Russlands Zentralbank dämpft Wachstumshoffnungen

Russlands Zentralbank dämpft Wachstumshoffnungen

Wachstumspotenzial beträgt höchstens 2 Prozent; früherer Wirtschaftsminister glaubt nicht an baldige Reformen

Am Freitag hat die russische Zentralbank entschieden, den Leitzins erneut nicht weiter zu senken, sondern bei 7,25 Prozent zu belassen. In ihren Szenarien für die Entwicklung der russischen Wirtschaft bis 2020 geht sie weiterhin davon aus, dass nur 1,5 bis 2 Prozent Wachstum erreichbar sind. Wie fast alle Beobachter sehen auch die Weltbank und die Deutsche Bank das ähnlich.

Mehrwertsteuererhöhung wird sich auf Preise auswirken

Einen Tag vor der Zinsentscheidung der Zentralbank hatte die Regierung mitgeteilt, dass sie 2019 den Mehrwertsteuersatz um 2 Prozentpunkte von 18 auf 20 Prozent erhöhen will. Diese Steuererhöhung werde die Preisentwicklung im nächsten Jahr beeinflussen, kommentiert die Zentralbank. Die Ankündigung der Steuererhöhung werde sich auch in den Inflationserwartungen niederschlagen. Wie stark sich zudem der nach der Verschärfung der Sanktionen im April eingetretene Kursverfall des Rubel auf die Preisentwicklung in Russland auswirken wird, bleibe in den kommenden Monaten noch abzuwarten.

Die Zentralbank geht im gleichzeitig mit der Zinsentscheidung veröffentlichten “Monetary Policy Report“ davon aus, dass der Anstieg der Verbraucherpreise am Jahresende 2018 3,5 bis 4 Prozent erreichen wird. Ende 2019 dürfte er eher etwas höher sein (4 bis 4,5 Prozent). Vor einem Vierteljahr hatte sie noch keine Spanne für die Inflationsrate Ende 2019 genannt, sondern angenommen, dass ihr Inflationsziel von 4 Prozent Ende 2019 erreicht sei.

Zentralbank erwartet weiterhin nur 1,5 bis 2 Prozent Wachstum

Im „Monetary Policy Report“, der auch Szenarien zur Produktionsentwicklung enthält, bleibt die Zentralbank bei ihren im März genannten Wachstumserwartungen. Sie rechnet 2018 und in den beiden folgenden Jahren mit einem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um jeweils 1,5 bis 2,0 Prozent.

Russlands Produktionsanstieg liegt damit weiterhin deutlich unter dem Wachstum der Weltwirtschaft. Die Weltbank veranschlagte es Anfang Juni in „Global Economic Prospects“ in diesem Jahr auf 3,1 Prozent (in der Region „Europa und Zentralasien“: + 3,2 Prozent). Demgegenüber erwartet die Weltbank in Russland 2018 nur einen knapp halb so hohen Produktionsanstieg (+ 1,5 Prozent).#

Höhere Ölpreise bringen kein Wachstumsplus

Neben einem „Basisszenario“, in dem die Zentralbank davon ausgeht, dass der 2018 bisher unerwartet hohe Urals-Ölpreis 2019 auf 55 Dollar und 2020 auf 50 Dollar sinkt, veröffentlichte die Zentralbank ein Szenario, in dem sie annimmt, dass sich der Ölpreis bei 70 Dollar/Barrel hält.

Wachstumstreibende Effekte erwartet sie von diesen höheren Ölpreisen aber nicht. Sie sieht das Wachstum der russischen Wirtschaft auf 1,5 Prozent bis 2,0 Prozent begrenzt, unabhängig davon, ob der Ölpreis bis 2020 auf 50 Dollar/Barrel sinkt oder 70 Dollar/Barrel erreicht.

Zur Erklärung meint die Zentralbank, die russische Wirtschaft reagiere weniger als früher auf Veränderungen der außenwirtschaftlichen Bedingungen. Zum Teil sei dies auf die Anwendung der „Budget-Regel“ zurückzuführen. Sie sieht vor, dass Einnahmen des Staates, die steigenden Ölpreisen zu verdanken sind, gespart werden müssen.

Von der Fußball-Weltmeisterschaft erwartet die Präsidentin der Zentralbank, Elvira Nabiullina, nur geringe Wachstumsimpulse (0,1 bis 0,2 Prozentpunkte). Zu den Auswirkungen auf die Preisentwicklung meinte sie, höhere Preise werde es nur vorübergehend geben „in einzelnen Städten, bei einzelnen Waren und Dienstleistungen, für die vor allem Touristen bezahlen“.

Prognosen gesamtwirtschaftliche Produktion in Russland (18. Juni 2018)

Schätzung des Bruttoinlandsprodukts, real gegenüber dem Vorjahr, angegeben in Prozent.
InstitutDatum201820192020
Russische Zentralbank;
Basisszenario
15.06.181,5 bis 2,0
Urals 67$/b
1,5 bis 2,0
Urals 55 $/b
1,5 bis 2,0
Urals 50 $/b
Russische Zentralbank;
Szenario „unveränderte Ölpreise“
15.06.181,5 bis 2,0
Urals 69$/b
1,5 bis 2,0
Urals 70 $/b
1,5 bis 2,0
Urals 70 $/b
Commerzbank, Frankfurt15.06.181,31,7
Berenberg Bank, Hamburg15.06.181,91,8
Fitch Rating15.06.181,81,91,5
Deka Bank, Frankfurt12.06.181,51,8
OPEC12.06.181,8
Danske Bank, Kopenhagen08.06.182,02,12,2
Eurasian Development Bank07.06.181,81,81,7
Economist-Umfrage07.06.181,81,7
Helaba, Frankfurt07.06.181,81,7
Weltbank; Global Economic Prospects05.06.181,51,81,8
FocusEconomics Consensus Forecast05.06.181,71,8
Reuters-Umfrage31.05.181,61,71,7
OECD30.05.181,81,5
RIA Rating25.05.181,8
HSE-Umfrage (24.04. - 04.05.2018)22.05.181,71,71,6
Macro Advisory, Chris Weafer; Moskau18.05.181,61,82,0
SEB, Stockholm16.05.181,82,2
Economist Intelligence Unit16.05.181,71,81,6
IWF15.05.181,71,5
EBRD, London11.05.181,51,5
DIHK11.05.181,7
EU Kommission03.05.181,71,6
Alfa Bank27.04.181,0
Nordea24.04.181,21,3
Gemeinschaftsdiagnose dt. Institute19.04.181,71,6

Deutsche Bank: „Potenzialwachstum“ nur 2 Prozent

Ulrich Stephan, Chef-Anlagestratege für Privat- und Firmenkunden der Deutschen Bank, meint in einer Kolumne in „BÖRSE am Sonntag“, Russland habe im Vergleich zu anderen Schwellenländern mit 2 Prozent ein schwaches „Potenzialwachstum“. Das heiße, stärker als 2 Prozent könne die russische Wirtschaft unter optimaler Kapazitätsauslastung nicht wachsen, ohne Inflation zu generieren. In diesem Jahr erwarte die Deutsche Bank ein Wachstum von 1,8 Prozent in Russland.

Nachhaltige Impulse von der Fußball-WM unwahrscheinlich

Zu den Wachstumseffekten der Fußball-WM weist Stephan darauf hin, die Unternehmensberatung McKinsey gehe davon aus, dass die mit dem Turnier verbundenen Investitionen in den fünf Jahren vor WM-Austragung mit rund 1 Prozent zum russischen Bruttoinlandsprodukt beigetragen hätten. Dass die russische Wirtschaft von der Fußball-WM jedoch „nachhaltige Impulse“ erhalte, hält der Chef-Anlagestratege für „unwahrscheinlich“.

Kurzfristig könnten lediglich einzelne Branchen von der Ausrichtung des Turniers profitieren. Neben dem Baugewerbe, das den größten Schub bereits erhalten haben dürfte, könnten das insbesondere Unternehmen aus dem Gastgewerbe, dem Transportsektor oder der Telekommunikationsbranche sein. Nachhaltig dürften nur einige wenige Infrastrukturmaßnahmen Potenzial für die russische Konjunktur bieten – zum Beispiel die Erweiterungen von Flughäfen und Straßen.

Stephans Fazit zu den Vorteilen der WM für Russland:

„Beim aus Sicht der Deutschen Bank ohnehin kaum erreichbaren Ziel Putins, Russland bis 2024 von Platz 11 auf Platz 5 der größten Volkswirtschaften der Welt zu hieven, dürfte die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft kaum eine Hilfe sein. Immerhin bietet das Turnier aber die Chance, sich als weltoffenes Land zu präsentieren und Imagepflege zu betreiben.“

Die Ökonomen der Danske Bank, die in ihrem vierteljährlichen Bericht zur russischen Wirtschaft Anfang Juni nicht nur Prognosen zu Wirtschaftsdaten, sondern auch zum Ausgang der Weltmeisterschaft vorlegten, vermuten immerhin, dass die WM durch den Zufluss von Devisen den Rubel-Kurs stützen könnte.

Analysten-Umfragen bestätigen Zentralbankprognosen

Die aktuellen Wachstumserwartungen von Bank-Analysten und internationalen Wirtschaftsorganisationen für 2018 und 2019 liegen weiterhin fast alle innerhalb der von der Zentralbank genannten Spanne von 1,5 bis 2,0 Prozent.

Die Anfang April angekündigte Verschärfung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland durch die USA hat die Wachstumserwartungen in den letzten beiden Monaten im Durchschnitt nur wenig sinken lassen. Sowohl das Research-Unternehmen „FocusEconomics“ als auch das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ ermittelten bei ihren Umfragen Ende Mai für die Wachstumserwartungen im Jahr 2018 mit 1,7 Prozent und 1,8 Prozent nur um jeweils 0,1 Prozentpunkte niedrigere Werte als zwei Monate zuvor.

Mehr Wachstum nur bei „strukturellen“ Reformen

Auch die Analysten der Danske Bank vermissen – wie viele andere Beobachter – bisher „strukturelle Reformen“ in Russland. Die hohen Kreditkosten und die ungünstige demografische Lage hätten im Verein mit den westlichen Sanktionen bisher einen kräftigen Aufschwung der Investitionen verhindert. So sieht auch die Danske Bank das Wachstumspotential der Wirtschaft bis 2020 auf rund 2 Prozent beschränkt.

Anhebung der Altersgrenze kann Wachstum fördern

Auf längere Sicht kann die jetzt von der Regierung angekündigte Erhöhung des Rentenalters das Wachstumspotenzial anheben. Sie wird die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte erhöhen. Oleg Kouzmin, Ökonom der russischen Investmentbank „Renaissance Capital“, meint, die Maßnahme könnte mittelfristig das Wachstum um einen halben Prozentpunkt erhöhen. Das berichtet Bloomberg.

Der frühere Finanzminister und jetzige Präsident des Rechnungshofes Kudrin unterstützt die Pläne der Regierung zur Anhebung des Altersgrenze – ebenso wie die 2019 beabsichtigte Erhöhung der Mehrwertsteuer.

Früherer Wirtschaftsminister Netschajew glaubt nicht an Reformen

Liza Ermolenka, Analystin der Londoner Bank „Barclays Capital“, meint zu den Beschlüssen der Regierung, es sei ermutigend, dass jetzt bei steigenden Ölpreisen Steueränderungen beschlossen würden. Bisher habe die Regierung in Zeiten hoher Ölpreise, die den Handlungsdruck schwächten, Reformen oft aufgeschoben, sagte sie Bloomberg.

Andrej Netschajew, 1992/1993 russischer Wirtschaftsminister und jetzt Vorsitzender der 2013 gegründeten liberalen Partei „Bürgerinitiative“, glaubt aber nicht an baldige Reformen. Er meinte in einem am Sonntag veröffentlichten Gespräch mit deutschen Journalisten:

„Ich bin da sehr pessimistisch. Russland braucht dringend Reformen: in der Bildung, im Militär, in der Steuerverwaltung, bei den Pensionen – Letzteres ist eine Mine, die in zehn Jahren explodieren wird.

Aber Reformen sind immer ein Risiko für die Popularität. Als unsere Regierung unter Präsident Boris Jelzin die Reformen begonnen hatte, genoss dieser eine unglaubliche Popularität. Er gewann die freien Wahlen mit absoluter Mehrheit. Nach den Reformen rutschten seine Umfragewerte auf 1,5 Prozent ab.

Das weiß Putin genau. Deshalb bin ich so pessimistisch, was künftige Reformen angeht.“

Quellen und Lesetipps zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik

Neue Konjunkturprognosen:

Zentralbank zu Konjunktur und Geldpolitik; Berichte zur Geldpolitik:

Statistikamt Rosstat zur Konjunktur:

Wirtschaftsministerium zur Konjunktur:

Präsident Putin zur Wirtschaftslage in Russland im ORF-ZIB2-Interview mit Armin Wolf am 04.06.2018 vor seinem Österreich-Besuch:

Sonstige Berichte und Kommentare zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik:

Titelbild
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