Verwirrende Prognosen zur russischen Wirtschaft – Wem kann man trauen?

„Bundesregierung rechnet mit Wirtschaftseinbruch in Russland um 15 Prozent“, verkündete jüngst eine Schlagzeile des Deutschlandfunks. Ein Beispiel für die verwirrende Berichterstattung in vielen deutschen Medien über die Wirksamkeit der Sanktionen gegenüber Russland. Denn es mehren sich Analysen, die einen weitaus schwächeren Einbruch vorhersagen.

„Bundesregierung rechnet mit Wirtschaftseinbruch in Russland um 15 Prozent“. Das verkündete seit dem 21. August eine Schlagzeile auf der Internetseite des Deutschlandfunks (Anm. d. Red.: der Link zu der Deutschlandfunkseite-Seite wurde wieder entfernt, da er nicht mehr funktionierte, möglicherweise vom Deutschlankfunk kürzlich geändert). Sie ist ein Beispiel für die verwirrende Berichterstattung in vielen deutschen Medien über eine Stellungnahme des Bundeswirtschaftsministeriums zur Wirksamkeit der Sanktionen gegenüber Russland.

Gleichzeitig mehren sich Analysen, dass die russische Wirtschaft in diesem Jahr bei weitem nicht so stark einbrechen wird, wie im Frühjahr von vielen erwartet wurde. Einige renommierte Beobachter erwarten für 2022 sogar einen Rückgang des BIP um nur 3,5 Prozent. Die Rezession wäre damit schwächer als die russische Regierung einplant (- 4,2 Prozent). Die unerwartet günstige Entwicklung der Industrieproduktion im Juli stützt die Erwartungen einer „milderen“ Rezession.

Professor Mangott: „Russische Wirtschaft sehr viel resilienter als erwartet“

Die Prognose der russischen Regierung, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr nur um 4,2 Prozent sinken dürfte (Reuters-Bericht), wird in Deutschland nur selten erwähnt. Eine Ausnahme ist ein am Freitag erschienener Focus-Gastbeitrag von Gerhard Mangott, Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck mit den Schwerpunkten Internationale Beziehungen und Sicherheit im postsowjetischen Raum. Prof. Mangott veröffentlichte den Beitrag auch auf seinem Blog.

Mangott meint zwar, dass man der Rezessionsprognose von – 4,2 Prozent nicht trauen könne. Gleichzeitig hebt er aber hervor, dass sich die russische Wirtschaft bisher als sehr viel resilienter als erwartet erwiesen habe. Er verweist darauf, dass der IWF seine Rezessionsprognose auf – 6 Prozent gesenkt hat:

„Die russische Wirtschaft ist bislang sehr viel resilienter als erwartet. Nach sieben Sanktionspaketen der EU und Sanktionen der USA und anderer westlicher Länder ist ein Zusammenbruch der russischen Wirtschaft ausgeblieben. Die Zentralbank Russlands erwartet für dieses Jahr einen Rückgang des BIP um 4,2 Prozent. Zwar kann man diesen Zahlen nicht trauen, aber auch der Internationale Währungsfonds geht in seiner jüngsten Prognose von einem Einbruch von „nur“ 6 Prozent für 2022 aus.“

Wenige Tage zuvor hat Professor Mangott bereits in einem Kurier-Podcast ausführlich zu den Folgen der Sanktionen für die russische Wirtschaft Stellung genommen. Am Schluss des Interviews (Min. 16:30) verwies er auf Prognosen der Zentralbank, dass die russische Wirtschaft in diesem Jahr zwischen 8 und 11 Prozent schrumpfen werde. Tatsächlich erwartet die Zentralbank jedoch in ihrer „mittelfristigen Prognose“ bereits seit dem 22. Juli, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion 2022 nur um 4 bis 6 Prozent niedriger sein dürfte als 2021.

„The Economist“: Warum sich die russische Wirtschaft besser als erwartet hält

Auch das englische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ stellte in der letzten Woche in einer ausführlichen Analyse fest, dass sich die russische Wirtschaft viel besser als erwartet entwickelt hat. Die Erlöse aus dem Verkauf von Kohlenwasserstoffen ermöglichten einen Rekordüberschuss in der Leistungsbilanz.

„The Economist“ nennt drei Faktoren, warum sich die russische Wirtschaft besser als erwartet entwickelt:

Erstens gebe es in der russischen Zentralbank hochqualifizierte Personen, die durch rasches Handeln einen wirtschaftlichen Kollaps verhinderten. Die Verdoppelung des Leitzinses im Februar in Verbindung mit Kapitalverkehrskontrollen habe zur Stärkung des Rubel und zur Senkung der Inflation beigetragen.

Zweitens habe es in Russland in den letzten 25 Jahren 5 Wirtschaftskrisen gegeben. Die russische Bevölkerung habe gelernt damit umzugehen und nicht in Panik zu geraten (und auch nicht zu rebellieren). Einige Bereiche der russischen Wirtschaft seien zudem bereits seit langem vom Westen „isoliert“.

Drittens hätten die Sanktionen bisher wenig Auswirkungen auf die Ölproduktion gehabt. Seit dem Beginn der „Sonderoperation“ habe Russland durch den Verkauf von fossilen Brennstoffen an die EU Erlöse in Höhe von rund 85 Milliarden US-Dollar erzielt.

„The Economist“ folgert: Die Sanktionen werden im Laufe der Zeit ihren Tribut kosten. Russland wird minderwertige Produkte zu höheren Kosten produzieren.

Eine Prognose, um wie viel Prozent die gesamtwirtschaftliche Produktion 2022 sinken dürfte, nennt der Artikel jedoch nicht. Die Economist Intelligence Unit, die Research-Abteilung des Wirtschaftsmagazins, hat ihre Prognose für den diesjährigen Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts Mitte August von – 10,0 auf – 7,7 Prozent gesenkt.

Der Economist-Artikel ist auch in der internationalen Presseschau Inosmi.ru der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti in russischer Sprache verfügbar.

Zu ähnlichen Ergebnissen wie „The Economist“ kommt eine Analyse der Washington Post:

Western sanctions are wounding but not yet crushing Russia’s economy. Economists agree the damage is mounting and will degrade Russia in the long term, but the short-term impact is decidedly mixed.“

„Bloomberg Economics“ und JPMorgan erwarten nur 3,5 Prozent Rezession

Einige renommierte westliche Research-Abteilungen veranschlagen die diesjährige Rezession in Russland sogar niedriger als die russische Regierung.

„Bloomberg Economics“ erwartet lediglich einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 3,5 Prozent. Alexander Isakov, Ökonom bei „Bloomberg Economics“, meint, die unerwartet günstige Entwicklung der Industrieproduktion im Juli unterstütze diese „milde“ Bloomberg-Prognose, Das berichtet auch bne Intellinews.

Auch die New Yorker Bank JPMorgan, eine der weltweit größten Banken, rechnet für dieses Jahr in Russland lediglich mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 3,5 Prozent. Anatoliy Shal, Ökonom bei JPMorgan, kommentierte die Perspektiven der russischen Wirtschaft laut einem Bericht des Research-Unternehmens FocusEconomics vom 12. August so:

“We expect a fairly quick economic stabilization thanks to substantial policy support to growth and economy’s adaptation to new conditions, seeing sequential growth at close to zero by Q4 2022; we maintain our -3.5% growth forecast for this year and -1.0% for next. Yet, contrast to previous episodes, we don’t expect any strong bounce, i.e. the recovery is likely to be L-shaped, not V-shaped. And, in the long-run, sanctions will be a significant drag on Russia’s potential growth.”

JP Morgan erwartet also dank der Unterstützung von Seiten der Regierung eine ziemlich schnelle wirtschaftliche Stabilisierung in Russland. Die Wirtschaft werde sich an die neuen Rahmenbedingungen anpassen. Die Veränderung des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorquartal werde im vierten Quartal 2022 nahe bei Null liegen.

Die Bank behält ihre Rezessionsprognose für das Gesamtjahr 2022 von 3,5 Prozent bei und erwartet für das Jahr 2023 weiterhin einen Rückgang der Produktion um 1,0 Prozent.

Sie geht jedoch nicht mehr von einem starken Aufschwung der russischen Wirtschaft aus. Der Verlauf der Erholung werde wahrscheinlich L-förmig sein, nicht V-förmig.

Anatoliy Shal betont abschließend, dass die Sanktionen das potenzielle Wachstum der russischen Wirtschaft auf lange Sicht erheblich belasten werden.

Die Industrieproduktion war in den ersten sieben Monaten ein Prozent höher

Die russische Industrieproduktion entwickelte sich im Juli im Vorjahresvergleich deutlich besser als Analysten erwartet hatten. Sie war nur 0,5 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Analysten hatten bei einer Umfrage mit einem viel stärkeren Rückgang um 2,4 Prozent gerechnet berichtet Trading Economics.

Gegenüber dem Vormonat stieg die Industrieproduktion laut dem Statistikamt Rosstat im Juli saison- und kalenderbereinigt um 1,2 Prozent. In den ersten sieben Monaten 2022 war sie 1,0 Prozent höher als von Januar bis Juli 2021.

Die folgende Rosstat-Abbildung zeigt mit Hilfe von Indizes, wie sich die Industrieproduktion gegenüber 2019 verändert hat. Die gelbe Linie zeigt die unbereinigte Entwicklung. Für die Konjunkturentwicklung interessant ist vor allem die blaue Linie der saison- und kalenderbereinigten Entwicklung.

Indizes zur monatlichen Entwicklung der Industrieproduktion, 2019 = 100
gelbe Linie: Unbereinigte Industrieproduktion;  blaue Linie:  saison – und kalenderbereinigte Industrieproduktion; rote Linie: Trend

Rosstat: Industrieproduktion im Juli 2022; 24.08.2022

Im Juli 2022 war die Industrieproduktion saison- und kalenderbereinigt 4,2 Prozent höher als 2019 (nach Zuwächsen um jeweils 2,9 Prozent im April, Mai und Juni). Nach der Erholung vom „Corona-Tief“ im Frühjahr 2020 hatte die Industrieproduktion saison- und kalenderbereinigt im Dezember 2021 gegenüber 2019 einen Zuwachs um 7,7 Prozent erreicht (blaue Linie). Im Verlauf des ersten Halbjahres sank sie im Trend (rote Linie, von der blauen Linie fast verdeckt).

Deutliche Erholung der Produktion im Verarbeitenden Gewerbe

Laut ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der staatlichen Vnesheconombank war die Industrieproduktion im Juli 2022 saisonbereinigt um 1,4 höher als im Juni (schwarze Linie in der folgenden Abbildung).

Dabei erholte sich die Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“, die im Verlauf des ersten Halbjahres deutlich gesunken war, gegenüber Juni um 3,7 Prozent (dunkelgrüne Linie). Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ fiel hingegen im Juli bei einer Abnahme der Produktion von Kohle und Erdgas im Vormonatsvergleich um 1,0 Prozent (hellgrüne Linie).

Index der Industrieproduktion, saisonbereinigt (2014=100)

Forschungsinstitut Vnesheconombank:  World Economy and Markets Review, 26.08.2022

Im „Verarbeitenden Gewerbe“ wuchs der Bereich „Metallurgie“ im Juli gegenüber Juni besonders stark (+ 12,9 Prozent). Der Maschinenbau verzeichnete im Juli gegenüber Juni bei Zuwächsen der Produktion von Personenkraftwagen und Computern erstmals wieder einen Anstieg der Produktion (+ 2,6 Prozent). Zuvor war die Maschinenbau-Produktion sechs Monate in Folge gegenüber dem Vormonat gesunken. Zuwächse gab es auch in der Chemie-Industrie, der Mineralölverarbeitung und der Nahrungsmittel-Industrie.

Olga Belenkaya, Finanzportal Finam.ru, nimmt in einer ausführlichen Analyse der Entwicklung der Industrieproduktion auch die PKW-Produktion unter die Lupe. Nachdem sie im Mai nur noch 3 Prozent des Vorjahresniveaus erreicht habe und im Juni 11 Prozent sei die PKW-Produktion im Juli auf 19 Prozent des Vorjahresniveaus gestiegen. Dieser Anstieg dürfte dem Übergang von Avtovaz zur 5-Tage-Woche und dem Beginn der Fertigung von „neuen“ (alten) technisch vereinfachten Lada-Modellen zu verdanken sein.

Eine umfassende Analyse der Industrieproduktion im Juli veröffentlichte auch das „Zentrum für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognosen, CMASF“. Darin vergleicht es unter anderem die leicht unterschiedlichen Ergebnisse der Berechnungen von Rosstat und verschiedener Institute zur saisonbereinigten Entwicklung der Industrieproduktion.

Rechnet die Bundesregierung mit 15 Prozent Rezession in Russland?

Im Streit über die Frage, wie stark die russische Wirtschaft von den Sanktionen betroffen ist und ob Russland vielleicht sogar weniger unter den Sanktionen zu leiden hat als Deutschland, werden in deutschen Medien sehr widersprüchliche Informationen zur Entwicklung der russischen Wirtschaft vermittelt. Das zeigt auch ein Vergleich von Berichten zu einer Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Sören Pellmann (Die Linke) zu den Sanktionswirkungen.

Die Nachrichtenagentur dpa berichtete vorab zu der bisher unveröffentlichten Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums unter anderem:

„Die Bundesregierung hält die wegen des Ukraine-Kriegs verhängten Sanktionen für wirksam und erwartet in Russland einen Wirtschaftseinbruch von bis zu 15 Prozent in diesem Jahr.“

Viele deutsche Medien zitierten diesen Satz korrekt. Auf der Internetseite des als Nachrichtenquelle von vielen besonders geschätzten Deutschlandfunks ist zum dpa-Bericht jedoch folgende Schlagzeile zu lesen:

„Bundesregierung rechnet mit Wirtschaftseinbruch in Russland um 15 Prozent.“

Mit dieser Überschrift vermittelt der Deutschlandfunk den Eindruck, dass die Bundesregierung 2022 einen rund drei Mal so starken Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Russland erwartet wie die russische Zentralbank, die den diesjährigen Rückgang des BIP auf 4 bis 6 Prozent veranschlagt.

Bundeswirtschaftsministerium: „Seriös“ sind Prognosen von – 6 bis – 15 Prozent

Laut dem dpa-Bericht antwortete das Bundeswirtschaftsministerium auf die Anfrage außerdem:

„Die Sanktionen treffen die russische Wirtschaft empfindlich und werden weitere Wirkung
entfalten. Seriöse Berechnungen prognostizieren eine Rezession in Russland, das heißt eine Reduktion des russischen Bruttoinlandsprodukts in einer Spanne von 6 bis 15 Prozent für das Jahr 2022.“

Eine eigene Rezessionsprognose gibt das Wirtschaftsministerium also nicht ab. Es nimmt aber eine „Klassifizierung” von Prognosen vor. Als „seriös” bezeichnet es eine breite Spanne von Rezessionsprognosen von – 6 bis – 15 Prozent.

Gerade noch „seriös“ ist also nach Meinung des Wirtschaftsministeriums die Prognose des Internationalen Währungsfonds (- 6 Prozent). „Unseriös“ sind laut der Klassifizierung des Ministeriums nicht nur die Prognosen der russischen Regierung (- 4,2 Prozent), sondern zum Beispiel auch die Prognosen der Frankfurter DekaBank (des Wertpapierhauses der deutschen Sparkassen Finanzgruppe; – 5,5 Prozent), von Bloomberg Economics und von  JP Morgan (jeweils – 3,5 Prozent).

Wachstumsprognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland
von
Klaus Dormann:

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Valery Bocman / Shutterstock.com