BIP-Wachstum in Russland: Nur knapp 2% jährlich bis 2020

Wachstum in Russland: Nur knapp 2% jährlich bis 2020

„Bahnbrechende Reformen“ zu mehr Wachstum erwartet kaum jemand

Sogar die russische Regierung hat Ende Juni ihre Wachstumsprognosen für 2018 und 2019 unter 2 Prozent gesenkt. Sie rechnet im nächsten Jahr jetzt nur noch mit einem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,4 Prozent. Das ist weniger als die meisten internationalen Wirtschaftsorganisationen und Bankanalysten erwarten (1,7 bis 1,8 Prozent). Ab 2021 will die russische Regierung aber die Wende zu einem deutlich stärkeren Wachstum schaffen. Viele Experten glauben allerdings nicht daran, dass die dafür notwendigen tiefgreifenden Reformen in Wirtschaft und Politik eingeleitet werden. Wir geben einen Überblick über aktuelle Prognosen und haben Stimmen zum Wachstumspotenzial und zur Reformfähigkeit der russischen Wirtschaft gesammelt.

In den Lesetipps am Schluss finden Sie auch Hinweise auf Artikel zu den Top-Themen Sanktionspolitik, Mehrwertsteuererhöhung und Rentenreform.

Analysten rechnen weiterhin nur mit knapp 2 Prozent Wachstum

Die Anfang August veröffentlichten Analysten-Umfragen lassen weiterhin nur ein moderates Wachstum der russischen Wirtschaft von knapp 2 Prozent erwarten. So ermittelte „Focus Economics Consensus Forecast“ für 2018, 2019 und 2020 einen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um jeweils 1,7 Prozent. Die Umfragen von Reuters und Economist ergaben für das nächste Jahr ebenfalls eine Stagnation der Wachstumsrate bei 1,7 Prozent. Auch die Research-Bereiche der Commerzbank, der Helaba und der Berenberg Bank gehen für 2019 weiterhin von 1,7 bzw. 1,8 Prozent Wachstum aus.

Die DekaBank senkte ihre Prognose für das nächste Jahr hingegen etwas von 1,8 Prozent auf 1,6 Prozent. Auch bei einer Umfrage der Moskauer Higher School of Economics wurde das Wachstum im Jahr 2019 um 0,2 Prozentpunkte niedriger eingeschätzt. Statt 1,7 Prozent wie vor 3 Monaten erwarten die Analysten jetzt im Durchschnitt 1,5 Prozent.

Die Rating-Agentur Fitch nahm am 17. August ihre Prognose für 2019 deutlicher um 0,4 Prozentpunkte von 1,9 Prozent auf 1,5 Prozent zurück. Die Agentur verwies zur Begründung unter anderem auf die Anfang 2019 vorgesehene Anhebung des allgemeinen Steuersatzes der Mehrwertsteuer von 18 auf 20 Prozent, die den privaten Verbrauch dämpfen werde. Dieser Effekt werde aber teilweise durch höhere Pensionszahlungen und höhere Staatsausgaben ausgeglichen werden.

2020 erwartet Fitch eine Erholung des Wachstumstempos auf 1,9 Prozent. Auch damit bleibe Russlands Wachstum aber deutlich schwächer als das von Volkswirtschaften, die wie Russland mit der Kreditwürdigkeitsstufe „BBB“ bewertet würden. Sie wüchsen 2019 und 2020 um durchschnittlich 3,2 Prozent.

Wachstumsprognosen 2018 bis 2020

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
InstitutDatum201820192020
Higher School of Economics-Umfrage19.08.181,71,51,6
Fitch Ratings17.08.181,81,51,9
Commerzbank, Frankfurt17.08.181,51,7
DekaBank, Frankfurt15.08.181,81,6
Economist Intelligence Unit15.08.181,71,81,6
Eurasian Development Bank13.08.181,81,81,7
OPEC13.08.181,81,8
Berenberg Bank, Hamburg13.08.181,91,81,7
Izvestia-Umfrage10.08.181,6
Economist-Umfrage09.08.181,71,7
Helaba, Frankfurt06.08.181,81,7
FocusEconomics Consensus Forecast02.08.181,71,71,7
Reuters-Umfrage01.08.181,81,7
RIA Rating20.07.182,0
Internationaler Währungsfonds16.07.181,71,5
Rating-Agentur Expert RA12.07.181,71,4
BNP Paribas, Paris11.07.181,81,6
Russisches Wirtschaftsministerium;
Basisszenario
04.07.181,9
Urals 69,3 $/b
1,4
Urals 63,4 $/b
2,0
Urals 59,7 $/b
Danske Bank, Kopenhagen29.06.182,02,12,2
WIIW, Wien28.06.181,51,61,7
Institut für Weltwirtschaft, Kiel21.06.181,81,5
Ifo Institut, München19.06.181,52,0
Russische Zentralbank;
Basisszenario
15.06.181,5 bis 2,0
Urals 67$/b
1,5 bis 2,0
Urals 55 $/b
1,5 bis 2,0
Urals 50 $/b
Russische Zentralbank;
Szenario „unveränderte Ölpreise“
15.06.181,5 bis 2,0
Urals 69$/b
1,5 bis 2,0
Urals 70 $/b
1,5 bis 2,0
Urals 70 $/b
IWH, Halle14.06.181,91,9
DIW, Berlin13.06.181,82,2

Regierung: Mehrwertsteuererhöhung drückt Wachstum 2019

Auch die russische Regierung rechnet damit, dass die Wirtschaft bis 2020 nicht stärker als um 2 Prozent wächst. Wenige Tage nach Bekanntgabe der Mehrwertsteuererhöhung legte das Wirtschaftsministerium Prognosen für die mittelfristige Entwicklung bis 2024 vor. Das russische Finanzministerium übernahm sie in seine „Leitlinien der Haushalts-, Steuer- und Zolltarifpolitik für 2019 und die Planungsperiode 2020 und 2021“, die es für die Haushaltsberatungen der Duma erstellte.

Im laufenden Jahr erwartet die Regierung jetzt nur noch ein Wachstum von 1,9 Prozent. Ihre Prognose für das nächste Jahr senkte sie insbesondere mit Hinweis auf die Anhebung der Mehrwertsteuer sogar auf 1,4 Prozent. Bisher hatte sie für 2019 ein Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent erwartet.

Nach der deutlichen Senkung der Regierungsprognose gehen derzeit fast alle internationale Wirtschaftsorganisationen und Banken für 2019 von einem etwas stärkeren Wachstum der russischen Wirtschaft aus (1,7 bis 1,8 Prozent) als die Regierung selbst (1,4 Prozent).

Insgesamt sind sich die Konjunkturexperten inzwischen aber erstaunlich einig. Fast alle Prognosen für die Jahre 2018, 2019 und 2020 liegen innerhalb der Spanne von 1,5 bis 2,0 Prozent, die die russische Zentralbank Mitte Juni ihren Szenarien zugrunde legte.

Höhere Investitionsquote soll Wachstum beschleunigen

Laut den aktuellen Entwürfen der Regierung für die Haushaltsplanung soll der 2019 erwartete Rückgang des Wachstums auf 1,4 Prozent im Jahr 2020 überwunden werden und der Produktionsanstieg auf 2 Prozent anziehen. Ab 2021 will die Regierung dank wirtschaftspolitischer Reformen ein Wirtschaftswachstum von über 3 Prozent erreichen.

Putins ehrgeiziges Ziel: Russland soll auf Rang 5 der größten Volkswirtschaften

Präsident Putin hatte nach seiner Wiederwahl in den „Mai-Dekreten“ das Ziel gesetzt, dass Russland bis zum Jahr 2024 zu den fünf größten Volkswirtschaften der Welt gehören soll (vollständiger Text). Derzeit liegt es in der Liste der Weltbank zu den weltweit größten Volkswirtschaften einen Platz hinter Deutschland auf Platz 6 (gemessen am kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt).

Nachdem die Regierung ihre Wachstumsprognosen für 2018 und 2019 gesenkt hat, erscheint dieses Ziel noch ehrgeiziger als bisher. Nach Schätzungen von Anton Tabakh, Chefvolkswirt der Rating Agentur Expert RA, müsste die russische Wirtschaft um jährlich 4,5 Prozent wachsen, um auf Platz 5 der Weltbank-Liste vorzurücken.

Investitionsquote soll auf 25 Prozent des BIP erhöht werden

Einige Hinweise, wie die Regierung das Wachstum verstärken will, gibt es. Um das Wachstum auf 3 bis 3,5 Prozent zu beschleunigen, billigte die Regierung am 12. Juli Vorschläge von Wirtschaftsminister Oreschkin, mit denen die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote, der Anteil der Investitionen am Bruttoinlandsprodukt, von 21 Prozent im Jahr 2017 auf 25 Prozent im Jahr 2024 erhöht werden soll.

Laut Oreschkin ist dazu erforderlich, die Sparquote der Bevölkerung und die Investitionsaktivitäten der Unternehmen zu erhöhen. Es solle ein Investitionsklima geschaffen werden, das für minimale Kosten für die Unternehmen sorge. Staatliche Regulierungen müssten für sie einfach und vorhersehbar sein. Auch mehr Effizienz in Unternehmen mit staatlicher Beteiligung sei erforderlich.

Fitch Ratings: Wachstumsziel von 3 bis 3,5 Prozent ist „nicht realistisch“

Viele Experten zweifeln aber, dass sich die Regierung zu Reformen entschließt, die neue Wachstumspotenziale freisetzen könnten.

Die Agentur Fitch Ratings meint in ihrem am Freitag veröffentlichten Bericht, sie halte das Ziel, die Investitionsquote auf 25 Prozent des BIP zu erhöhen und so mittelfristig ein Wachstum von 3 bis 3,5 Prozent zu erreichen, nicht für realistisch.

Russlands Wirtschaft sei durch die hohe Abhängigkeit vom Rohstoffsektor und geopolitische Spannungen belastet. Zudem bedeute die unvorhersehbare Entwicklung der Sanktionspolitik der USA ein Risiko für die russische Wirtschaft und das Rating Russlands.

Andererseits lobt Fitch Russlands Geld- und Finanzpolitik. Die Agentur beurteilt auch die Aussichten auf eine Höherstufung des Ratings als „positiv“. Sie verweist auf die flexiblere Wechselkurspolitik zur „Abfederung“ externer Schocks, die strikte Verfolgung eines Inflationsziels und eine „kluge“ Fiskalpolitik. Fitch erwartet, dass der föderale Haushalt 2018 bis 2020 mit Überschüssen schließt (2018: 1 Prozent des BIP, 2019: 1,9 Prozent des BIP; 2020: 0,9 Prozent des BIP).

Helaba: Gesamtwirtschaftliche Stabilität, aber strukturelle Wachstumsbremsen

Auch Ulrich Rathfelder, Analyst der Hessischen Landesbank, konstatierte Anfang August, dass die Lage der russischen Wirtschaft hinsichtlich vieler gesamtwirtschaftlicher Daten (Staatshaushalt, Inflation, Leistungsbilanz, Währungsreserven und Nettogläubigerposition gegenüber dem Ausland) sehr stabil sei. Er stellt aber auch heraus, dass die Investitionsquote mit 21 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für ein Schwellenland unter dem Durchschnitt liegt.

Rathfelder nennt „strukturelle Schwächen“, die ein rascheres Wachstum der russischen Wirtschaft verhindern:

„Mangelnde Rechtssicherheit, schwache Institutionen, staatliche Einmischung in das wirtschaftliche Geschehen, Importsubstitution durch russische Erzeugnisse und ein unterentwickelter Mittelstand bedingen ein niedriges Produktivitätswachstum und belasten das Investitionsklima.“

Reformscheue Regierung fürchtet „innenpolitische Unsicherheiten“

Der Analyst der Helaba betont, dass mehr Wirtschaftswachstum die Voraussetzung dafür ist, dass die von Präsident Putin gesetzten Ziele (besseres Bildungs- und Gesundheitssystem, Verminderung der Armut, höhere Infrastrukturinvestitionen, steigende Gehälter im öffentlichen Dienst, real steigende Renten) erreicht werden. Die Politik zögere aber, die notwendigen Reformen umzusetzen, da mit ihnen „innenpolitische Unsicherheiten“ einhergehen würden.

Neuer Aufschwung durch Ölpreisboom unwahrscheinlich

Die Möglichkeit einer Rückkehr zum Wachstumsmodell „hohe Ölpreise“ hält Rathfelder für unwahrscheinlich. Von 2000 bis 2007 hatte die russische Wirtschaft bei kräftig steigenden Einnahmen aus dem Ölexport und auch dank ungenutzter Produktionskapazitäten ein Wachstum von rund 7 Prozent jährlich erreicht. Eine von Likka Korhonen, dem Leiter des Forschungsinstituts BOFIT der finnischen Zentralbank, veröffentlichte Abbildung zur Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts und des Urals-Ölpreises zeigt den steilen Anstieg der Produktion der russischen Wirtschaft in den beiden ersten Amtsperioden Präsident Putins:

Nach der tiefen Rezession in der Weltfinanzkrise 2008 verzeichnete sie jedoch nur noch deutlich schwächere Wachstumsraten. Die vom Ölpreisverfall und den westlichen Sanktionen ausgelöste Rezession im Jahr 2015 um 2,5 Prozent konnte die russische Wirtschaft mit der 2017 begonnenen moderaten Erholung um 1,5 Prozent noch nicht ausgleichen. Das gelingt erst in diesem Jahr.

Chris Miller: „Growth is good, but retaining power is better“

Auch Chris Miller, „Research Director“ des Eurasien-Programms des Foreign Policy Research Instituts (FPRI) und Assistenz-Professor für internationale Geschichte der Fletcher School of Law and Diplomacy der Tufts Universität in Boston, meint, man könne kaum erwarten, dass es eine Rückkehr zu den hohen Wachstumsraten Anfang und Mitte der 2000er Jahre geben könnte. In seinem im März erschienen Buch „Putinomics: Power and Money in Resurgent Russia legt er eine von führenden Russland-Experten hoch gelobte Analyse der Wirtschaftspolitik Putins vor. Auch in einem 45-Minuten-Interview mit Sean Guillory (Universität Pittsburgh) nahme er zur russischen Wirtschaftspolitik ausführlich Stellung. Über seinen Beitrag in der US-Zeitschrift „Foreign Affairs“ („The Surprising Success of Putinomics: Behind Putin’s Formula for Holding Onto Power“) berichtete Ostexperte.de im Februar.

Als ein Prinzip der Wirtschaftspolitik Präsident Putins stellte Miller in Foreign Affairs heraus, dass privaten Unternehmen zwar Raum für Verbesserungen der Effizienz der Wirtschaft gewährt werde, aber nur dort, wo sie nicht mit politischen Zielen der Regierung in Konflikt geraten. „Strategisch wichtige Bereiche“ seien ihnen versperrt. Miller meint, der Sektor der privaten Unternehmen in Russland könne sich zwar „einige“ Hoffnungen machen, die Effizienz der Wirtschaft zu erhöhen oder das Wirtschaftswachstum anzutreiben, aber nicht „viele“. So sei nun einmal die Logik des Kreml: „Growth is good, but retaining power is better.“

Makroökonomische Stabilität allein bringt nicht mehr Wachstum

Is the Russian Economy ready to boom?“ Diese Frage stellte sich auch Noah Sneider, Moskau-Korrespondent des Wirtschaftsmagazins „The Economist“, in einem von der Unternehmensberatung Roland Berger veröffentlichten Artikel. Wie die Agentur Fitch Ratings hebt Sneider einerseits hervor, dass das russische Finanzministerium und die Zentralbank mit einer „klugen“ Politik auf den Ölpreiseinbruch und die westlichen Sanktionen geantwortet haben. Russland habe so die Inflationsrate auf ein historisches Tief von 2,5 Prozent gedrückt und sei 2017 zu einem moderaten Wirtschaftswachstum zurückgekehrt. Das Rating russischer Staatsanleihen habe sich verbessert. Die neue „Fiskalregel“ gewährleiste, dass die Währungsreserven wieder aufgefüllt werden. Einnahmen infolge von Ölpreisen über 40 Dollar/Barrel würden gespart.

Auch Sneider meint aber, dass makroökonomische Stabilität allein nicht ausreicht, um ein stärkeres Wachstum der Wirtschaft zu erreichen. Er gibt unter anderem Hinweise, was der frühere Finanzminister und heutige Präsident des Rechnungshofes Alexei Kudrin zu den Schwächen der russischen Wirtschaft meint.

Kudrin: Russland braucht strukturelle und institutionelle Reformen

Kudrin, der von Präsident Putin beauftragt wurde, Vorschläge für Reformen zu entwickeln, kam zu dem Schluss:

“The main problems lie within Russia and they are structural and institutional.”

Sneider meint dazu, vor allem der Staat nehme in der russischen Wirtschaft wieder zu viel Platz ein. Nach Angaben der Anti-Monopol-Behörde habe sich der Anteil des Staates am Bruttoinlandsprodukt allein im letzten Jahrzehnt von rund 35 Prozent auf rund 70 Prozent verdoppelt. Innovation und Wettbewerb würden darunter leiden. Hinzu komme, dass Russlands Wirtschaft zu abhängig von natürlichen Ressourcen sei, weil lange zu wenig in Humankapital investiert wurde. Die Konfrontation mit dem Westen habe Investitionen in Wirtschaft und Technologie erschwert.

Kudrin schrieb nach der Präsidentenwahl, die Regierung habe nur zwei Jahr Zeit, eine „Agenda des Wandels“ zu verwirklichen. Sneider meint allerdings, aktuelle Signale aus dem Kreml deuteten darauf hin, dass die Regierung viel weniger ehrgeizige Ziele verfolge, sich also wohl viel mehr Zeit nehmen werde.

Wie sich zwei deutsche Wissenschaftler streiten: Ist Russland ein reformunfähiger „korrupter Petrostaat“ oder auf dem Weg zu „substanziellen Reformen“?

Andreas Umland, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Euro-Atlantische Kooperation in Kiew, beschreibt Russland in einem NZZ-Gastkommentar als korrupten Petrostaat, der Wachstum nur bei hohen Energiepreisen erzeugen kann:

„Solange der Erdölpreis nicht erneut in die Höhe schnellt, wird die Ineffizienz und Perspektivlosigkeit des gegenwärtigen sozioökonomischen Systems immer deutlicher zutage treten. Russland ist und bleibt bis auf weiteres ein von Korruption durchsetzter Petrostaat, der stabiles Wachstum nur bei permanent hohen Energiepreisen und günstiger Aussenwirtschaftslage generieren kann. Ohne solche Bedingungen wird der Kuchen, den die verschiedenen Rentenabschöpfer untereinander aufteilen, mit jedem Jahr kleiner werden.“

Der Publizist Christian Wipperfürth hält es hingegen in einer von „Russland kontrovers“ veröffentlichten Antwort auf Umlands Thesen für wahrscheinlich, dass Russland aus der strukturellen Krise herausfinden wird. Zur Begründung verweist er unter anderem darauf, dass die russische Führung seit kurzem „substanzielle Reformen“ angehe. Präsident Putin habe seit seiner Wiederwahl sehr deutlich gemacht, dass die innere Entwicklung im Zentrum seiner Amtszeit stehen werde:

„Die russische Führung scheint den großen Ernst der Lage erkannt zu haben. Die gesteckten Ziele in der Infrastruktur, der Bildung oder der Wirtschaftsstruktur sind sehr ehrgeizig und kostenaufwändig. Hierzu bedarf es umgerechnet 120 Mrd. Euro in den nächsten sechs Jahren. Darum wird die Mehrwertsteuer von 18% auf 20% erhöht und eine umfassende Rentenreform angegangen.“

Was zwei Praktiker vorschlagen: Probleme gemeinsam angehen und die Arbeitsbedingungen für Unternehmen weiter verbessern

Auch OAOEV-Geschäftsführer Michael Harms betonte in einem Interview mit Ostexperte.de Chefredakteur Thorsten Gutmann Anfang Juli, er glaube, dass die russische Politik die Ursachen der Wachstumsschwäche der russischen Wirtschaft erkannt habe:

„Ursache für die Probleme sind Faktoren, die auch in jeder Rede Wladimir Putins vorkommen: Zu viel Staatseinfluss, zu wenig Mittelstand, mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit, mangelnde Innovationen.“

„Wir sollten versuchen, das gemeinsam anzugehen“, meinte Harms. Die russische Führung setze stark auf eine Partnerschaft mit deutschen Firmen.

„Es sollte auch in unserem Interesse sein, die Effizienz der russischen Industrie anzuheben, weil wir Maschinen bauen und unsere technischen Lösungen anbieten können. Davon würden letztlich alle Seiten profitieren.“

Unternehmensberater Ulf Schneider, Geschäftsführender Gesellschafter der SCHNEIDER GROUP, verweist in einem Kommentar auf die Fortschritte Russlands im Doing-Business-Ranking der Weltbank. Russland rückte bei diesem internationalen Vergleich der Arbeitsbedingungen für Unternehmen innerhalb weniger Jahre sprunghaft von Platz 120 auf Platz 35 vor. Schneider streicht heraus, gerade in Bereichen, in denen man es nicht vermuten würde, liege Russland im internationalen Vergleich weit vorn, etwa bei der Registrierung von Eigentum und der Rechtsdurchsetzung. Diese Entwicklung sei kein Zufall, sondern das Produkt solider, harter und langfristiger Arbeit. Vor mehr als zehn Jahren habe die Regierung eine Roadmap zum Bürokratieabbau aufgesetzt.

Dass die neue Regierung „bahnbrechende Reformen“ durchführt sei zwar nicht zu erwarten, so Schneider. Sie habe aber die Chance, solide Arbeit zu machen, indem Sie einen neuen Plan für einen weiteren Bürokratieabbau erstellt.

Quellen und Lesetipps zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik

Konjunkturprognosen für Russland:

Konjunkturumfragen; Prognosenvergleiche:

Russisches Wirtschafts und Finanzministerium zu Konjunktur und Haushaltsplanung:

Russische Zentralbank zu Geldpolitik und Konjunktur; Sonstige Berichte zur Geldpolitik:

Russisches Statistikamt Rosstat zur Konjunktur:

Weitere Konjunkturberichte aus Russland von
Forschungsinstituten, Wirtschaftsverbänden, Rating-Agenturen, Banken:

Konjunktur- und Länderberichte zu Russland aus dem Ausland,
insbesondere Berichte von internationalen Wirtschaftsorganisationen, Rating-Agenturen:

Deutsche Regierung und deutsche Wirtschaftsverbände zur russischen Wirtschaft;
deutsch-russische Wirtschaftsbeziehungen:

TOP-Thema: Wirtschaftsordnung in Russland; Reformpolitik

TOP-Thema: Sanktionspolitik und Rubelkurs

TOP-Thema: Finanzpolitik, insbesondere Mehrwertsteuererhöhung und Haushaltspolitik

TOP-Thema: Rentenreform

Sonstige Konjunkturberichte und Kommentare zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik:

Bücher und Studien zur russischen Wirtschaft

Weitere Artikel von Klaus Dormann bei Ostexperte.de:

Titelbild
Quelle: Viacheslav Lopatin | Shutterstock.com[/su_spoiler]