Deutsche Institute erwarten 2024 nur noch 1 Prozent Wachstum in Russland

Die fünf führenden deutschen Konjunkturforschungsinstitute hoben in ihrer im Auftrag der Bundesregierung erstellten „Gemeinschaftsdiagnose“ ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft stark an. Das Konjunktur-Gutachten des IfW Kiel, des ifo Instituts München, des Essener RWI, des IWH Halle und des DIW Berlin wurde in der letzten Woche veröffentlicht. Die Institute gehen jetzt von einem Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts in Russland um 2 Prozent im Jahr 2023 aus.

In Deutschland erwarten die Institute in diesem Jahr hingegen einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 0,6 Prozent. Damit revidieren sie ihre vor einem halben Jahr veröffentlichte „Frühjahrsprognose“ für die Produktion der deutschen Wirtschaft kräftig um 0,9 Prozentpunkte nach unten.

Im nächsten Jahr wird sich das Wachstum der russischen Wirtschaft nach Einschätzung der Institute jedoch auf 1,0 Prozent halbieren. Dann wird die deutsche Wirtschaft laut der „Gemeinschaftsdiagnose“ mit 1,3 Prozent etwas stärker wachsen als die russische.

Russland-Prognose für 2023 um 3 Prozentpunkte angehoben

Vor einem halben Jahr hatten die deutschen Institute in Russland für das Jahr 2023 noch einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,0 Prozent erwartet. Sie heben ihre Prognose für das russische Bruttoinlandsprodukt jetzt also um 3 Prozentpunkte an. Kräftig geirrt haben sich aber nicht nur die deutschen Institute. Ähnlich stark revidierten im September unter anderem die Londoner Entwicklungsbank EBRD, die Pariser OECD, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank BOFIT und die Mailänder Großbank UniCredit ihre Russland-Prognosen nach oben.

Eine Überraschung war die starke Aufwärtskorrektur der Russland-Prognose in der Gemeinschaftsdiagnose nicht. Das IfW, das ifo Institut, das RWI und das IWH hatten bereits in ihren Anfang September veröffentlichten individuellen „Herbstprognosen“ mit einem diesjährigen Wachstum der russischen Wirtschaft um jeweils rund 2 Prozent gerechnet. Nur das DIW Berlin prognostizierte eine annähernde Stagnation (+ 0,2 Prozent, siehe Ostexperte.de).

Die deutschen Institute stimmen den Wachstumsprognosen der Zentralbank zu

Die neue Wachstumsprognose der Gemeinschaftsdiagnose von 2 Prozent liegt in der Mitte der Prognose-Spanne von 1,5 bis 2,5 Prozent, die von der russischen Zentralbank Mitte September veröffentlicht wurde. Die Prognosen des russischen Wirtschaftsministeriums zur sozioökonomischen Entwicklung, die der Haushaltsplanung dienen, gehen hingegen davon aus, dass die russische Wirtschaft 2023 noch merklich stärker um 2,8 Prozent wächst.

Auch die Erwartung der „Gemeinschaftsdiagnose“, dass sich das Wachstum der russischen Wirtschaft im nächsten Jahr auf 1,0 Prozent abschwächen dürfte, wird von der Prognose der Zentralbank abgedeckt. Die Zentralbank erwartet 2024 einen Rückgang des Wachstums auf 0,5 bis 1,5 Prozent.

Die Wachstumsprognosen der Regierung werden stark bezweifelt

Die russische Regierung rechnet im nächsten Jahr nur mit einer leichten Abschwächung des Wachstums von 2,8 auf 2,3 Prozent. Diese Einschätzung findet allerdings auch in Russland wenig Zustimmung. Bei einer Ende September durchgeführten Umfrage des Moskauer Reuters-Büros erwarteten die 12 Teilnehmer im Durchschnitt, dass sich das Wachstum der russischen Wirtschaft mehr als halbiert und von 2,3 Prozent im Jahr 2023 auf 1,0 Prozent im Jahr 2024 zurückfällt.

BIP-Prognosen 2023 und 2024
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

EBRD: Die „lockere Fiskalpolitik“ führte zu Überhitzung und höheren Einfuhren

Die Londoner Entwicklungsbank EBRD weist zur Anhebung ihrer diesjährigen Wachstumsprognose für Russland auf 1,5 Prozent vor allem darauf hin, dass eine „lockere Fiskalpolitik“ zu einer „Überhitzung“ der Wirtschaft geführt habe. Der Arbeitsmarkt sei „eng“, die Auslastung der Produktionskapazitäten hoch.

Die „lockere Fiskalpolitik“ habe die Einfuhren nach oben getrieben. Demgegenüber seien die Exporterlöse durch sinkende Energiepreise und die „Preis-Deckel“ der EU für Russlands Ausfuhren von Rohöl und Ölprodukten unter Druck geraten. Im Ergebnis sei der Leistungsbilanzüberschuss 2023 signifikant gesunken.

Nach dem unerwartet starken Wachstum im Jahr 2023 rechnet die EBRD jedoch ebenso wie die Gemeinschaftsdiagnose und die Reuters-Umfrage damit, dass Russlands Wirtschaftswachstum 2024 auf 1 Prozent sinkt.

Gemeinschaftsdiagnose: Die Investitionen und der private Verbrauch steigen

Zur raschen Erholung der russischen Wirtschaft im laufenden Jahr merkt die Gemeinschaftsdiagnose an, dass im zweiten Quartal 2023 mit den gestiegenen Militärausgaben die Investitionen, aber auch der private Verbrauch wuchsen. Auch die deutschen Institute weisen auf Engpässe am Arbeitsmarkt hin:

„In Russland hat die gesamtwirtschaftliche Produktion im zweiten Quartal 2023 ihr Niveau von vor dem Überfall auf die Ukraine wieder erreicht. Im Vergleich zum Vorjahr
stieg das Bruttoinlandsprodukt nach vorläufigen amtlichen Schätzungen um 4,9 %, nachdem es ein Jahr zuvor um 4,5 % zurückgegangen war.

Im Zusammenhang mit den gestiegenen Militärausgaben erhöhten sich die Investitionen, aber auch der private Konsum stieg dank höherer Reallöhne und Sozialleistungen.

Es zeigen sich zunehmend Engpässe am Arbeitsmarkt, weil seit Beginn des Krieges viele Arbeitskräfte in die Armee eingezogen wurden oder das Land verlassen haben, um dem Militärdienst zu entgehen.“

Wirtschaftsministerium: Die Anlageinvestitionen wachsen 2023 um 6 Prozent, der private Verbrauch um 5,4 Prozent

Das russische Wirtschaftsministerium revidierte in seiner neuen Prognose vor allem den diesjährigen Anstieg der Anlageinvestitionen im Vergleich mit seiner Prognose vom April stark nach oben. Statt eines Anstiegs um nur 0,5 Prozent erwartet es jetzt für 2023 ein Wachstum der Anlageinvestitionen um 6 Prozent. Das berichtet Expert.ru.

Der private Verbrauch wird laut der Prognose in diesem Jahr kaum weniger stark wachsen (+ 5,4 Prozent). Das Wirtschaftsministerium geht dabei von einem Anstieg der real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung um 4,3 Prozent aus (April-Prognose: + 3,4 Prozent).

Die Rubel-Abwertung treibt die Inflation vorübergehend nach oben

2022 hat sich der Anstieg der russischen Verbraucherpreise im Jahresdurchschnitt auf 13,8 Prozent beschleunigt. Laut der Gemeinschaftsdiagnose wird er sich in diesem Jahr mehr als halbieren und im Jahresvergleich auf 6,0 Prozent sinken. 2024 erwarten die Institute einen weiteren Rückgang der jährlichen Inflationsrate auf 5,6 Prozent und 2025 auf 5,0 Prozent.

Die von Reuters befragten Analysten rechnen damit, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat im laufenden Jahr weiter beschleunigt und im Dezember 6,8 Prozent erreichen wird.

Anstieg der Verbraucherpreise in Russland,
Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent

Trading Economics: Russia Inflation Rate, 08.09.23

Zu den Auswirkungen der Rubel-Schwankungen auf die Entwicklung der Preise erklärt die „Gemeinschaftsdiagnose“:

„Die Inflation wird seit Kriegsbeginn durch starke Wechselkursschwankungen getrieben. Als die Währung bei Kriegsbeginn kurzzeitig abstürzte, stieg die Teuerung auf bis zu 18 %, und mit der Wiederaufwertung des Rubels ging sie rasch zurück (auf 2,3 % im April). Seit er gegenüber dem Dollar erneut schwächer notiert, steigen die Inflationsraten wieder, zuletzt (August) auf 5,2 %.

Ein wichtiger Grund für den Währungsverfall ist die deutliche Verringerung des Handelsbilanzüberschusses aufgrund gesunkener Exporterlöse und gestiegener Importe. Um die Währung zu stabilisieren, hat die Zentralbank im August ihren Leitzins um 3,5 Prozentpunkte auf 12 % angehoben.“

Reuters-Umfrage: Weitere Leitzinserwartungen zu erwarten

Mitte September erhöhte die Zentralbank den Leitzins bereits um einen weiteren Prozentpunkt auf 13 Prozent. Die von Reuters Ende September befragten Analysten rechnen angesichts des anhaltenden Inflationsdrucks mit mindestens einer weiteren Erhöhung des Leitzinses. Bei der nächsten Leitzinsentscheidung am 27. Oktober erwarten sie im Durchschnitt eine Anhebung auf 14 Prozent.

Als inflationstreibende Faktoren nennt Reuters die Abwertung des Rubels, das Budget-Defizit, den angespannten Arbeitsmarkt und die starke Nachfrage der Verbraucher.

Für ein stärkeres Wachstum fehlen die Produktionskapazitäten

Die Erhöhung des Leitzinses trägt nach Einschätzung der Gemeinschaftsdiagnose, zwar dazu bei, dass die russische Wirtschaft „im Prognosezeitraum nur moderat expandieren dürfte.“ Das Wachstum in Russland wird sich laut der Gemeinschaftsdiagnose aber vor allem abschwächen, weil die Produktionskapazitäten bereits voll ausgelastet seien.

Wie die von Reuters befragten Analysten erwarten die deutschen Institute, dass das Wirtschaftswachstum 2024 auf 1,0 Prozent sinkt. 2025 rechnen sie mit einem ähnlich niedrigen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion (+ 0,9 Prozent).

Wirtschaftsministerium: Im Januar bis August war das BIP 2,5 Prozent höher

Nach ersten Berechnungen des russischen Wirtschaftsministeriums war Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion in den ersten acht Monaten 2023 um 2,5 Prozent höher als vor einem Jahr. Im August übertraf sie ihr Vorjahresniveau um 5,2 Prozent.

Der saisonbereinigte Anstieg des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vormonat hat sich im August laut den Berechnungen des Ministeriums von 0,6 Prozent im Juli auf 0,4 Prozent verlangsamt.

Das VEB-Institut schätzt das BIP-Wachstum niedriger ein als das Ministerium

Das Forschungsinstitut der staatlichen Wneschekonombank (Bank für Außenwirtschaft) geht in seinen ersten Schätzungen von einem merklich schwächeren saisonbereinigten Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion aus als das Ministerium. Laut dem am Freitag veröffentlichten und mit vielen Abbildungen versehenen Wochenbericht des VEB-Instituts hat sich das BIP-Wachstum gegenüber dem Vormonat von 0,2 Prozent im Juli auf 0,1 Prozent im August verlangsamt. Im Vergleich zum Vorjahresmonat ist das Bruttoinlandsprodukt im August laut dem VEB-Institut nicht um 5,2 Prozent gestiegen, sondern um 4,8 Prozent.

Die Industrieproduktion sank im Sommer im Trend etwas

Die gesamte Industrieproduktion ist nach Angaben des Statistikamtes Rosstat im August zwar 5,4 Prozent höher gewesen als vor einem Jahr. Dabei war die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ um 1,2 Prozent niedriger, die Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ um 10,3 Prozent höher als im August 2022.

Saison- und kalenderbereinigt ist die Industrieproduktion aber laut ersten Rosstat-Berechnungen im August gegenüber Juli um 0,3 Prozent gesunken. Im Juli war sie gegenüber Juni um 0,1 Prozent zurückgegangen. In der folgenden Rosstat-Abbildung zeigt die blaue Linie die schwachen Rückgänge der Produktion gegenüber dem Vormonat. Die graue „Trend-Linie“ zeigt die annähernde Stagnation der Industrieproduktion seit der Jahresmitte.

Indizes der Industrieproduktion (Monatsdurchschnitt 2020=100)
rote Linie: unbereinigt; blaue Linie: saison- und kalenderbereinigt; graue Linie: Trend


Rosstat: Industrieproduktion im August; mit Chart) mit Tabelle; 27.09.23

Laut den Schätzungen des VEB-Instituts stagnierte die Industrieproduktion im August insgesamt auf dem im Juli erreichten Niveau. Ein weiterer leichter Rückgang der Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ um 0,2 Prozent wurde durch einen Anstieg der Produktion im verarbeitenden Gewerbe und im Bereich der Strom-, Gas- und Wasserunternehmen ausgeglichen.

BOFIT: Die Produktion hat sich aktuell in wichtigen Bereichen „stabilisiert“

Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank BOFIT prognostizierte bereits Mitte September, dass sich Russlands Wirtschaftswachstum von rund 2 Prozent im Jahr 2023 auf rund 1 Prozent im nächsten Jahr abschwächen dürfte.

Zur aktuellen Entwicklung der Produktion wichtiger Bereiche der russischen Wirtschaft bis einschließlich August veröffentlichte BOFIT in seinem jüngsten Wochenbericht folgende Abbildung. BOFIT meint in der Überschrift, dass sich das Wachstum der Produktion in den meisten „Kernbereichen“ der russischen Wirtschaft in den letzten Monaten „stabilisiert“ habe: „Russian production growth in most core sectors of the economy has stabilised in recent months“.

Indizes der saisonbereinigten Produktion der Bereiche Bauwirtschaft, Einzelhandel, „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“, Verarbeitendes Gewerbe (2018=100)

BOFIT: Russia plans for increased government spending, tighter monetary policy, 29.09.23

BOFIT stellt heraus, das Wachstum der mit der Kriegsführung verbundenen Wirtschaftsbereiche treibe weiterhin den Anstieg der Produktion der Wirtschaft. Das Institut verweist auch auf folgende Entwicklungen:

Die saisonbereinigte Produktion der Bauwirtschaft ist weiter gestiegen (obere hellblaue Linie in der Abbildung). Die Produktionsentwicklung im „Verarbeitenden Gewerbe“ ist saisonbereinigt in den letzten Monaten aber „moderater“ geworden (dunkelblaue Linie).

Im Vergleich zum Vorjahresmonat war die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes im August aber noch rund 10 Prozent höher. Die Bauproduktion wuchs im Vorjahresvergleich im August um rund 9 Prozent.

Trotz erheblicher Lohnzuwächse ist auch die Entwicklung der vom privaten Verbrauch getriebenen Einzelhandelsumsätze in den letzten Monaten „verhalten“ gewesen (rote Linie). Die Reallöhne waren im Zeitraum Januar bis Juli 2023 rund 7 Prozent höher als im Vorjahr (Trading Economics Chart). Die Arbeitslosenquote verharrte im August bei 3 Prozent (Trading Economics Chart).

Die Entwicklung der Rohstoffindustrie verlief „bescheiden“(untere dunkelgraue Linie). Die IEA schätzt, dass die russische Rohölproduktion in den letzten Monaten leicht zurückgegangen ist. Russlands Regierung hat angekündigt, in diesem Jahr die Produktion und den Export von Rohöl zu drosseln. Das Wirtschaftsministerium geht davon aus, dass die Rohölproduktion in diesem und im nächsten Jahr um etwa 1 % zurückgehen wird.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Sinkt das Budgetdefizit trotz stark steigender Rüstungsausgaben? 27.09.23

Die Zentralbank erwartet weniger Wachstum als die Regierung, 18.09.23

Auch viele deutsche Institute erwarten rund 2 Prozent Wachstum in Russland, 12.09.23

Russland: Konjunktur im Juli stärkt die Wachstumsprognosen für 2023, 04.09.23

 

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
  Quelle: Dmitry Serebryakov / Shutterstock.com