Aserbaidschan vor den Präsidentschaftswahlen

Von Urs Unkauf

Das zurückliegende Jahr 2023 war in mehrfacher Hinsicht ein besonderes Jahr für Aserbaidschan. An erster Stelle stand für die Bevölkerung Aserbaidschans die vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität ihres Staates im völkerrechtlichen Sinne. Dies wurde im Ergebnis einer Militäroperation vom 19. auf den 20. September 2023 möglich, bei der die aserbaidschanischen Streitkräfte die Reste des armenischen Separatistenregimes erfolgreich zerschlagen konnten und die Stadt Khankendi (Stepanakert) zurückerobert wurde. Mit der Wiedererlangung der vollen Souveränität über sein Staatsgebiet konnte Aserbaidschan ein 30-jähriges Kapitel der völkerrechtswidrigen Okkupation seiner Gebiete durch Armenien erfolgreich schließen. Der Konflikt um Karabach beanspruchte nicht nur in Aserbaidschan zahlreiche menschliche, finanzielle und materielle Ressourcen, sondern belastete die regionale Stabilität und Sicherheitslage im Südkaukasus insgesamt ernsthaft. 

Fortschritte beim Friedensprozess

Auch dem Friedensprozess zwischen Aserbaidschan und Armenien war dies letztendlich förderlich, was sich bald darauf in einer historischen Stellungnahme zeigte. Die gemeinsame Erklärung von Baku und Eriwan vom 7. Dezember 2023 besteht aus zwei grundlegenden Elementen. Erstens wurde der Rückzug der armenischen Kandidatur für die Ausrichtung der Weltklimakonferenz COP29 und die bedingungslose Unterstützung der aserbaidschanischen Kandidatur erklärt, während gleichzeitig andere Länder aufgefordert wurden, Letztere zu unterstützen. Im Gegenzug erklärte sich Aserbaidschan bereit, die armenische Bewerbung als eines von elf Mitgliedern des COP-Büros zu unterstützen – ein nachgeordnetes Gremium, das den COP-Vorsitz hauptsächlich in Fragen des Prozessmanagements unterstützt. Armenien hatte sich ursprünglich selbst um die Ausrichtung der COP29 beworben. Dann wurde klar, dass Russland aufgrund der diplomatischen Spannungen mit dem Westen, Resultat seines Krieges gegen die Ukraine, den notwendigen Konsens über die Ausrichtung des jährlichen Weltklimagipfels durch einen EU- oder NATO-Mitgliedstaat, der zur Osteuropagruppe der UN gehört, brechen würde.

Die erfolgreiche Bewerbung Aserbaidschans für die Ausrichtung der COP29, die schlussendlich durch einen signifikanten Fortschritt im Friedensprozess mit Armenien ermöglicht wurde, kann Präsident Ilham Alijew als bedeutenden Erfolg seiner Außenpolitik verbuchen. Ebenso die Demonstration eines diplomatischen Fingerspitzengefühls, welches Aserbaidschans geopolitische Lage in einer Mittellage zwischen komplexen Konstellationen regionaler Akteure und internationaler Interessen erfordert.

Sozioökonomischer Wandel

Ilham Alijew wurde erstmals am 15. Oktober 2003 zum Präsidenten Aserbaidschans gewählt. Seitdem steht er ununterbrochen an der Spitze des Landes. Die ökonomische Entwicklung in diesem Zeitraum war durchaus Schwankungen unterworfen, bedingt auch durch globale Entwicklungen wie die Finanzkrise der Jahre 2008-2009, die Wirtschaftskrise des Jahres 2015 und die globale Covid 19-Pandemie. Eine immer größere Notwendigkeit wird die Diversifizierung der aserbaidschanischen Volkswirtschaft, die traditionell auf dem Export fossiler Energieträger beruht. Nach Angaben der Weltbank weist die aserbaidschanische Wirtschaft mit 5,6 % in 2021 bzw. 4,6 % in 2022 solide Wachstumsraten nach dem pandemiebedingten Einbruch um 4,3 % im Jahr 2020 auf. Das Land entwickelte sich während der letzten zwei Jahrzehnte von einem Entwicklungsland der ärmeren Kategorie zur „Developing/Emerging Upper-middle income economy“ (Weltbank-Ranking). Beachtliche Zahlen, insbesondere vor dem Hintergrund des Kriegs um Bergkarabach, der erst 2023 beendet wurde und über 20% des Staatsgebiets betraf. Gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt (BIP) belegt Aserbaidschan nach Angaben des CIA World Factbook (2021) weltweit Platz 80 und hat sich damit als aufstrebende Volkswirtschaft etabliert. Die Alphabetisierungsrate liegt heute bei nahezu 100 % und nimmt damit einen führenden Platz im postsowjetischen Raum ein. Auch die Armutsrate ist – gemessen an der nationalen Armutsgrenze – in einem international sehr beachtlichen Ausmaß kontinuierlich gesunken: Während diese nach Angaben der Weltbank im Jahr 2003 bei 44,6 % lag, weist die Asian Development Bank für das Jahr 2021 lediglich noch 5,9 % aus, wobei der allgemein gestiegene Lebensstandard und die Kaufkraft zu berücksichtigen sind. Im Human Development Index der Vereinten Nationen liegt Aserbaidschan über dem weltweiten Durchschnitt mittlerweile im Bereich der Länder mit hoher Entwicklung auf Platz 91 von 191 Staaten. Aserbaidschan liegt zudem auf Platz 34 von 190 Volkswirtschaften im „Ease of Doing Business“-Index der Weltbank. Diese Bilanz unterstreicht den Stellenwert des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts in der Politik Alijews für Aserbaidschan.

Vorgezogene Wahlen

Auf dem Höhepunkt seiner Popularität, für die in breiten Bevölkerungsschichten die Rückeroberung der vormals armenisch besetzten Gebiete ausschlaggebender sein dürfte als diplomatische Erfolge, kündigte Präsident Alijew im Dezember die Durchführung vorgezogener Präsidentschaftswahlen am 7. Februar 2024 an. Der nächste reguläre Wahltermin wäre im Frühjahr 2025 gewesen. Politische Herrschaft ist stets auf die Herstellung von Legitimität angewiesen, die sich wiederum aus spezifischen Begründungszusammenhängen speist. Mit der Wiederherstellung der territorialen Integrität Aserbaidschans wurde im Jahr 2023, das ebenfalls dem 100-jährigen Geburtstag Heidar Alijews (Präsident Aserbaidschans von 1993 bis 2003) gewidmet war, ein zentrales Staatsziel der modernen Republik Aserbaidschan erfüllt. Aserbaidschan sieht sich als aufstrebende Mittlmacht und will während COP29 im Fokus der globalen Aufmerksamkeit stehen. Und die sich daraus ergebenden neuen Möglichkeiten in langfristige strategische Projekte umsetzen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der Präsident in einer Zeit zunehmender internationaler Spannungen sein Mandat stärken will, wenn er auf viel Rückhalt in der Bevölkerung hoffen kann – um zukünftig verstärkt auf der geopolitischen Bühne zu agieren.

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Titelbild
Quelle: Official website of President of Azerbaijan, Ilham Heydar oglu Aliyev – President of the Republic of Azerbaijan, Zuschnitt auf 1040×585, CC BY 4.0