Russische Wirtschaft: Die OECD erwartet nur halb so viel Wachstum wie die Regierung

Einen Monat vor Jahresschluss ist immer noch sehr umstritten, wie stark die russische Wirtschaft wächst. Nur bei einer Sache sind sich die Beobachter einig: das Wirtschaftswachstum dürfte schwächer ausfallen, als von der Regierung prognostiziert.  

Einerseits ist bei der monatlichen Reuters-Umfrage die durchschnittliche Wachstumsprognose der Analysten für 2023 sprunghaft von 2,5 Prozent auf 3,1 Prozent gestiegen. Andererseits erwartet die Pariser „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD) in ihrem viel beachteten Weltwirtschaftsausblick in diesem Jahr für Russland nur ein Wachstum von 1,3 Prozent. Das ist nur knapp halb so viel wie die russische Regierung in ihrer Haushaltsplanung im September für das diesjährige Wachstum angesetzt hat (+ 2,8 Prozent).

Beim Blick auf das nächste Jahr sind sich aber fast alle Beobachter einig, dass sich das Wachstum der russischen Wirtschaft stärker abschwächen dürfte als die Regierung annimmt. Die Regierung geht davon aus, dass der Produktionsanstieg 2024 nur von 2,8 auf 2,3 Prozent sinkt. Die von Reuters befragten Banken und Institut erwarten hingegen, dass das Wirtschaftswachstum nach der diesjährigen unerwartet raschen Erholung (+ 3,1 Prozent) im nächsten Jahr auf nur noch 1,2 Prozent abflaut. Diese „moderate“ Wachstumserwartung der Analysten für 2024 deckt sich fast mit der Prognose der OECD, die davon ausgeht, dass die russische Wirtschaft auch im nächsten Jahr nur halb so stark wächst (+ 1,1 Prozent) wie die Regierung erwartet (+ 2,3 Prozent).

Rating-Agentur ACRA: Nach rascher Erholung flaut das Wachstum 2024 stark ab

Fast alle Beobachter haben im Verlauf des Herbstes ihre Prognosen für das Tempo der diesjährigen Erholung der russischen Wirtschaft weiter heraufgesetzt. Auch die OECD hob in der letzten Woche in ihrem „Economic Outlook“ ihre Mitte September veröffentlichte Wachstumsprognose für 2023 weiter an – aber nur um 0,5 Prozentpunkte auf 1,3 Prozent.

Die Moskauer Rating-Agentur ACRA prognostiziert hingegen jetzt ein reichlich doppelt so starkes Wachstum um 3,0 bis 3,2 Prozent für dieses Jahr. Damit wäre der Produktionsrückgang im Jahr 2022 um 2,1 Prozent mehr als ausgeglichen. Allerdings rechnet ACRA damit, dass nach dieser raschen Erholung das Wachstumstempo im nächsten Jahr stark abflaut. Mit lediglich +0,5 bis +1,3 Prozent erwartet ACRA für 2024 einen Produktionsanstieg, der noch etwas schwächer sein könnte als die OECD im nächsten Jahr erwartet (+ 1,1 Prozent).

BIP-Prognosen für Russland 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Andrey Klepach erwartet 2024 eine Halbierung des Wachstums

Eine so starke Abschwächung des Wirtschaftswachstums wie die Rating-Agentur ACRA erwartet Andrey Klepach im nächsten Jahr nicht. Der Chef-Volkswirt der staatlichen Bank für Außenwirtschaft („Wneschekonombank“) meinte Mitte November bei einem Wirtschaftsforum in Jekaterinburg zwar auch, dass Russlands Wirtschaftswachstum im ablaufenden Jahr 3,2 bis 3,3 Prozent erreichen könne. Im nächsten Jahr wird sich der Produktionsanstieg nach Schätzung Klepachs aber „nur“ auf 1,6 bis 1,8 Prozent abschwächen (Interfax.com). Die Wachstumsprognose der Regierung für 2024 (+ 2,3 Prozent) hält auch der VEB-Chefvolkswirt für zu optimistisch.

ACRA-Prognosen im Vergleich mit den Prognosen von Regierung und Zentralbank

RBC.ru hat die Wachstumsprognosen der Rating-Agentur ACRA für die Jahre 2023 bis 2025 in der folgenden Abbildung mit den Prognosen des russischen Wirtschaftsministeriums und den Prognosen der Zentralbank vom 27.10. verglichen. Deutliche Unterschiede ergeben sich vor allem bei den Wachstumsprognosen für 2024 und 2025. Das Wirtschaftsministerium prognostizierte für die nächsten beiden Jahre ein Wirtschaftswachstum von jeweils 2,3 Prozent. ACRA und die Zentralbank rechnen 2024 und 2025 mit erheblich weniger Wachstum.

Prognosen zur Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts bis 2025

Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

RBC.ru: ACRA predicted a slowdown in Russian economic growth by more than half, 28.11.23

Die ACRA-Prognosen für das Wachstum im Jahr 2024 (+ 0,5 bis + 1,3 Prozent) und im Jahr 2025 (+1 Prozent bis + 2 Prozent) decken sich fast völlig mit den Ende Oktober veröffentlichten Prognosen der Zentralbank. Die Differenz der Prognosen von ACRA und Zentralbank für das Jahr 2023 könnte sich noch verringern, wenn die Zentralbank ihre Wachstumsprognose anhebt. Laut TASS erklärte bei einer Wirtschaftskonferenz aber Alexander Morozov, Direktor der Abteilung „Research und Prognosen“ der Zentralbank, dass die Zentralbank ihre Prognose in diesem Jahr nicht mehr ändern werde, auch wenn die von Rosstat veröffentlichten Daten für das Wachstum im dritten Quartal besser als erwartet seien.

ACRA: Die ausgelasteten Produktionskapazitäten begrenzen das Wachstum

Die Rating-Agentur ACRA verweist zur Begründung des voraussichtlichen Rückgangs der Wachstumsrate auf die hohe Auslastung der verfügbaren Produktionskapazitäten. Die verstärkte staatliche Nachfrage in den Jahren 2022 und 2023 habe dazu beigetragen, dass die Auslastung jetzt nahe den Rekordwerten liege. Das Wachstum der russischen Wirtschaft werde somit von der „Angebotsseite“ begrenzt.

Zur hohen Auslastung der Produktionskapazitäten der russischen Industrie und zur Knappheit von verfügbaren Arbeitskräften veröffentlichte das Wirtschaftsmagazin „The Bell“ am Freitag in einer Analyse des Wandels der  russischen Wirtschaft zu einer „Kriegswirtschaft“ zwei Abbildungen.

Die Auslastungsquote der Produktionskapazität der Industrie ist nach Angaben der Zentralbank vom dritten Quartal 2022 von 78,8 Prozent bis zum zweiten Quartal 2023 auf 80,9 Prozent gestiegen und erreichte damit einen Rekordstand. Im dritten Quartal 2023 sank die Auslastung geringfügig auf 80,7 Prozent.

Auslastung der Produktionskapazität der Industrie in Prozent

The Bell: 7 graphs explaining Russia’s wartime economy

Arbeitskräfte sind knapp, die Arbeitslosenquote auf einem Tiefstand

Zur Knappheit von Arbeitskräften veröffentlichte „The Bell“ folgende Abbildung. Sie zeigt die Entwicklung der Zahl der nachgefragten Arbeitsplätze (Summe von Beschäftigten und Arbeitslosen; rote Linie) und die Zahl der angebotenen Arbeitsplätze (blaue Linie). Die Zahl der angebotenen Arbeitsplätze hat sich seit dem Frühjahr 2022, als die Erholung der russischen Konjunktur begann, viel schneller erhöht als die Zahl der nachgefragten Arbeitsplätze. Laut „The Bell“ sank die Differenz zwischen der Zahl der nachgefragten Arbeitsplätze und der Zahl der angebotenen Arbeitsplätze im Oktober 2023 auf 230.000. Im Jahresdurchschnitt 2022 hatte diese „Beschäftigungslücke“ noch 1,2 Millionen und im Jahresdurchschnitt 2021 noch 1,6 Millionen betragen.

Zahl der nachgefragten und der angebotenen Arbeitsplätze, in Millionen

The Bell: 7 graphs explaining Russia’s wartime economy

Die Arbeitslosenquote ist laut Rosstat im Oktober auf einen neuen Tiefstand gesunken (2,9 Prozent). Gleichzeitig liegt die Zahl der Beschäftigten nahe bei ihrem Höchststand und auf eine freie Stelle entfallen laut Olga Belenkaya so wenig Arbeitslose wie nie zuvor.

Weitere ACRA-Prognosen für 2023

ACRA erwartet, dass die Anlageinvestitionen in diesem Jahr mit einem Anstieg von 4,6 bis 6,1 Prozent mindestens so stark steigen wie 2022.

Die Industrieproduktion wird 2023 ähnlich stark wie das Bruttoinlandsprodukt um 3 bis 3,5 Prozent zunehmen.

ACRA Rating: Charting a Course. Russian Economy on a Three-Year Horizon, PDF, 28.11.23

Wegen überhitzter Erholung steigen die Zinsen und bremsen das Wachstum

Olga Belenkaya, Chef-Volkswirtin des Finanzunternehmens FINAM, stimmt der Konjunkturprognose der ACRA weitgehend zu. Sie zieht aus ihrer Analyse der Rosstat-Konjunkturdaten für Oktober den Schluss, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt in Jahr 2023 um mindestens 3 Prozent wachsen dürfte.

Auch Belenkaya sieht mit Verweis auf die Knappheit an Arbeitskräften und die Inflationsentwicklung aber eine zunehmende „Überhitzung“ der Wirtschaft. Die Anlageinvestitionen seien zwar stark gestiegen. Sie würden die Produktionskapazitäten aber nur allmählich im Verlauf der nächsten Jahre erweitern.

Die Analystin meint, es sei zunehmend wahrscheinlich, dass die Zentralbank am 15. Dezember den Leitzins weiter erhöht. In der Woche vom 21. bis 27.November sei der  jährliche Anstieg der Verbraucherpreise auf 7,54 Prozent gestiegen und habe damit die obere Grenze der Inflationsprognose der Zentralbank für Dezember 2023 (7 bis 7,5 Prozent) überschritten. Die straffe Geldpolitik und die begrenzten Produktionsmöglichkeiten werden nach ihrer Einschätzung im nächsten Jahr sehr wahrscheinlich zu einem deutlichen Rückgang des Wirtschaftswachstums auf nur noch 1,0 bis 1,3 Prozent führen.

Diese Prognose deckt sich mit der durchschnittlichen Wachstumserwartung der Analysten bei der Reuters-Umfrage für 2024 (+ 1,2 Prozent).  Auch fast alle der von Reuters befragten 17 Analysten gehen von einer weiteren Erhöhung des Leitzinses im Dezember aus, die das Wachstum der Wirtschaft bremsen dürfte. Die meisten Teilnehmer an der Umfrage rechnen mit einem Anstieg des Leitzinses von 15 auf 16 Prozent, zwei erwarten eine Erhöhung auf 17 Prozent. Nur ein Teilnehmer meint, der Leitzins werde beibehalten.

Wirtschaftsministerium: Das BIP stieg im Oktober auch gegenüber September

Erste Berechnungen des russischen Wirtschaftsministeriums zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Oktober zeigen laut Kommersant folgende Ergebnisse:

Im Oktober 2023 war das Bruttoinlandsprodukt um 5,0 Prozent höher als im Oktober 2022 und um 1,8 Prozent höher als vor zwei Jahren im Oktober 2021.

Gegenüber dem Vormonat September wuchs die Wirtschaft im Oktober saisonbereinigt um 0,3 Prozent (September gegenüber August: + 0,5 Prozent)

In den ersten zehn Monaten 2023 stieg das BIP im Vorjahresvergleich um 3,2 Prozent. Im Vergleich zu den ersten zehn Monaten des Jahres 2021 war es 1,1 Prozent höher.

Im Vergleich Januar bis Oktober 2023 gegenüber Januar bis Oktober 2022 ergaben sich für wichtige Branchen folgende Veränderungsraten:

realer Einzelhandelsumsatz:        +5,5 %

realer Dienstleistungsumsatz:      +4,3 %

Industrieproduktion:                    +3,5 %

Agrarproduktion:                         +1,9 %

Warentransport:                         – 0,8 %

Wohngebäudefertigstellung:        – 1,8 %

Im Oktober sank das BIP gegenüber September

Auch das Forschungsinstitut der Wneschekonombank hat in seinem Wochenbericht Schätzungen zur  Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Oktober veröffentlicht. Sie weichen von den Schätzungen des Wirtschaftsministeriums ab.

Laut den Schätzungen des VEB-Instituts ist das reale Bruttoinlandsprodukt im Oktober gegenüber September saison- und kalenderbereinigt nicht gestiegen, sondern um 0,1 Prozent gesunken. Zuvor war es sieben Monate in Folge gestiegen.

Im Vorjahresvergleich zum Oktober 2022 war das BIP im Oktober laut VEB-Institut um 5,6 Prozent höher.

Index des Bruttoinlandsprodukts,
saison- und kalenderberinigt (Jan. 2014 = 100)

Schätzung des VEB-Instituts

VEB-Institute: World Economy and Markets Review, 01.12.23

Im Vergleich zum Vormonat September gesunken ist die Produktion im Oktober laut VEB-Institut im Verarbeitenden Gewerbe, im Baugewerbe und in der Landwirtschaft. Gestiegen ist Produktion im Bergbau und im Bereich „Energie- und Wasserversorgung“.

Zuwächse gab es auch im Groß- und Einzelhandel, im Gastgewerbe, bei den kostenpflichtigen Dienstleistungen und im Personen- und Güterverkehr.

Die folgende Abbildung zeigt den Rückgang der saison- und kalenderbereinigten Produktion im Verarbeitenden Gewerbe (obere, dunkelgrüne Linie: Oktober/September: – 0,9 Prozent).

Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (untere hellgrüne Linie) stieg im Oktober gegenüber September um 0,3 Prozent.

Insgesamt sank die Industrieproduktion (mittlere schwarze Linie) im Oktober gegenüber September um 0,2 Prozent.

Indizes der Industrieproduktion, saison- und kalenderbereinigt, Jan. 2014 = 100

schwarze Linie: Industrie insgesamt, hellgrüne Linie: Bergbau/Förderung von Rohstoffen, dunkelgrüne Linie: Verarbeitendes Gewerbe

VEB-Institute: World Economy and Markets Review, 01.12.23

Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ hat anders als die Produkton im „Verarbeitenden Gewerbe“ ihr „Vorkrisen-Niveau“ bisher noch nicht wieder erreicht.

Beim privaten Verbrauch hat der Einzelhandel immer noch „Aufholbedarf“

Vom privaten Verbrauch kamen im Oktober Wachstumsimpulse. Das zeigt die folgende Abbildung des VEB-Instituts zur saison- und kalenderbereinigten Entwicklung des realen Umsatzes im Einzelhandel und im Bereich der Dienstleistungen vor dem Hintergrund der Entwicklung der Reallöhne.

Indizes der Reallöhne und der realen Umsätze im Einzelhandel und mit Dienstleistungen; saison- und kalenderbereinigt, Jan. 2014 = 100

VEB-Institute: World Economy and Markets Review, 01.12.23

Der reale Einzelhandelsumsatz stieg im Oktober gegenüber September zwar um 1,0 Prozent (untere schwarze Linie). Im Vergleich zum Vorjahresmonat war er 12,7 Prozent höher. Er ist aber immer noch niedriger als Anfang 2022.

Im Dienstleistungsbereich stieg der reale Umsatz im Oktober gegenüber September um 0,7 Prozent. Hier wurde das Niveau des Vorjahresmonats um 5,1 Prozent übertroffen. Der reale Umsatz mit Dienstleistungen ist im Jahr 2022 viel schwächer als der Einzelhandelsumsatz eingebrochen. Sein Vorkrisen-Niveau vom Jahresanfang 2022 hat der Umsatz im Dienstleistungsbereich bereits gegen Ende 2022 wieder erreicht.

Hintergrund für die Umsatzentwicklung im Bereich des privaten Verbrauchs ist die Entwicklung der Reallöhne (obere graue Linie). Sie waren im September 7,2 Prozent höher als im September 2022. Gegenüber dem Vormonat August sanken die Reallöhne nach Schätzung des VEB-Instituts im September um 0,9 Prozent.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

 

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