Klarer Trend: Russlands BIP sinkt 2022 weniger als bisher erwartet

Die Meinungen von Banken und Forschungsinstituten gehen immer noch weit auseinander. Wie stark wird die Produktion der russischen Wirtschaft unter dem Druck der westlichen Sanktionen in diesem Jahr sinken? Russische Analysten erwarten im Durchschnitt weiterhin eine deutlich mildere Rezession als ausländische Beobachter, die offenbar stärker von der Wirksamkeit der Sanktionen überzeugt sind.

Es gibt aber auch einen gemeinsamen Trend: Die diesjährige Rezession der russischen Wirtschaft wird in Russland wie im Ausland inzwischen deutlich niedriger veranschlagt als kurz nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs. So senkte die russische Zentralbank ihre Rezessionsprognose im Juli in ihrer „mittelfristigen Vorausschau“ auf 4 bis 6 Prozent (und bestätigte diese Prognose in ihrem „Monetary Policy Report“ am 01. August). Der Internationale Währungsfonds geht in seinem „World Economic Outlook“ jetzt nur noch von einer Rezessionsrate von 6 Prozent für 2022 aus. Und auch die Ende Juli weitgehend außerhalb Russlands durchgeführte Umfrage des in Barcelona ansässigen Research-Unternehmens FocusEconomics lässt eine spürbar mildere Rezession als bisher erwarten.

Das Forschungsinstitut der staatlichen russischen Vnesheconombank (Bank für Außenwirtschaft) nahm seine Rezessionsprognose für 2022 am Freitag in seinem Wochenbericht sogar weiter auf minus 4,6 Prozent zurück. Im Vergleich damit wird von einigen westlichen Banken und Instituten noch mit einer rund doppelt so starken Rezession gerechnet.

Wachstumsprognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Quelle: Darstellung des Autors

Juli-Umfrage von FocusEconomics: 2022 sinkt das BIP um 8,1 Prozent

FocusEconomics befragt monatlich weltweit wohl die meisten Banken und Institute zur Konjunkturentwicklung in Russland. Im Juli wurden 35 Prognosen erfasst. Darunter stammen allerdings nur rund 10 Prozent aus Russland. Zudem werden auch einige Prognosen berücksichtigt, die nur vierteljährlich aktualisiert werden.

Laut der jüngsten Umfrage erwarten die Teilnehmer jetzt im Durchschnitt, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion in Russland 2022 um 8,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr sinkt. Drei Monate zuvor wurde Ende April als „Consensus“ noch ein deutlich stärkerer Einbruch der Produktion um 10,2 Prozent ermittelt (siehe schwarze Linie auf der linken Seite in der folgenden Abbildung). Ende Mai war die Rezessionserwartung auf durchschnittlich minus 9,8 Prozent gesunken, Ende Juni auf minus 9,3 Prozent.

Entwicklung der Prognosen für die jährlichen Veränderungsraten des Bruttoinlandsprodukts in den Jahren 2022 und 2023

 FocusEconomics: Consensus Forecast  Central & Eastern Europe, 03.08.2022

Die Spannweite der für 2022 erfassten Prognosen ist weiterhin groß. Die schärfste Rezession (Minimum) erwartet die Londoner Bank „Standard Chartered“ (- 15,0 Prozent). Mit dem geringsten Rückgang (Maximum) rechnet die New Yorker Bank JPMorgan (- 3,5 Prozent).

2023 sinkt die gesamtwirtschaftliche Produktion aber stärker als bisher erwartet

Gleichzeitig mit dem Anstieg des „Consensus“ für das Jahr 2022 hat sich der „Consensus“ für die Produktionsentwicklung im Jahr 2023 weiter verringert (schwarze Linie auf der rechten Seite der Abbildung). Die Analysten rechnen in der jüngsten Umfrage im nächsten Jahr mit einem weiteren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 2,5 Prozent. Vor einem Vierteljahr war nur ein weiterer Rückgang um 1,1 Prozent erwartet worden.

Die durchschnittliche Entwicklung der von FocusEconomics erfassten Prognosen lässt also erwarten, dass der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Jahr 2022 um 2,1 Prozentpunkte schwächer sein wird als zunächst vor einem Vierteljahr erwartet wurde. Andererseits wird 2023 mit einer um 1,4 Prozentpunkte stärkeren Rezession gerechnet.  Insgesamt wird für die beiden Jahren 2022 und 2023 ein kaum schwächeren Produktionsrückgang als vor einem Vierteljahr prognostiziert.

Der IWF senkte seine „Rezessionsprognose“ sogar auf 6 Prozent

Die am 26. Juli veröffentlichte Senkung der Rezessionsprognose des IWF für Russland von – 8,5 Prozent auf – 6 Prozent  (Ostexperte.de berichtete) dürfte dazu beitragen, dass viele westliche Analysten ihre Prognosen für das Jahr 2022 weiter in Richtung auf einen schwächeren Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion revidieren.

Maria Shagina, die am „Internationalen Institut für Strategische Studien (IISS)“ der Universität Zürich mit Schwerpunkt „Sanktionen“ forscht, geht mit Hinweis auf die IWF-Prognose auch von einem diesjährigen Rückgang des BIP um 6 Prozent aus, berichtet die Deutsche Welle.

“Russland verkauft weiter Öl und Gas zu Rekordpreisen und füllt so seine Kriegskasse, die es bereits vor dem Krieg hatte. Deshalb haben wird diese einmalige Situation, dass es so scheint, als sei Russland von Sanktionen nicht sonderlich getroffen”, meint Maria Shagina im Gespräch mit der Deutschen Welle. Sie fügt aber hinzu: „Auf der mikroökonomischen Ebene sieht das aber ganz anders aus, besonders in der Autoindustrie und der Luftfahrt. Da sind Rückgänge von 80 bis 90 Prozent zu sehen.”

Russland muss, so Shagina, sein Wirtschaftsmodell jetzt umstellen, weil es keinen Zugang mehr zu westlichen Finanzquellen und Märkten habe. “Russland wird eine Rückabwicklung der Industrialisierung erleben. Wie schnell Russland das bewältigen kann und sich zum Beispiel mit China oder Indien zusammentun kann, das ist die große Frage.”

Scharfe Kritik von Yale-Professor Jeffrey Sonnenfeld am IWF

Weitere Berichte zur „Aufwärtsrevision“ der IWF-Prognose sind in deutschen Medien aber kaum zu finden (Ausnahme: Russland-News). Immerhin sprach aber die Börsenzeitung Jeffrey Sonnenfeld auf die neue IWF-Prognose an. Der Professor an der Yale School of Management und Mit-Autor einer Studie zu den Folgen der Sanktionen für die russische Wirtschaft kritisiert den IWF scharf. Die Börsenzeitung schreibt zu der Kontroverse:

„Im jüngst aktualisierten Weltwirtschaftsblick hat der Währungsfonds seine diesjährige Prognose für Russland entschärft: Eine Rezession hält er 2022 zwar für unabwendbar, aber diese dürfte mit −6 % nicht so verheerend ausfallen wie kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs im April erwartet.

Zu gänzlich anderen Erkenntnissen ist ein Team von Ökonomen aus Yale um Sonnenfeld gekommen: Der Massenexodus ausländischer Unternehmen und die westlichen Sanktionen „verkrüppeln die russische Wirtschaft“, lautet das Fazit einer viel beachteten Studie.

Im Gespräch mit der Börsen-Zeitung legt der Professor der Yale School of Management nach, indem er auf den IWF losgeht. Dessen Einschätzungen, wonach die russische Wirtschaft unerwartet widerstandsfähig gegenüber Krieg und Sanktionen sei, hält Sonnenfeld für „gefährliche, wenn nicht sogar giftige Aussagen“.

Der Kreml veröffentliche Daten nur noch unvollständig, „wobei ungünstige Daten selektiv weggelassen werden“. Das ist grundsätzlich bekannt. Sonnenfeld wirft den IWF-Ökonomen vor, sich dennoch auf offizielle Statistiken verlassen zu haben. Das Vorgehen des IWF nennt er „beschämend“. Außerdem kritisiert er mangelnde Transparenz.

In einer allgemeinen Stellungnahme entgegnet der IWF: „Unsere jüngste Basisbewertung der russischen Wirtschaft deutet darauf hin, dass einige Sektoren widerstandsfähiger waren als ursprünglich angenommen, was aber nicht bedeutet, dass Russland den Sanktionen vollständig standgehalten hat.“ Im selben Zuge habe der IWF die Prognose für 2023 gesenkt. Außerdem entstehe Russland „erheblicher und dauerhafter wirtschaftlicher Verlust“.“

IfW-Experte Dr. Gern: Yale-Studie ist „mit Vorsicht zu genießen“

Zur Bewertung der Yale-Studie befragte Detlev Landmesser (tagesschau.de) den Leiter Internationale Konjunktur und Analyse der Rohstoffmärkte am Kieler Institut für Weltwirtschaft. Dr. Klaus-Jürgen Gern rät, so tagesschau.de, die Yale-Studie „mit Vorsicht zu genießen“, da sie im Kontext des Informationskrieges mit Russland eindeutig in eine Richtung argumentiere.

Das vermittelte Gesamtbild sei aber plausibel. Alle Makroökonomen sähen große Probleme für Russland voraus: “Es wäre eine große Überraschung, wenn es nicht zu ganz erheblichen Schwierigkeiten in der russischen Wirtschaft gekommen ist und weiter kommt”, so der IfW-Experte.

Ähnlich äußerte sich Dr. Janis Kluge, Stiftung Wissenschaft und Politik, zu der Yale-Studie. Ein ausführlicher n-tv.de-Bericht von Klaus Wedekind zu der Studie („Yale-Papier räumt mit Mythen auf. Sanktionen lähmen Russlands Wirtschaft”) verweist auf Twitter-Meldungen von Kluge zu der Studie.

Gern betont, es sei zunehmend schwierig zu quantifizieren, was wirklich in der russischen Wirtschaft geschehe. Ein Kollaps des russischen Bruttoinlandsprodukts von 20 Prozent und mehr, wie er teils prognostiziert werde, sei allerdings unwahrscheinlich. “Meine Prognose für dieses Jahr liegt eher in der Größenordnung um etwa zehn Prozent,” sagt Gern.

In der Mitte Juni veröffentlichten „Sommerprognose“ des IfW war der diesjährige Rückgang des BIP in Russland auf 8,0 Prozent veranschlagt worden. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle schätzte ihn schon damals auf nur noch 6,6 Prozent.

Für die weitere Entwicklung sei vor allem die Einfuhrseite wichtig, so Gern: “Auf längere Sicht ist es entscheidend für das Wohl der russischen Wirtschaft, inwieweit es gelingt, die ausgefallenen Importe zu ersetzen.” Insofern sei es kein Zeichen der Stärke, wenn Russland einen Leistungsbilanzüberschuss vermelde, sondern eines der Schwäche.

Die Wirtschaftsprognose im kommenden Jahr werde nicht nur vom Fortgang des Krieges abhängen, sondern auch davon, ob die westlichen Staaten ihren Druck auf die Handelspartner Russlands aufrechterhalten können, um dringend benötigte Einfuhren zu beschränken.

Das Forschungsinstitut der Vnesheconombank ist besonders zuversichtlich

Zwei Tage bevor die russische Zentralbank ihre „Rezessionsprognose“ für 2022 auf minus 4 bis minus 6 Prozent senkte, hatte das Forschungsinstitut der staatlichen Vnesheconombank (Chef-Volkswirt Andrey Klepach, früherer Stellvertretender Wirtschaftsminister), eine Studie zur Entwicklung der russischen Wirtschaft unter „Sanktionsbedingungen“ vorgelegt. Das VEB-Institut nahm seine Prognose zum diesjährigen Rückgang des russsichen Bruttoinlandsprodukts auf minus 5,3 Prozent zurück. Zur voraussichtlichen Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Verlauf des Jahres 2022 veröffentlichte es folgende Abbildung.

Reales Bruttoinlandsprodukt, 2019=100, saisonbereinigt

Institut der Vnesheconombank: Current situation and forecast for the development of the Russian economy under sanctions, 20.07.2022

In seinem jüngsten Wochenbericht vom letzten Freitag revidierte das VEB-Institut seine Prognosen erneut. Es rechnet jetzt damit, dass das Bruttoinlandsprodukt 2022 nur 4,6 Prozent niedriger als 2021 sein wird. Im nächsten Jahr werde die Wirtschaft lediglich um 0,3 Prozent schrumpfen.

Das VEB-Institut merkt zur Begründung für seine relativ optimistischen Prognosen an:

Die Konjunkturdaten für das erste Halbjahr 2022 waren besser als erwartet.

Verbrauch und Investitionen sinken schwächer als angenommen.

Der Tiefpunkt der BIP-Entwicklung dürfte im vierten Quartal 2022 erreicht sein.

Allerdings sei das Risiko hoch, dass es wie nach der Pandemie keine rasche Erholung der Produktion geben werde.

VEB-Institut: Die Investitionen sinken stärker als der reale Einzelhandelsumsatz

Das VEB-Institut erwartet jetzt, dass die Investitionen in der russischen Wirtschaft im laufenden Jahr real um 9,7 Prozent niedriger sein werden als 2021. Im nächsten Jahr dürften sie um weitere 1,9 Prozent sinken.

Den diesjährigen Rückgang des realen Einzelhandelsumsatzes schätzt das Institut auf

7,2 Prozent (2023: – 1,1 Prozent). Dabei geht es von einem Rückgang der real verfügbaren Einkommen im Jahr 2022 um 4,9 Prozent aus (2023: – 1,2 Prozent).

Den Anstieg der Verbraucherpreise sieht das Institut bis zum Jahresende 2022 auf 13,4 Prozent sinken (Ende 2023: 6,5 Prozent).

Die Industrieproduktion sinkt 2022 nur um 4,2 Prozent

Der Wochenbericht des VEB-Instituts bietet auch Prognosen für die Produktion wichtiger Branchen. Die Industrieproduktion wird laut VEB-Institut 2022 insgesamt voraussichtlich 4,2 Prozent niedriger sein als 2021. Dabei werde die Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ nur um 2,1 Prozent sinken. Die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes werde hingegen gut doppelt so stark um 5,6 Prozent zurückgehen.

Besonders starke Produktionseinbrüche erwartet das Institut 2022 in den Bereichen „Maschinenbau, Fahrzeug-Industrie“ (-9,6 Prozent) und „Erstellung von Koks und Mineralölprodukten“ (-12,5 Prozent).

2023 wird die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes laut VEB-Institut aber bereits wieder steigen (+ 1,8 Prozent). Demgegenüber werde sich der Rückgang der Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ im nächsten Jahr beschleunigt fortsetzen (- 3,6 Prozent).

BOFIT zeigt den Rückgang der Produktion wichtiger Branchen bis Juni 2022

Wie stark die Produktion wichtiger Bereiche der russischen Wirtschaft bis zum Juni 2022 im Vergleich zum Vorjahr gesunken ist, zeigt die am Freitag veröffentlichte folgende Abbildung des Forschungsinstituts BOFIT der finnischen Zentralbank auf der Basis der Angaben des russischen Statistikamtes Rosstat.

Höher als im Juni 2021 war im Juni 2022 nur noch die Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ (obere Linie, + 2,3 Prozent).

Im Verarbeitenden Gewerbe (rosa Linie) beschleunigte sich der Rückgang der Produktion gegenüber Juni 2021 auf 4,5 Prozent.

Insgesamt sank die Industrieproduktion im Juni 2022 relativ moderat um lediglich 1,8 Prozent im Vorjahresvergleich. Schärfere Rückgänge gab es in den Bereichen Transport und Handel.

Während der Rückgang der Industrieproduktion in Russland in diesem Jahr relativ moderat ausfiel, ist die gewerbliche Tätigkeit stark rückläufig

BOFIT, Bank of Finland: Big differences across sectoral contractions in Russia, 05.08.2022.

Im Transportbereich (gelbe Linie) war die Produktion im Juni rund 6 Prozent niedriger als vor einem Jahr.

Der Rückgang des realen Einzelhandelsumsatzes betrug im Juni – wie seit April – rund 10 Prozent im Vorjahresvergleich (rote Linie). Weiter beschleunigt hat sich der Produktionsrückgang seit April im Großhandelsbereich. Er erreichte im Juni rund 18 Prozent (graue Linie).

Yale-Studie: Im Mai verdoppelte sich der Umsatzeinbruch im Einzelhandel

Die Verfasser der Yale-Studie halten die Rosstat-Angaben zur Entwicklung des realen Einzelhandelsumsatzes offenbar nur bis April für glaubwürdig. Das zeigt die folgende Abbildung aus der Yale-Studie. Während Rosstat ermittelte, dass der reale Einzelhandelsumsatz im Mai – wie im April – rund 10 Prozent niedriger war als vor einem Jahr (siehe rote Linie im obigen BOFIT-Chart), brach der Einzelhandelsumsatz laut der Yale-Studie im Mai weiter ein und war rund 20 Prozent niedriger als im Mai 2021 (grüne Linie).

Hochfrequenz-Daten zeigen einen Einbruch des Einzelhandelsumsatzes und der Ausgaben der Verbraucher,
Veränderungen gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent, nicht saisonbereinigt

Quelle:The deep dive; ER Velasco: Sanctions On Russia Are Working: Yale Paper, 06.08.2022

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland
von
Klaus Dormann:

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