Prognosen: Russlands BIP sinkt 2020 wohl um rund 5 Prozent

Auch Finanzminister Siluanow und die EU-Kommission rechnen damit

Was kommt auf die russische Wirtschaft zu? Mit welchen finanziellen Einbußen muss die Bevölkerung rechnen? Unser Analyst wirft einen Blick auf die Zahlen.

Eigentlich wollte die russische Regierung ihre Haushaltsplanung schon im April aktualisieren. Das Wirtschaftsministerium sollte zur Vorbereitung neue Prognosen zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorlegen. Angesichts der schwer abschätzbaren wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie wurde die Aktualisierung der Planung aber auf den Mai verschoben.

Finanzminister Siluanow äußerte sich in der letzten Woche in einem ausführlichen Interview zu den Erwartungen, die der neuen Planung zugrunde gelegt werden. Im Basisszenario nimmt die Regierung an, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion im „Corona-Jahr“ 2020 um rund 5 Prozent sinkt. Damit hält sie sich in der Mitte der Prognose-Spanne von – 4 Prozent bis – 6 Prozent, die die Zentralbank bereits am 24. April bei ihrer letzten Leitzinssenkung nannte. Mitte April hatte der Internationale Währungsfonds seine Wachstumsprognose für Russland auf – 5,5 Prozent gesenkt. Einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in Russland um 5 Prozent erwartet auch die EU-Kommission in ihrer am 06. Mai veröffentlichten „Frühjahrsprognose“. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) rechnet hingegen mit einem noch stärkeren Einbruch um 7 Prozent.

Siluanow: Rezession verursacht Haushaltsdefizit von 4 Prozent

Auf die Frage, welche Szenarien das Finanzministerium zu den Folgen der Pandemie für die Wirtschaft und das Budget entwickelt habe, antwortete der Finanzminister in einem Vedomosti-Interview, es gebe mehrere Szenarien, die „alle nicht sehr optimistisch“ seien:

„Im Basisszenario gehen wir von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 5 Prozent in diesem Jahr aus, was den Schätzungen der Zentralbank entspricht. …

Das Haushaltsdefizit wird rund 4 Prozent des BIP erreichen. Wir kürzen keine Ausgaben, im Gegenteil, wir erhöhen sie. Wir werden Mittel aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds und die Aufnahme von Staatsanleihen nutzen, um sowohl die laufenden Verpflichtungen als auch die Ausgaben für die Anti-Krisen-Programme zu finanzieren.“

Die Zentralbank erwartet in diesem Jahr in ihrem neuen „Monetary Policy Report“ sogar ein Haushaltsdefizit von 5 bis 6 Prozent des BIP. Zentralbankpräsidentin Nabiullina meinte zu dem Anstieg des Defizits in ihrer Pressekonferenz am Freitag, die Bekämpfung der Corona-Pandemie erfordere „wirklich signifikante“ Maßnahmen. Außerdem sei ein Rückgang der staatlichen Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich, aber auch der übrigen Einnahmen zu erwarten. Im Februar rechnete das Finanzministerium noch damit, dass der Haushalt 2020 mit einem kleinen Überschuss schließen werde (0,3 Prozent des BIP). Im ersten Quartal 2020 war er noch ausgeglichen (+ 0,05 Prozent des BIP). Das berichtet Finmarket.ru.

„Antizyklische Politik“ mit zusätzlichen Ausgaben von 6,5 Prozent des BIP

Siluanow äußerte sich auch zum geplanten dritten „Maßnahmenpaket“ der Regierung zur Bewältigung der Krise, das derzeit vorbereitet wird. Es solle den Unternehmen helfen, nach 2 Monaten aus dem „Shutdown“ herauszukommen und sie mit dem erforderlichen Kapital zu versorgen. Die Regierung werde weiterhin dazu beitragen, mit ihrer Ausgabenpolitik für Beschäftigung und Nachfrage zu sorgen und die Unternehmen zu neuen Investitionen zu ermutigen. Dabei werde sie sich vor allem auf die kleinen und mittleren Unternehmen konzentrieren. Konkrete Maßnahmen des „dritten Pakets“ würden bald mitgeteilt.

Der Umfang der staatlichen Hilfen werde weiter erhöht. Siluanow bezeichnete seine Haushaltspolitik als „antizyklisch“. Bisher seien zur Bekämpfung der Corona-Krise Ausgaben in Höhe von 2,8 Prozent des BIP beschlossen worden. Darin seien aber Ausgaben aus Mitteln des „Nationalen Wohlfahrtsfonds“ noch nicht enthalten. Insgesamt könne die Unterstützung der Wirtschaft durch den Staat auf 6,5 Prozent des BIP geschätzt werden.

Aber was kommt von den Hilfen beim Mittelstand in Russland an?

Zumindest bisher scheinen die staatlichen Hilfsprogramme jedoch nicht sehr effizient zu sein. Jens Böhlmann, Leiter der Kontaktstelle Mittelstand beim Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der deutschen Wirtschaft, schreibt in seiner jüngsten Kolumne in Ostexperte.de:

Die Bürokratie zur Beantragung von Hilfen ist riesig, die Behörden und die Server überlastet. Und das gilt nicht nur für die direkte Unterstützung. Ein deutscher Generaldirektor drückt es so aus: „Durch die Corona-Krise und die entsprechenden Erlasse der Gouverneure ist über Wochen eine große Unsicherheit darüber entstanden, wer überhaupt, wann und wie noch produzieren darf. Die entsprechenden Erlasse und Anordnungen waren lange sehr unklar formuliert.“

Auch Marina Voitenko, die wöchentlich die wirtschaftspolitische Entwicklung in Russland für Politcom.ru kommentiert, verweist in ihrem jüngsten Beitrag auf zahlreiche kritische Stimmen aus der Wirtschaft zu den staatlichen Hilfsmaßnahmen. Auch sie beklagt, die Vergabe sei zu bürokratisch organisiert.

Detaillierte Informationen zu den „Hilfspaketen“ der Regierung bietet das am 08. Mai aktualisierte GTAI-Special.

EU-Kommission erwartet auch einen Produktionsrückgang um 5 Prozent

Im Russland-Kapitel ihrer „Frühjahrsprognose“ teilt die EU-Kommission die Einschätzung von IWF, Zentralbank und russischer Regierung, dass im Jahresdurchschnitt 2020 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um rund 5 Prozent zu rechnen ist. Als Gründe nennt die Kommission neben den Produktionseinschränkungen wegen der Corona-Pandemie auch den Rückgang der Ölpreise und der Ölproduktion; die niedrigeren Preise für Metalle und die Einschränkungen für den Tourismus.

Die EU erwartet für die Verwendung der gesamtwirtschaftlichen Produktion für den privaten Verbrauch, die Investitionen und die Ausfuhr  folgende Trends:

  • Der private Verbrauch wird 2020 erheblich zurückgehen (- 3,3 Prozent gegenüber 2019), auch wenn der Einbruch durch steigende Sozialausgaben und andere fiskalische Maßnahmen gedämpft werden dürfte.
  • Die Investitionen kommen unter Druck (Brutto-Anlageinvestitionen: – 1,8 Prozent). Die Lage der kleinen und mittleren Unternehmen verschlechtert sich rapide. Der Energiesektor kann in der aktuellen Situation mit seinen Ausgaben wahrscheinlich für keinen Ausgleich sorgen.
  • Außenwirtschaftlich ist mit einem scharfen Rückgang der Exporte zu rechnen (- 16,5 Prozent), da die Rohstoffpreise fallen und die ausländische Nachfrage abnimmt. Russlands Importe dürften weniger stark eingeschränkt werden (- 9,7 Prozent).

Weil die Exporte noch schneller sinken als die Importe, dürfte der Nettoexport (weißer Säulenteil in der folgenden Abbildung) die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate um 2,6 Prozentpunkte drücken. Zum Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 5 Prozent (braune Linie) trägt die außenwirtschaftliche Entwicklung damit noch etwas mehr bei als der Rückgang der Inlandsnachfrage (- 2,4 Prozentpunkte). Für die Entwicklung der Inlandsnachfrage spielt dabei der Rückgang des privaten Verbrauchs (blauer Säulenteil) eine deutlich größere Rolle als die Abnahme der Investitionen (violetter Säulenteil).

Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts;
Beiträge der Verwendungsbereiche in Prozentpunkten

2021 erwartet die EU-Kommission in Russland mit einem BIP-Wachstum um 1,6 Prozent nur eine schwache Erholung von der Rezession um 5 Prozent. Sowohl der private Verbrauch und die Investitionen als auch der Nettoexport dürften zum Wachstum beitragen.

Letzte Rezession 2015 traf private Verbraucher noch viel härter

Die Abbildung der Prognose der EU-Kommission erleichtert einen Vergleich mit der Rezession im Jahr 2015. Sie wurde vor allem durch einen Einbruch der Ölpreise ausgelöst. Die Abbildung zeigt, dass in der jetzigen „Corona-Krise“ der private Verbrauch und die Investitionen das gesamtwirtschaftliche Wachstum voraussichtlich bei weitem nicht so stark dämpfen werden wie vor 5 Jahren. 2015 ging der reale private Verbrauch laut Rosstat um fast ein Zehntel zurück (- 9,5 Prozent). Die Brutto-Anlageinvestitionen wurden um 11,7 verringert.

Trotzdem dürfte das Bruttoinlandsprodukt 2020 viel stärker zurückgehen (rund – 5 Prozent) als 2015 (- 2,0 Prozent). Ursache dafür ist, dass 2020 auch die Entwicklung von Aus- und Einfuhren die gesamtwirtschaftliche Produktion senkt, weil die Ausfuhren noch deutlich schneller abnehmen (- 16.5 Prozent) als die Einfuhren zurückgehen (- 9,7 Prozent).

Im Jahr 2015 stabilisierte demgegenüber die außenwirtschaftliche Entwicklung die gesamtwirtschaftliche Produktion. Damals wurden die Einfuhren außerordentlich stark um 25 Prozent verringert, während die Ausfuhren um 3,7 Prozent gesteigert werden konnten.

Der Einbruch des privaten Verbrauchs im Jahr 2015, der sich 2016 noch fortsetzte, wurde bisher nicht aufgeholt. 2019 war der reale private Verbrauch noch 3,2 Prozent niedriger als 2014. Sinkt der private Verbrauch 2020 wie von der Kommission erwartet um 3,3 Prozent, wird er das 2014 erreichte Verbrauchsniveau um 6,4 Prozent unterschreiten.

Die Corona-Krise bedeutet für Russlands Bürger aber nicht nur zusätzliche Konsumeinbußen.

2020 bringt höhere Arbeitslosigkeit und Defizite in Budget und Leistungsbilanz

Die Arbeitslosenquote wird im Rezesssionsjahr 2020 laut Kommission von 5,1 Prozent auf 6,2 Prozent steigen. 2021 dürfte sie auch nur geringfügig auf 6,1 Prozent sinken.

Wie Russlands Regierung und die Zentralbank rechnet auch die EU-Kommission damit, dass die Entwicklung der öffentlichen Aus- und Einnahmen 2020 zu einem Defizit führen wird. Im staatlichen Gesamthaushalt werde es 2020 und 2021 jeweils 2,7 Prozent des BIP erreichen (Überschuss 2019: 1,7 Prozent des BIP). Angesichts niedrigerer Einnahmen geht die Kommission davon aus, dass die bisherigen Investitionspläne der Regierung 2020 und 2021 nicht in vollem Umfang realisiert werden.

Der Überschuss in der Leistungsbilanz (2019 noch 4,0 Prozent des BIP) wird nach Einschätzung der Kommission 2020 wegen des Einbruchs der Ausfuhren in ein Defizit umschlagen (- 2,7 Prozent des BIP), das 2021nur wenig sinken wird (- 2,1 Prozent des BIP).

WIIW rechnet mit noch stärkerem Produktionseinbruch um 7 Prozent

Auch das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche veröffentlichte iin der letzten Woche neue Prognosen für die Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa (MOSOEL).

Es meint in seiner Übersicht zur Entwicklung der russischen Wirtschaft, dass die Überschüsse im Staatshaushalt und in der Leistungsbilanz für Russland nach dem „Doppel-Schock“ durch Corona-Krise und Ölpreiseinbruch wahrscheinlich „Dinge der Vergangenheit“ sein werden.

Das WIIW erwartet für 2020 einen noch stärkeren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (- 7 Prozent) als die EU-Kommission. Die bisher beschlossene „fiskalischen Stimulierung“ der Konjunktur veranschlagt das Institut für dieses Jahr auf 2,8 Prozent des BIP. Die Lockerung der Geldpolitik werde angesichts der „anämischen“ Nachfrage nach Krediten wahrscheinlich kaum Wirkung zeigen. 2021 rechnet das WIIW wie die EU-Kommission nur mit einer schwachen Erholung des Bruttoinlandsprodukts (+ 1,5 Prozent).

Wachstumsprognosen 2020 bis 2022
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

   202020212022
HSE, Development Center05/07/2020-43.1
EU Kommission; Brüssel05/06/2020-51.6
WIIW, Wien05/06/2020-71.5
Reuters-Umfrage04/30/2020-3.4
Sberbank, Moskau04/30/2020-4.23.12
Moody’s Rating04/28/2020-5.52.2
Russische Zentralbank,
Basisszenario
04/24/2020- 4 bis - 6
Urals 27 $/b
2,8 bis 4,8
Urals 35 $/b
1,5 bis 3,5
Urals 45 $/b
Helaba, Frankfurt04/24/2020-33
Standard & Poor’s24.04.20.-4.84.53.3
Fitch Ratings04/22/2020-3.32.5
ACRA Rating Moskau04/21/2020-4.52.23.5
Raiffeisen Bank International, Wien04/20/2020-4.92.8
Berenberg Bank, Hamburg04/20/2020-53.52.5
Commerzbank, Frankfurt04/17/2020-21.1
OPEC, Wien04/16/2020-0.5
Unicredit/BankAustria, Mailand04/15/2020-5.43.8
Internationaler Währungsfonds04/14/2020-5.53.5
Nordea, Basis-Szenario04/10/2020-3.53.6
HSE-Umfrage am 06./07. April04/09/2020-22.3
Vnesheconombank Institut04/09/2020-3.84.8
Economist Intelligence Unit04/09/2020- 2.61.81.9
Weltbank; Datenstand 23.03.202004/09/2020-11.61.8
Scope Rating, Berlin04/08/2020-3.32.3
Gemeinschaftsdiagnose, dt. Institute.04/08/2020-1.10
ING Bank, Amsterdam04/08/2020-2.52
FocusEconomics
Consensus Forecast
04/07/2020-1.42.3
Citibank04/07/2020-4.2
J.P. Morgan04/04/2020-44.5
DekaBank, Frankfurt04/03/2020-1.82.6

Die Arbeitslosenquote (laut „Labour Force Survey“, LFS) dürfte laut WIIW von 4,6 Prozent im letzten Jahr auf 7,0 Prozent im Jahr 2020 ansteigen.

Der Leistungsbilanzüberschuss (für 2019 mit 3,8 Prozent des BIP angegeben) werde 2020 völlig verschwinden. Eine Prognose für die Entwicklung des Staatshaushalts wagt das WIIW in seiner Länderübersicht zu Russland, die ständig aktualisiert wird, noch nicht.

Titelbild
Titelbild: Moskazer Bezirk Stragino. Quelle:
Evgeny Krasnokutskiy / Unsplash.com
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Quellen und Lesetipps:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Coronavirus in RF: Liveticker, Presseschau, Russland-Analysen, Russia Analytical Digest

Coronavirus: Informationen von AHK, GTAI, OAOEV, AEB

Coronavirus: Regierung und Zentralbank zu Russlands „Corona-Politik“

Konjunktur im März/April; Monatsberichte von Zentralbank, Wirtschaftsministerium, Rosstat

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte

Verbraucherpreisentwicklung im April

Zentralbank: Monetary Policy Report; nächste Ausgabe erscheint am 03.08.2020

Zentralbank: Präsentationen für Investoren in Englisch

Corona-Krise: Wirtschaft und Politik in Russland und weltweit

Ölpreiseinbruch und Konjunktur in Russland und weltweit

Geldpolitik: Leitzinssenkung und mittelfristige Prognosen vom 24.04.2020

Zentralbank: „What the trends say“; Bericht der volkswirtschaftlichen Abteilung