Russlands Wirtschaft fährt in eine langanhaltende Krise

Ein Jahr nach Kriegsbeginn ist die russische Wirtschaft weniger angeschlagen als erwartet. Präsident Putin sieht Russlands Wirtschaft zwar in einem „neuen Wachstumszyklus“. Doch eine nachhaltige Entflechtung vom europäischen Markt scheint unaufhaltbar.

Am 20. Februar, einen Tag vor der Rede Präsident Putins zur Lage der Nation, veröffentlichte das russische Statistikamt Rosstat seine „erste Schätzung“ für das im letzten Jahr erreichte Bruttoinlandsprodukt: Um 2,1 Prozent ist Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion im Jahresvergleich 2022/2021 gesunken.

Der Präsident wies in seiner Rede erneut darauf hin, dass dieser Rückgang viel schwächer sei als von vielen erwartet wurde (offizielle engl. Übersetzung; Video mit deutscher Übersetzung ab Min. 38). Die Produktion der Landwirtschaft und der Bauwirtschaft seien kräftig gestiegen. Die Arbeitslosigkeit liege auf einem Rekordtief. Putin stellte die umfangreichen Maßnahmen der Regierung zur Stabilisierung der Produktion und ihre sozialpolitischen Hilfen für die Bevölkerung heraus.

Außenwirtschaftlich mache Russland große Fortschritte bei der Lösung vom Westen. Der Rubel ersetze im Außenhandel zunehmend den US-Dollar. Russland baue jetzt seine internationalen Verkehrs- und Wirtschaftsbeziehungen nach Osten und Süden aus.

Ost-Ausschuss: „Entflechtung vom russischen Markt“

Auch die Entwicklung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen spiegelt den Bruch in der Zusammenarbeit Russlands mit dem Westen. Das zeigten Berichte zur Pressekonferenz des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft zur Entwicklung des Handels der deutschen Wirtschaft mit den Ländern in Mittel- und Osteuropas in der letzten Woche. Bei der Mehrheit der deutschen Manager sei „das Thema Russland abgeschrieben“, liest man in der „Berliner Zeitung“.

„Die Entflechtung vom russischen Markt kommt schnell voran und wird sich 2023 weiter fortsetzen“, sagte der Geschäftsführer des Ost-Ausschusses Michael Harms. Die deutschen Exporte nach Russland hätten sich 2022 um 45 Prozent verringert. Sie seien so niedrig wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr.

Starker Rückgang der deutschen Ex- und Importe seit dem Frühjahr

Die folgende Abbildung des Ost-Ausschusses zur monatlichen Entwicklung des deutsch-russischen Handels in den Jahren 2021 und 2022 zeigt den drastischen Rückgang der deutschen Exporte nach Russland nach dem Beginn des Ukraine-Krieges. Sie sanken schlagartig um rund die Hälfte (mittlere rote Linie). Während die deutschen Exporterlöse im Februar 2022 noch rund 2 Milliarden Euro betrugen, lagen sie ab März meist nur noch knapp über einer Milliarde Euro.

Der Wert der deutschen Importe übertraf wegen der stark gestiegenen Einfuhrpreise bis zum Juli 2022 zwar sein Vorjahresniveau (obere Linie). Seit Oktober unterschreiten aber auch die Einfuhren ihre Vorjahreswerte.

Das deutsche Defizit im Handel mit Russland erhöhte sich 2022 vorübergehend sehr stark. Seit September liegt es monatlich aber wieder deutlich unter 1 Milliarde Euro (untere Linie).

Deutsch-Russischer Handel, 2021-2022, in Mrd. Euro

Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft: Deutsch-russischer Handel 2021-2022, 22.02.2023

Die schnelle Entkopplung der deutschen Wirtschaft von Russland ist nur zum Teil auf die EU-Sanktionspakete zurückzuführen, heißt es in der Pressemitteilung des Ost-Ausschusses. Die Mehrheit der deutschen Unternehmen im Russland-Geschäft tue wesentlich mehr, als es die Sanktionen verlangten. Sie habe ihr Neugeschäft eingestellt oder sei dabei, ihr Russland-Geschäft komplett abzuwickeln, so Geschäftsführer Michael Harms. Nur in Branchen, die ausdrücklich von EU-Sanktionen ausgenommen seien, wie dem Gesundheits- und Agrarsektor, finde noch „mehr oder weniger normales Geschäft” statt.

Russische Wirtschaft fährt in langanhaltende Krise

Die Perspektiven der russischen Wirtschaft sieht der Ost-Ausschuss Geschäftsführer sehr negativ. Sie fahre mit hohem Tempo in eine langanhaltende Krise. „Wir haben immer gesagt, dass die russische Wirtschaft nicht über Nacht zusammenbrechen wird“, betonte Harms. „Aber die Sanktionen, der Rückzug ausländischer Unternehmen und der Exodus hunderttausender junger Arbeitskräfte haben eine toxische Wirkung. Wir erleben eine Desintegration Russlands aus der Weltwirtschaft und eine beispiellose Rückabwicklung marktwirtschaftlicher sowie technischer Errungenschaften der letzten 30 Jahre.“

Russlands BIP ist so niedrig wie 2012

Zur langfristigen Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Russland veröffentlichte das Moskauer Forschungsinstitut „Economic Expert Group“ in seinem Monatsbericht für Februar die folgende Abbildung. Darin zeigt die schwarze Linie die saisonbereinigte monatliche Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts. Ende 2021 – kurz vor Beginn des Ukraine-Krieges – hatte Russlands BIP einen neuen Höchststand erreicht (182 Indexpunkte). Im zweiten Quartal 2022 brach die Produktion jedoch tief ein.

Indizes der Entwicklung des saisonbereinigten realen Bruttoinlandsprodukts und der Produktion der „Basis-Branchen“ (Januar 2003=100)

Economic Expert Group: Economic Review; 22.02.2023

Seit Mitte 2022 hat sich die gesamtwirtschaftliche Produktion zwar etwas erholt. Im Dezember 2022 erreichte das BIP aber nur den Indexwert 171. Die gesamtwirtschaftliche Produktion ist damit noch rund 6 Prozent niedriger als Ende 2021. Sie ist nicht höher als vor rund 11 Jahren im Jahr 2012.

Putin: Russlands Wirtschaft in einem „neuen Wachstumszyklus“

Staatspräsident Putin stellte in seiner Rede heraus, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion in Russland 2022 saisonbereinigt nur vom ersten zum zweiten Quartal gesunken ist. Im dritten und vierten Quartal sei die Produktion im Vergleich zum Vorquartal wieder gewachsen. Das berichtet auch Interfax.

„Die russische Wirtschaft ist in einen neuen Wachstumszyklus eingetreten“, meinte der Präsident. Neue, vielversprechende Märkte, einschließlich des asiatisch-pazifischen Raums, hätten als Partner jetzt Vorrang. Die russische Wirtschaft werde nicht länger auf den Export von Rohstoffen ausgerichtet, sondern auf die Herstellung von Waren mit hoher Wertschöpfung.

Putin gab zwar keine Prognose zur gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate im Jahr 2023 ab. Er meinte aber, die Regierung erwarte schon in diesem Jahr einen „soliden Anstieg der inländischen Nachfrage“. Zur voraussichtlichen Entwicklung der Ein- und Ausfuhren äußerte er sich in diesem Zusammenhang nicht. Auch die russische Zentralbank berücksichtigte mit ihrer jüngsten Prognose-Spanne vom 10. Februar (2023/2022: – 1 Prozent bis + 1 Prozent) die Möglichkeit eines weiteren Rückgangs des Bruttoinlandsprodukts.

Alfa-Bank Chef-Volkswirtin: Expansive Ausgabenpolitik dämpfte Rezession

Natalia Orlowa, Chef-Volkswirtin der Alfa-Bank, kommentierte die Ergebnisse der ersten Rosstat-Schätzung zur BIP-Entwicklung im Jahr 2022 in einem Finam-Beitrag. Sie stellt folgende Punkte heraus:

Der Rückgang des BIP um 2,1 Prozent im Jahr 2022 ist vergleichbar mit der Krise im Jahr 2015 als die gesamtwirtschaftliche Produktion um 2,0 Prozent sank (siehe obige Abbildung der Economic Expert Group).

Die Entwicklung des BIP nach Herstellungsbereichen bestätigt, dass die russische Regierung (die die föderalen Ausgaben 2022 nominal um rund 26 Prozent erhöhte) eine Schlüsselrolle bei der Vermeidung einer schärferen Rezession spielte. Laut der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung stieg die Bruttowertschöpfung der Bauwirtschaft um 5,0 Prozent. Die Bruttowertschöpfung im Bereich „Öffentliche Verwaltung, militärische und soziale Sicherung“ wuchs um 4,1 Prozent.

Der Staatsverbrauch wurde 2022 um 2,8 Prozent erhöht

Die Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Produktion durch die Ausgabenpolitik der Regierung wird, so Orlowa, auch in der Statistik der Verwendung des BIP deutlich.

Die „Economic Expert Group“ vermerkt in ihrem Monatsbericht zur BIP-Verwendung im Jahr 2022, dass der staatliche Verbrauch um 2,8 Prozent stieg. Der private Verbrauch sei um 1,8 Prozent gesunken. Insgesamt habe der Endverbrauch 2022 um 0,6 Prozent abgenommen.

Das Institut erklärt auch, warum die Bruttoinvestitionen 2022 insgesamt gesunken sind, obwohl die Bruttoanlageinvestitionen um 5,2 Prozent stiegen. Die Bruttoinvestitionen seien insgesamt um 3,2 Prozent gesunken, weil die Lagerbestände abgenommen hätten.

Olga Belenkaja, Chef-Volkswirtin des Finanzportals Finam, veröffentlichte in ihrer ausführlichen Analyse zur längerfristigen Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und seiner Verwendung seit 2015 folgende tabellarische Übersicht. Für die Entwicklung der Aus- und Einfuhr wurden von Rosstat keine Daten für 2022 mitgeteilt.

Verwendung des realen Bruttoinlandsprodukts
(Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent)

Quelle – Rosstat, FG FINAM Schätzungen (Olga Belenkaja, FG “Finam”: The economy of the Russian Federation in 2022 – the decline was less than forecasts, 21.02.23)

Orlowa: Eine Vermeidung „fiskalischer Risiken“ begrenzt das Erholungspotenzial

Nach Meinung von Natalia Orlowa, die seit Anfang Dezember für 2023 einen Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um 6,5 Prozent erwartet (Finam-Artikel), wird aus der Entwicklung der Verwendung des BIP im letzten Jahr deutlich, dass die Ausgabenpolitik der Regierung zu einem großen Teil die gesamtwirtschaftliche Entwicklung bestimmt.

Anscheinend hat die Chef-Volkswirtin der Alfa-Bank aber Zweifel, ob die Regierung ihre Ausgaben zur Stützung der Wirtschaft weiterhin stark erhöhen wird. Falls die Regierung zu einer „Politik der Begrenzung fiskalischer Risiken“ übergeht, erwartet sie Nachteile. Dann wären die Möglichkeiten der Regierung, eine Erholung der wirtschaftlichen Aktivitäten zu sichern, begrenzt und es sei mit einem konjunkturellen Abwärtstrend zu rechnen.

Finanzminister Anton Siluanow hat Mitte Februar versichert, das Defizit im Föderationshaushalt, das 2022 nach ersten Berechnungen auf 2,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts stieg, solle wie geplant 2023 auf 2,0 Prozent des BIP verringert werden.

Institut der Deutschen Wirtschaft: Russlands Haushaltsdefizit dürfte weiter steigen

Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), erwartet hingegen einen Anstieg des russischen Haushaltsdefizits. Er meint in einer IW-Nachricht  zu einem IW-Kurzbericht:

„Die Einnahmen des russischen Staates sinken drastisch, zeitgleich steigen die Ausgaben. Insbesondere für innere und äußere Sicherheit plant Russland 2023 laut dem russischen Finanzministerium Ausgaben in Höhe von knapp 125 Milliarden Euro ein, rund 25 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Und auch in den Jahren davor stiegen insbesondere die Verteidigungsausgaben stark an.

Embargos, etwa bei Öl und Gas, lassen die andere Seite der Bilanz schrumpfen: Russland geht davon aus, dass die Einnahmen hier um über 20 Prozent zurückgehen werden – vor dem Hintergrund, dass mit ebenjenen Rohstoffen besonders viel Geld in die Kassen gespült wird, ein Zeichen dafür, dass die Sanktionen und Embargos wirken.

Das Haushaltsdefizit dürfte weiter steigen, der Umbau der russischen Wirtschaft hin zu einer von Verteidigungs- und Sozialpolitik geleiteten Kriegswirtschaft ist offensichtlich.“

Im Informationsdienst iwd des Instituts der Deutschen Wirtschaft heißt es dazu, die russische Regierung verfolge inzwischen eine Strategie von „guns and butter“. Es gehe also darum, nach außen militärische Stärke zu zeigen und im Inland durch soziale Wohltaten die Bürger bei Laune zu halten.

Zu den im russischen Staatshaushalt bis 2023 geplanten Ausgaben und zu den dort erwarteten Einnahmen aus Öl- und Gasexporten veröffentlichte der Informationsdienst folgende Abbildung.

Institut der Deutschen Wirtschaft; IWD: Russland: Putins Kriegswirtschaft ist teuer, 24.02.23

Unterm Strich, so der Informationsdienst, will die russische Regierung bis 2025 etwa 14 Prozent mehr ausgeben als 2022. Finanziert werden solle all dies nicht zuletzt über höhere Schulden: Im Jahr 2025 werde Russland für Schuldzinsen und Tilgungszahlungen gut 21 Milliarden Euro aufbringen müssen – fast 32 Prozent mehr als im vergangenen Jahr.

Das Institut der Deutschen Wirtschaft sieht die russische Regierung in einer „Finanzierungslücke“:

„Auch wenn angesichts der in früheren Jahren angehäuften Reserven keine Zahlungsunfähigkeit droht, werden die finanziellen Spielräume für die Regierung enger. Der bereits erfolgte Verkauf staatlicher Goldreserven ist ein deutliches Indiz für eine Finanzierungslücke.“

Professor Michael Hüther nahm in der letzten Woche auch im Podcast „Zaren, Daten, Fakten“ der AHK Russland im Gespräch mit Thomas Baier zur Entwicklung der russischen Wirtschaft Stellung („Bessere Prognosen: Ist die Wirtschaftskrise abgewendet?“). Diskutiert wurden unter anderem die Prognosen des Internationalen Währungsfonds für Russland und Deutschland.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Blick auf Moskau City. Quelle: Unsplash.com