgaben im föderalen Haushalt im Jahr 2024 fest:
Russlands Ausgaben für Verteidigung (Defence) sind 2024 mit 10,4 Billionen Rubel (etwa 120 Milliarden Dollar) die größte Ausgabenkategorie im Bundeshaushalt. Sie machen rund 28 % der gesamten Ausgaben aus. Weitere kriegsbedingte Ausgaben sind in anderen Ausgabenkategorien enthalten, zum Beispiel in den Ausgaben für „Nationale Sicherheit“, die in diesem Jahr insgesamt 9 % der Haushaltsausgaben ausmachen.
Die zweitgrößte Ausgabenkategorie nach den Verteidigungsausgaben sind in diesem Jahr die Sozialausgaben (rund 21 % der gesamten Bundeshaushaltsausgaben).
Die diesjährigen Verteidigungsausgaben sind fast drei Mal so hoch wie im Jahr 2021, während die Ausgaben für die Wirtschaftsförderung („Economy“) 2024 etwas geringer sein sollen als im Jahr 2021.
Ausgaben im Föderationshaushalt für Verteidigung, Nationale Sicherheit, Soziales, Wirtschaft sowie Bildung und Gesundheit in Billionen Rubel 2021 und 2024
BOFIT Weekly: Russia plans further increases in government spending despite deficits. 19.01.24
2024 soll das föderale Defizit auf rund 1 Prozent des BIP halbiert werden
Lauf BOFIT werden die im Bundeshaushalt für 2024 vorgesehenen Ausgaben rund 13 % über den geschätzten Ausgaben im Jahr 2023 liegen (rote Linie in der folgenden Abbildung).
Die 2024 vorgesehenen Einnahmen werden die geschätzten Einnahmen des Jahres 2023 noch stärker um rund 20 % übertreffen (blaue Linie). Die Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich sollen laut der Haushaltsplanung um 30 % und die anderen Einnahmequellen um 16 % steigen.
Russlands föderaler Haushalt 2018 bis 2025
Saldo, Einnahmen und Ausgaben in Billionen Rubel
2024B, 2025B, 2026B: beschlossene 3jährige Haushaltsplanung – BOFIT Weekly: Russia plans further increases in government spending despite deficits, 19.01.24
Das Defizit im Bundeshaushalt soll laut der Haushaltsplanung 2024 auf rund 1,6 Billionen Rubel verringert werden (blaue Säulen, Saldo von Einnahmen und Ausgaben).
Das Finanzministerium schätzt, dass dieses Defizit 0,9 Prozent des BIP entsprechen wird. Es soll damit etwa halbiert werden (ausführlicher Bericht: Finam.ru; Olga Belenkaya).
BOFIT: Der für 2025 geplante Rückgang der Ausgaben ist unrealistisch
Russlands Haushaltsplanung für 2025 sieht ein Defizit von lediglich 830 Milliarden Rubel vor. Die Defizitquote soll auf 0,4 % des BIP sinken. Dazu meint BOFIT, diese Planung basiere auf einer Kürzung der nominalen Ausgaben um etwa 6 %. Der Rückgang der Ausgaben hätte erhebliche negative Auswirkungen auf das BIP-Wachstum. Daher erscheine eine derart starke Ausgabenkürzung derzeit „unrealistisch“.
2024 kurbelt der Anstieg der Haushaltsausgaben das BIP-Wachstum weiter an
2024 erwartet BOFIT bei einer Inflationsrate von voraussichtlich rund 5 Prozent und nominal rund 13 Prozent höheren Ausgaben auch real eine starke Steigerung der Ausgaben. BOFIT geht davon aus, dass das Wachstum der Haushaltsausgaben den Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion 2024 weiter ankurbelt. Der Verbrauch des öffentlichen Sektors habe 2023 etwa 20 % des Bruttoinlandsprodukts ausgemacht. Ein erheblicher Teil der Anlageinvestitionen sei ebenfalls aus dem Bundeshaushalt finanziert worden.
Rückblick auf 2023: Die Ausgaben stiegen mit starken Schwankungen um 4 Prozent
Im Jahr 2023 stiegen die Ausgaben im Bundeshaushalt, so BOFIT, nach vorläufiger Schätzung des russischen Finanzministeriums auf 32,4 Billionen Rubel (380 Milliarden Dollar). Der Anstieg gegenüber dem Vorjahr 2022 betrug insgesamt nur 4 %. BOFIT stellt heraus: Die Ausgaben sind am Jahreswechsel 2022/2023 und im Herbst 2023 besonders kräftig gestiegen (rote Linie in der folgenden Abbildung).
Entwicklung des föderalen Haushaltes 2018 bis 2023
Saldo, Einnahmen, Öl- und Gaseinnahmen, Ausgaben in Billionen Rubel
(gleitende 3-Monatssumme, saisonbereinigt)
BOFIT Weekly: Russia plans further increases in government spending despite deficits, 19.01.24
Die Einnahmen stiegen 2023 etwas stärker als die Ausgaben um rund 5 Prozent
Die gesamten Einnahmen des Bundeshaushalts stiegen im Jahr 2023 nach Schätzung des russischen Finanzministeriums gegenüber dem Vorjahr um rund 5 %. Sie beliefen sich auf 29,1 Billionen Rubel (340 Milliarden Dollar). Dabei sanken die Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich 2023 jedoch um fast ein Viertel (- rund 24 %). Laut dem Finanzministerium war der durchschnittliche Exportpreis für Urals-Rohöl 2023 mit rund 63 Dollar pro Barrel rund 17 Prozent niedriger als 2022 (76 Dollar pro Barrel). Die Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich machten 2023 mit 8,8 Billionen Rubel noch rund 30 % der gesamten Einnahmen des Bundeshaushalts aus.
Die übrigen Einnahmen des Bundeshaushalts wuchsen 2023 um 25 %. Die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer stiegen um 22 %, die Einnahmen aus der Körperschaftssteuer um 15 %.
Das föderale Defizit sank 2023 geringfügig auf knapp 2 Prozent des BIP
Das Haushaltsdefizit des Bundes betrug im vergangenen Jahr rund 3,2 Billionen Rubel (37 Milliarden Dollar). Es war rund 2 Prozent niedriger als im Vorjahr. Nach Angaben des Finanzministeriums entsprach es 1,9 Prozent des BIP (Finam.ru; Olga Belenkaya).
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann: