Russland-Analysten erwarten 2024 nur 1,3 Prozent Wachstum bei mehr Inflation

2023 wird die russische Wirtschaft um „mindestens 3,5 Prozent“ wachsen. Das erklärte Präsident Putin in der letzten Woche beim Wirtschaftsforum „Russia Calling“ (Video; Redetext; Bericht von 1Prime.ru). Damit würde das diesjährige Wirtschaftswachstum deutlich höher sein als die Regierung in ihrer Haushaltsplanung im September mit 2,8 Prozent veranschlagt hat.

Bei einer Konjunktur-Umfrage, die die russische Zentralbank in der ersten Dezember-Woche zur Vorbereitung ihrer Leitzinsentscheidung am 15. Dezember durchführte, stieg der Mittelwert der Wachstumsschätzungen der 27 Umfrage-Teilnehmer für 2023 im Vergleich mit der letzten Umfrage im Oktober zwar auch kräftig an. Die Analysten erwarten in diesem Jahr mit 3,1 Prozent aber merklich weniger Wachstum als Präsident Wladimir Putin.

Für das nächste Jahr prognostizieren die Analysten, dass sich der gesamtwirtschaftliche Produktionsanstieg auf nur noch 1,3 Prozent halbiert. Gleichzeitig gehen sie davon aus, dass das Inflationstempo im Jahresdurchschnitt von 6,0 Prozent im Jahr 2023 auf 7,0 Prozent im nächsten Jahr steigt. Dabei erwarten die Analysten einen Anstieg des Leitzinses auf 14 Prozent im Jahresdurchschnitt.

Die BIP-Prognose für 2023 ist deutlich gestiegen, für 2024 etwas gesunken

Bei der letzten Umfrage vor dem Leitzinsentscheid Ende Oktober war der Mittelwert der Analysten-Prognosen für das Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2023 bereits von 2,2 Prozent auf 2,5 Prozent gestiegen. Jetzt erhöhte er sich deutlich weiter um 0,6 Prozentpunkte auf 3,1 Prozent. Der Mittelwert der Wachstumsprognosen für das nächste Jahr sank aber gleichzeitig im Vergleich mit der Oktober-Umfrage um 0,2 Prozentpunkte auf 1,3 Prozent.

 

Ergebnisse der Zentralbank-Umfrage von Anfang Dezember 2023:

Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts und der Arbeitslosenquote

(Ergebnisse der Umfrage von Mitte Oktober in Klammern)

Russische Zentralbank: Macroeconomic survey of the CBR, 06.12.2023

Hinsichtlich der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt rechnen die Analysten jetzt für die Jahre 2023 bis 2026 mit noch niedrigeren Arbeitslosenquoten als bisher. Sie gehen davon aus, dass die nicht-saisonbereinigte Arbeitslosenquote im Dezember 2023 nur noch 3,0 Prozent beträgt. Auch Ende 2024 werde sie noch so niedrig sein, obwohl sich das Wirtschaftswachstum im Jahr 2024 mehr als halbiert und nur noch 1,3 Prozent erreicht (siehe auch aktuelle Analyse zum Arbeitsmarkt von Re:Russia).

Zur Einschätzung der Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion bis 2026 in der Umfrage veröffentlichte die Zentralbank folgende Abbildung. Die Punkte auf den Linien zeigen, welche Mittelwerte (Mediane) sich für das Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts in den letzten drei Analysten-Umfragen im September, im Oktober und jetzt Anfang Dezember 2023 ergaben.

Reales Bruttoinlandsprodukt

Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent

Russische Zentralbank: Macroeconomic survey of the CBR, 07.12.2023

 

Für das Jahr 2023 zeigt die Abbildung: Der Mittelwert der Wachstumsprognosen stieg von 2,2 Prozent in der September-Umfrage (unterer hellgrauer Punkt) auf 2,5 Prozent in der Oktober-Umfrage (mittlerer dunkelgrauer Punkt) und auf 3,1 Prozent in der Dezember-Umfrage (oberer schwarzer Punkt).

2024 erwarten die Analysten wie die Zentralbank deutlich weniger Wachstum

Die Wachstumsprognosen für 2023 und 2024 in der jüngsten Zentralbank-Umfrage entsprechen fast genau den Ergebnissen der Anfang Dezember veröffentlichten Reuters-Umfrage (2023: + 3,1 Prozent; 2024: + 1,2 Prozent).

Die Zentralbank selbst plant in diesem Jahr keine weitere Aktualisierung ihrer bei der letzten Leitzinsentscheidung Ende Oktober veröffentlichten Prognose. Sie rechnet darin für das Jahr 2023 mit einem Wirtschaftswachstum von 2,2 bis 2,7 Prozent. Die Analysten erwarten in diesem Jahr jetzt also ein höheres Wachstum (+ 3,1 Prozent) als die Zentralbank Ende Oktober. Für das nächste Jahr prognostiziert die Zentralbank einen Rückgang des Wachstums auf 0,5 bis 1,5 Prozent. Diese Spanne deckt das Ergebnis der jüngsten Analysten-Umfrage für 2024 (+ 1,3 Prozent) ab.

Der Wirtschaftsminister schätzt das diesjährige Wachstum auf 3,5 Prozent

Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow meinte beim Investment-Forum „Russia Calling“, er schätze derzeit, dass die russische Wirtschaft 2023 um 3,5 Prozent wachse. Die offizielle Prognose der Regierung werde aber wie vorgesehen erst im Frühjahr aktualisiert werden (1Prime.ru).

An die Spitze der folgenden Liste der Wachstumsprognosen für 2023 rückte am Freitag das Forschungsinstitut der staatlichen Wneschekonombank (Bank für Außenwirtschaft). Es hob in einer neuen Schätzung seine Ende-Oktober veröffentlichte Wachstumsprognose von 2,9 Prozent auf 3,6 Prozent an. Die aktuelle Konjunkturlage sei deutlich besser als erwartet, schreibt das VEB-Institut. Investitionen und Verbrauch seien im dritten Quartal 2023 stark gestiegen. In der Industrie gebe es ein starkes Wachstum im Verarbeitenden Gewerbe. Die real verfügbaren Einkommen würden 2023 bei einem starken Anstieg der Löhne schnell steigen. Die Arbeitslosigkeit sei auf einen historischen Tiefstand gesunken.

BIP-Prognosen für Russland 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

 

Die russische Regierung geht In ihrer Ende September veröffentlichten Haushaltsplanung davon aus, dass das diesjährige Wachstum der Wirtschaft von 2,8 Prozent im nächsten Jahr nur auf 2,3 Prozent abnimmt. Die meisten anderen Prognosen erwarten für 2024 nur ein gut halb so starkes Wachstum wie die Haushaltsplanung der Regierung.

Preisentwicklung: Nur die Prognose für die Inflationsrate Ende 2023 ist gestiegen

Zur Inflationsentwicklung befragt die Zentralbank in ihrer Umfrage die Analysten zum einen nach ihrer Einschätzung, wie hoch der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise im Dezember sein wird. Zum anderen erfasst die Zentralbank-Umfrage aber auch die Erwartungen, wie stark die Verbraucherpreise im Jahresdurchschnitt im Vergleich zum Vorjahr steigen.

Bei der jüngsten Umfrage erwarten die Analysten, dass die Verbraucherpreise im Dezember 2023 um 7,6 Prozent höher sein werden als im Dezember 2022. Dieser Preisanstieg liegt etwas über der Spanne der Inflationsprognose der Zentralbank von Ende Oktober (7,0 bis 7.5 Prozent). Mitte Oktober hatten die Analysten für das Jahresende 2023 noch einen niedrigeren Preisanstieg von 7,0 Prozent erwartet (siehe folgende Abbildung).

Anstieg der Verbraucherpreise
Dezember gegenüber Dezember des Vorjahres in Prozent

Russische Zentralbank: Macroeconomic survey of the CBR, 07.12.2023

 Die Prognosen der Analysten für die Inflationsraten im Dezember der Jahre 2024 bis 2026 haben sich bei der jüngsten Umfrage nicht verändert. Die Analysten erwarten weiterhin, dass die Inflationsrate im Dezember 2024 auf 5,1 Prozent sinkt und im Dezember 2025 die von der russischen Zentralbank angestrebte Inflationsrate von 4,0 Prozent erreicht.

Im November 2023 erreichte die jährliche Inflationsrate bereits 7,5 Prozent

Im April 2023 war der jährliche Anstieg der Verbraucherpreis auf 2,2 Prozent gesunken. Seither steigt die Inflationsrate ununterbrochen. Im November 2023 beschleunigte sich der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise laut Rosstat auf 7,5 Prozent.

 

Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent

Trading Economics: Russian Inflation Rises to 9-Month High, 08.12.23

Zur Beschleunigung des Anstiegs der Verbraucherpreise im Verlauf des Jahres 2023 meinten Analysten von Goldman Sachs Mitte November laut einem Bericht von FocusEconmics, dass der wichtigste Treiber für das derzeitige signifikante Wachstum der russischen Wirtschaft die „lockere Fiskalpolitik“ sei. Goldman Sachs sei – wie die russische Zentralbank – der Ansicht, dass der Produktionsanstieg der russischen Wirtschaft ihr Wachstumspotenzial übersteige. Diese „Überforderung“ sei die Haupt-Ursache für den starken Inflationsdruck – nicht die Abschwächung des Rubels.

Im Jahresdurchschnitt 2024 beschleunigt sich die Inflationsrate von 6 auf 7 Prozent

Im Jahresvergleich 2023 gegenüber 2022 wird die Inflationsrate nach Einschätzung der Teilnehmer der Zentralbank-Umfrage zwar auf 6,0 Prozent sinken. Im Jahr 2024 dürfte sich die Inflationsrate laut der Umfrage aber auf 7,0 Prozent erhöhen.

 

Ergebnisse der Zentralbank-Umfrage von Anfang Dezember 2023
zur Entwicklung der Verbraucherpreise und des Leitzinses

(Ergebnisse der Umfrage von Mitte Oktober in Klammern)

Russische Zentralbank: Macroeconomic survey of the CBR, 06.12.2023

 

Der Leitzins steigt im Jahresdurchschnitt 2024 auf 14 Prozent

Angesichts der Erwartung, dass die Verbraucherpreise im Jahresdurchschnitt 2024 stärker steigen, als bisher erwartet wurde, rechnen die Analysten im nächsten Jahr auch mit höheren Leitzinsen als bisher. Im Jahresdurchschnitt 2024 erwarten sie jetzt einen Leitzins von 14 Prozent. Er wäre damit gut 4 Prozentpunkte höher als 2023 (9,9 Prozent).

 

 

Ergebnisse der Dezember-Umfrage der Zentralbank im Überblick (Auszug)

Russische Zentralbank: Macroeconomic survey of the CBR, 06.12.2023

 

Das starke Wachstum der Reallöhne bricht 2024 von 6,6 auf 1,8 Prozent ein

Die Nominallöhne (siehe vorletzte Zeile der Tabelle) werden im Jahr 2023 laut der jüngsten Analysten-Umfrage stärker steigen (+ 13,0 Prozent) als in der Oktober-Umfrage erwartet wurde (12,3 Prozent). Real werden die Löhne 2023 um 6,6 Prozent zunehmen, so Berechnungen der Zentralbank auf der Basis der Umfrageergebnisse.

Im nächsten Jahr dürfte sich der Anstieg der Nominallöhne aber auf 9,2 Prozent verlangsamen. Die Reallöhne werden laut den Berechnungen der Zentralbank nur noch um 1,8 wachsen.

Das gestiegene Haushaltsdefizit halbiert sich bis 2026 auf 1 Prozent des BIP

2023 rechnen die Analysten mit einem Anstieg des Haushaltsdefizits des Gesamtstaates von 1,4 auf 2,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

In den nächsten Jahren erwarten sie einen langsamen Rückgang des Defizits. Bis 2026 dürfte es sich laut der Umfrage auf 1 Prozent halbieren.

Wladislaw Inosemzew: Zur Inflationsbekämpfung sollte der Rubel gestärkt werden

Zu den Perspektiven der Inflationsentwicklung in Russland äußerte sich Anfang Dezember auch Wladislaw Inosemzew, ein in westlichen Medien häufig zitierter Kritiker der russischen Regierung. Der Ökonom hat in Moskau als Bankmanager und Universitätsprofessor gearbeitet. Er ist in Washington am „Middle East Media Research Institute, MEMRI“ als „Special Advisor“ für das „Russian Media Studies Project“ tätig. Laut dem Zentrum Liberale Moderne lebt er in den USA. In einem MEMRI-Brief analysiert er die Frage: „Can The Inflation Increase In Russia Affect Its Social ‘Stability?“.

Wladislaw Inosemzew kritisiert, die russische Regierung scheine sich bei der Inflationsbekämpfung nur auf die Geldpolitik der Zentralbank zu verlassen. Die Entwicklung im Jahr 2022 zeige aber, dass die Preisentwicklung viel stärker auf die Wechselkursentwicklung reagiere als auf die Geldpolitik der Zentralbank.

Er fordert deswegen: Wenn die Regierung es ernst meine mit dem Kampf gegen die Inflation, sollte sie für eine Aufwertung des Rubels gegenüber dem US-Dollar sorgen. Nachdem Präsident Putin am 11.Oktober angeordnet habe, dass russische Exporteure ihre Devisenerlöse in Rubel umtauschen müssen, habe der Rubel um rund 12 Prozent aufgewertet (siehe Trading Economics-Chart). Inosemzew meint, die staatlichen Auflagen zum Umtausch von Devisenerlösen in Rubel sollten verschärft werden.

Zur Frage, ob die Maßnahmen der russischen Regierung zur Dämpfung des Preisanstiegs erfolgreich sein können, meint er, die Inflationsrate könne sinken, wenn die Regierung den Rubel „stark“ hält, den Wechselkurs vielleicht sogar näher an die Marke von 80 Rubel je Dollar herunterdrückt. Inosemzew rät von weiteren Zinserhöhungen ab. Die Preise der staatlichen Monopol-Unternehmen sollten nicht in Form einer „Indexierung“ in periodischen Abständen an die Kostenentwicklung angepasst werden können.

Die Inflation könnte steigen, sie gefährdet die „Soziale Stabilität“ aber nicht 

Inosemzew vermisst jedoch die notwendige Entschlossenheit der Regierung, alle verfügbaren Mittel im „Kampf gegen die Inflation“ zu nutzen. Er erwartet deswegen für 2024, dass die Inflationsrate sogar höher als 2023 sein könnte. Gleichzeitig rechnet er aber damit, dass der Anstieg der Nominallöhne so hoch sein könnte, dass die real verfügbaren Einkommen trotz der Inflation steigen.

Die Möglichkeit, dass der Anstieg der Inflationsrate die „gesellschaftliche Stabilität“ in Russland gefährden und zu öffentlichen Unruhen im Wahljahr 2024 führen könnte, schließt Inosemzew aus. Derzeit sei die Inflation viel zu gering, um als ein „game-changer“ betrachtet werden zu können. Um zu einem „politischen Phänomen“ zu werden, müsste die Inflationsrate mindestens auf 25 bis 30 Prozent steigen. Inosemzew erwartet, dass die Bevölkerung die derzeitigen Probleme tolerieren wird und die Regierung ihre Politik unverändert fortsetzen kann.

Weitere aktuelle Veröffentlichungen Inosemzews

Eine ausführliche Analyse Inosemzews zu den Perspektiven der russischen Wirtschaft angesichts des Ukraine-Krieges veröffentlichte am 5. Dezember das führende außenpolitische Institut Frankreichs, das staatliche „Ifri – Institut français des relations internationales“ in seiner Zeitschrift „Politique étrangère“: War in Ukraine: How Does the Russian Economy Stand?, bisher nur in Französisch: Guerre d’Ukraine: où en est l’économie russe? Download: PDF).

Business Insider berichtet, wie negativ Inosemzew die Entwicklungsmöglichkeiten der russischen Wirtschaft bis 2030 in dieser Analyse sieht (Deutsch bei Yahoo-Finanzen):

„Nach Schätzungen von Inosemzew kann das russische Bruttoinlandsprodukt bis zum Ende des Jahrzehnts um zehn bis 15 Prozent schrumpfen. Bis dahin gehe die Bevölkerung um bis zu sechs Millionen Menschen zurück. Auch Russlands Währung werde wieder unter Druck gerate. Der Rubel könne weitere 50 Prozent an Wert verlieren, so Inosemzew.“

In der Zeitschrift „Internationale Politik“ der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ erschien Ende Oktober sein Artikel „Eine neue Russland-Strategie für den Westen. Die USA und Europa müssen sich auf ein dauerhaft aggressives Moskau einstellen. Es gilt, die Ukraine in EU und NATO zu holen.”

 

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen hier als PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
railway fx / Shutterstock.com