Russlands Wirtschaft 2024: Der „Erholungs-Boom“ ist wohl zu Ende

Das Forschungsinstitut der Wneschekonombank, Russlands staatlicher Bank für Außenwirtschaft, aktualisierte in der letzten Woche seine Prognosen für Russlands Konjunkturentwicklung bis 2026.

Das VEB-Institut veranschlagt das im letzten Jahr erreichte Wirtschaftswachstum auf 3,4 bis 3,6 Prozent. Diese Spanne deckt die Schätzung der Regierung von 3,5 Prozent ab.

2024 wird aber auch von der Regierung keine Fortsetzung dieses starken Wachstums erwartet. Nach der raschen Erholung der russischen Wirtschaft vom Rückgang des Bruttoinlandsprodukts nach dem Beginn des Ukraine-Krieges sind die verfügbaren Produktionskapazitäten sehr stark ausgelastet. Auch Arbeitskräfte fehlen. Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion ist inzwischen höher als vor dem Beginn des Ukraine-Krieges.

2023 war das BIP voraussichtlich 2,3 Prozent höher als 2021

Geht man davon aus, dass Russlands Wirtschaft 2023 tatsächlich um 3,5 Prozent gewachsen ist, so nahm das reale Bruttoinlandsprodukt laut einem RBC.ru-Bericht in den letzten 4 Jahren um insgesamt 5,4 Prozent zu. Das zeigt die grüne Linie in der folgenden Abbildung.

Entwicklung des Indexes des realen Bruttoinlandsprodukts,
2019=100

RBC.ru: COVID-19, special operation and sanctions: Russian economy for 4 years in numbers, 25.01.24

Im Jahr 2020 sank das BIP in der „Corona-Rezession“ zunächst um 2,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dieser Rückgang wurde durch ein kräftiges Wachstum im Jahr 2021 um 5,9 Prozent mehr als ausgeglichen. Der Produktionsrückgang um 1,2 Prozent im Jahr 2022 nach Beginn des Ukraine-Krieges wurde durch das Wachstum um 3,5 Prozent im Jahr 2023 wettgemacht. Im Jahr 2023 war das BIP 2,3 Prozent höher als im Jahr 2021 vor dem Beginn des Ukraine Krieges (siehe auch aktuelle Analyse von Marina Voitenco).

Wneschekonombank: Ende 2023 flaute das Wachstum ab

Die folgende Abbildung zeigt, dass das reale Bruttoinlandsprodukt nach ersten Berechnungen des VEB-Instituts im September seinen bisherigen Höhepunkt erreicht hat.

Das Institut erwartet, dass das reale BIP im vierten Quartal 2023 gegenüber dem dritten Quartal saison- und kalenderbereinigt um 0,2 Prozent gesunken ist.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts,
saison- und kalenderbereinigt, 2010=100

VEB-Institut: Medium-term forecast  Russian economy: estimates for 2023 and prospects for 2024-2026 , 24.01.24

2024 halbiert sich das Wachstum voraussichtlich

Im Jahr 2024 erwartet das VEB-Institut eine Abschwächung des Wachstums der russischen Wirtschaft auf 1,6 Prozent. Die Mailänder Großbank UniCredit prognostizierte Mitte Januar in ihrem vierteljährlichen Bericht zur Entwicklung der Volkswirtschaften in Mittel- und Osteuropa „CEE Quarterly“ sogar, dass Russlands Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent im Jahr 2023 auf 1,3 Prozent im Jahr 2024 abflauen dürfte. Ganz ähnlich fiel das Ergebnis einer internationalen Umfrage des in Barcelona ansässigen Research-Instituts FocusEconomics an der Jahreswende aus. Die erfassten Prognosen, darunter nur wenige von russischen Instituten, lassen eine Abschwächung des Wachstums von 2,4 Prozent auf 1,4 Prozent erwarten. Ende Dezember durchgeführte Umfragen bei vorwiegend russischen Banken und Forschungsinstituten signalisieren für 2024 ebenfalls nur noch ein Wachstum von 1,3 Prozent (Interfax-Umfrage) bzw. 1,1 Prozent (Reuters-Umfrage).

BIP-Prognosen für Russland 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

VEB-Institut: Medium-term forecast  Russian economy: estimates for 2023 and prospects for 2024-2026 , 24.01.24

Im Prognose-Zeitraum 2024 bis 2026 wird Russlands Wirtschaftswachstum laut dem VEB-Institut zum einen durch die Auswirkungen der Sanktionen und eine restriktivere Haushaltspolitik gedrückt. Nachdem das Defizit im Föderationshaushalt nach ersten Angaben des Finanzministeriums im Jahr 2023 auf 1,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesunken ist, erwartet das VEB-Institut im Jahr 2024 einen weiteren Rückgang der Defizitquote auf 1,3 Prozent. Die staatliche Haushaltsplanung sieht 2024 sogar eine Halbierung der Defizitquote auf 0,9 Prozent des BIP vor.

Zum anderen wird Russlands Wachstum nach Einschätzung der Außenwirtschaftsbank aber auch vom schwächeren Wachstum der Weltwirtschaft gebremst werden. 2024 werde die Weltwirtschaft nur noch um 2,6 Prozent wachsen, noch etwas schwächer als die Weltbank erwartet (+ 2,9 Prozent). Das VEB-Institut nimmt an, dass Russlands Exporterlöse in US-Dollar im Jahr 2026 nur rund 12 Prozent höher sein werden als 2023.  Die Ausgaben für Einfuhren dürften gleichzeitig etwas stärker um rund 17 Prozent steigen.

Vorschläge des VEB-Instituts, um ein Wachstum von 3,5 bis 4 Prozent zu erreichen

Zu den Möglichkeiten für eine Stärkung des Wachstums der russischen Wirtschaft nennt das Institut der Wneschekonombank, deren Chef-Volkswirt der frühere Stellvertretende Wirtschaftsminister Andrey Klepach ist, am Ende seiner Prognose u.a. folgende Punkte:

Die russische Wirtschaft kann im Zeitraum 2024–2026 mit einer Lockerung der Geldpolitik ein Wachstum von 3,5 bis 4 % pro Jahr erreichen. Erforderlich sind: Eine Senkung des Leitzinses, eine verstärkte Kreditvergabe durch führende Banken und Entwicklungsinstitutionen sowie die Schaffung eines effektiven internationalen Zahlungsverkehrs ohne die Verwendung von Dollar und Euro.

Die Gewinne führender öffentlicher und privater Unternehmen geben ihnen die Möglichkeit, ihre Investitionen erheblich zu steigern. Bedingung dafür ist, dass der Staat dazu beiträgt, die Investitions- und Kreditrisiken zu reduzieren und die Investitionspläne zu koordinieren.

Zusätzliche Investitionen in die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur, der Wissenschaft, des Gesundheitswesens und der Bildung können zu einem wichtigen Faktor für ein nachhaltiges langfristiges Wirtschaftswachstum werden.

Valery Mironov, Stellvertretender Direktor des Konjunkturforschungszentrums der Moskauer “Higher School of Economics”, unterstreicht in einem TASS-Gastbeitrag die Notwendigkeit, die potenzielle Wachstumsrate der russischen Wirtschaft zu erhöhen. In einer Analyse der Entwicklung der russischen Wirtschaft seit der Übernahme der Regierung durch Ministerpräsident Mischustin vor vier Jahren zeigt er sich zuversichtlich, dass dies gelingen kann. Die weltweite Erfahrung mit sogenannten “Wirtschaftswundern“, die oft nach dem Eintritt schwerer wirtschaftlicher Schocks begonnen hätten, zeige das.

Produktion und Einkommen sind kräftig gestiegen

Zur Entwicklung der russischen Wirtschaft im Jahr 2023 meint Mironov: Das Bruttoinlandsprodukt wuchs im Jahr 2023 um rund 3,5 Prozent. Besonders stark stieg die Produktion im Bereich „Großhandel“ (+ 10,5 %), in der Bauwirtschaft (+ 8,8 %)  und im Verarbeitenden Gewerbe (+ 7,5 %).  Von den „Kern-Bereichen“ der russischen Wirtschaft verzeichnete nur die Produktion im Bergbau einen Rückgang (Januar bis November: – 1,1 Prozent im Vorjahresvergleich).

Die real verfügbaren Einkommen stiegen vor dem Hintergrund der auf einen historischen Tiefstand gesunkenen Arbeitslosenquote (weniger als 3 %) in den ersten neun Monaten 2023 im Jahresvergleich um 4,8 Prozent, nachdem sie im Jahr 2022 im gleichen Zeitraum um 1,3 Prozent gesunken waren.

Die Reallöhne stiegen von Januar bis Oktober im Vergleich zum Vorjahr um 7,7 %

Die Einkünfte aus Geschäftstätigkeit erhöhten sich fast doppelt so stark um rund 14 %.

Russlands Finanz- und Bankensystem funktioniert unterbrechungsfrei

Mironov lobt die Regierung und die Zentralbank. Trotz der westlichen Sanktionen im Finanzbereich hätten sie einen unterbrechungsfreien Betrieb des Finanzsystems und der Banken in Russland gewährleistet. Er verweist darauf, dass die Verwendung von Dollar und Euro in Russlands Zahlungsverkehr mit dem Ausland stark gesunken sei. Der Anteil des Rubels an Zahlungen im Außenhandel Russlands habe sich verdreifacht. Er sei von 12 auf 36 Prozent gestiegen.

Am häufigsten würden jedoch inzwischen Währungen „neutraler Länder“ bei Zahlungen im russischen Außenhandel verwendet. Ihr Anteil habe sich sich von einem  Prozent auf 40 Prozent erhöht. Der Anteil von Währungen „unfreundlicher Länder“ an Zahlungen im russischen Außenhandel sei hingegen von 87 Prozent auf 24 Prozent gesunken.

UniCredit-Schätzung: 2023 wuchs die russische Wirtschaft nur um 2,5 Prozent

Wie die große Mehrheit westlicher Banken und Forschungsinstitute sieht die Mailänder Großbank UniCredit die Entwicklung der Produktion der russischen Wirtschaft deutlich skeptischer als die russische Regierung und das VEB-Institut. UniCredit veranschlagt in ihrem Mitte Januar veröffentlichten Bericht „CEE-Quarterly“ zur Entwicklung der Volkswirtschaften in Mittel- und Osteuropa das in Russland im Jahr 2023 erreichte Wirtschaftswachstum auf lediglich 2,5 Prozent, also einen Prozentpunkt niedriger als das VEB-Institut und die russische Regierung schätzen.

UniCredit-Prognose: 2024 fällt das Wirtschaftswachstum auf 1,3 Prozent

2024 erwartet UniCredit einen Rückgang des Wachstums auf 1,3 Prozent (Prognose des VEB-Instituts: + 1,6 Prozent). Demgegenüber geht die russische Regierung in ihrer Haushaltsplanung von einem Wachstum im Jahr 2024 von 2,3 Prozent aus.

UniCredit prognostiziert, dass die inländische Nachfrage 2024 viel schwächer wachsen wird als 2023. Der Private Verbrauch werde nur noch um 1,1 steigen (2023: + 4,9 Prozent), der Staatsverbrauch nur noch um 0,9 Prozent (2023: + 5,6 Prozent). Das Wachstum der Anlageinvestitionen werde von 11,9 Prozent im Jahr 2023 auf 2,7 Prozent im Jahr 2024 sinken.

UniCredit: Volkswirtschaftliche Daten und Prognosen (Auszug)

UniCredit: CEE Quarterly – A year of crucial choices (1Q24); 15.01.24

Anders als das VEB-Institut erwartet UniCredit, dass Russlands Haushaltsdefizit 2024 nicht sinkt, sondern auf 3,4 % des BIP ansteigt. Damit wäre die Defizitquote viel höher als in der Haushaltsplanung der Regierung vorgesehen ist (0,9 Prozent des BIP).

Die Inflationsrate sinkt schon bis Ende 2024 auf rund 4 Prozent

UniCredit rechnet damit, dass eine Senkung des seit Juli 2023 von 7,5 Prozent auf 16,0 Prozent im Dezember erhöhten Leitzinses „wahrscheinlich nicht schnell“ erfolgen wird. Die folgende UniCredit-Abbildung lässt erkennen, dass UniCredit etwa im Mai eine erste Senkung des Leitzinses erwartet (schwarze Linie). Bis Ende 2024 wird der Leitzins laut UniCredit auf 10,5 Prozent gesenkt werden.

Etwa ab Mai rechnet UniCredit auch mit dem Beginn eines raschen Rückgangs der Inflationsrate (rote Linie). Schon am Jahresende 2024 erwartet UniCredit nur noch eine Inflationsrate von 4,1 Prozent. Damit wäre die von der russischen Zentralbank angestrebte Inflationsrate von 4 Prozent fast erreicht. Die Zentralbank selbst erwartet in ihrer Ende Oktober veröffentlichten mittelfristigen Prognose am Jahresende 2024 eine Inflationsrate im Bereich von 4,0 bis 4,5 Prozent.

Entwicklung von Inflation und Leitzins

Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent, Leitzins der Zentralbank in Prozent pro Jahr

UniCredit: CEE Quarterly – A year of crucial choices (1Q24); 15.01.24

Das VEB-Institut erwartet bis Ende 2024 hingegen nur einen Rückgang der jährlichen Inflationsrate auf 5,3 Prozent. Das Inflationsziel der russischen Zentralbank von 4 Prozent wird nach Einschätzung des VEB-Instituts erst Ende 2026 fast erreicht sein.

Sehr angespannter Arbeitsmarkt in Russland

Auch UniCredit macht darauf aufmerksam, dass die Arbeitslosenquote in Russland im November unter 3 Prozent fiel, den niedrigsten Stand seit Beginn der Statistik.

UniCredit: CEE Quarterly – A year of crucial choices (1Q24); 15.01.24

Als Ursachen für den starken Rückgang der Arbeitslosenquote verweist UniCredit auf die „Mobilisierung“ von Arbeitskräften für das Militärdienst, den verstärkten Personalbedarf der Rüstungsindustrie, die Emigration.und die demografische Entwicklung.

Die Knappheit von Arbeitskräften hat, so UniCredit, zum Anstieg der Löhne beigetragen. UniCredit erwartet, dass die angespannte Arbeitsmarktlage weiterhin preistreibend wirkt und das Wachstumspotenzial der russischen Wirtschaft mittelfristig beeinträchtigt.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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