Russlands Industrie bleibt 2020 eine Wachstumsstütze

Von der neuen Regierung werden Impulse für mehr Wachstum erwartet

2019 hat sich die Wachstumsrate der russischen Industrieproduktion nach ersten Berechnungen des Statistikamtes Rosstat von 2,9 Prozent auf 2,4 Prozent abgeschwächt. Bei einem gesamtwirtschaftlichen Wachstum von voraussichtlich nur 1,1 bis 1,3 Prozent stieg die Produktion in der Industrie im Vergleich mit anderen Wirtschaftsbereichen aber weit überdurchschnittlich.

Auch 2020 dürfte die Industrie für die russische Wirtschaft eine „Wachstumsstütze“ bleiben. Die Alfa Bank und die Raiffeisenbank halten sogar eine Beschleunigung des Anstiegs der Industrieproduktion auf 3 Prozent für möglich.
Impulse dafür werden von der neuen Regierung erwartet. Präsident Putin gab in seiner „Rede an die Nation“ am 15. Januar schließlich die Weisung, dass nach der erfolgreichen Stabilisierung der Wirtschaft jetzt die Steigerung der Realeinkommen im Zentrum der Wirtschaftspolitik stehen müsse.

Industrie wächst deutlich schneller als die Gesamtwirtschaft

Auch im neuen Jahr 2020 wird die Gesamtwirtschaft wohl spürbar schwächer wachsen als die Industrie. Die Regierung rechnet in diesem Jahr mit einem Anziehen des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts auf 1,7 Prozent, was auch viele Analysten erwarten.

Demgegenüber dürfte der Anstieg der Industrieproduktion laut Haushaltsplanung der Regierung 2,4 Prozent erreichen. Der Chef-Volkswirt für Russland der ING Bank, Dmitry Dolgin, hält in diesem Jahr sogar eine Beschleunigung des Wachstums der Industrieproduktion auf 2,7 Prozent für möglich. Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, meint, die Industrie könne noch stärker um 3,0 Prozent wachsen, wenn die neue Regierung die Ausgaben für die nationalen Projekte erhöht.

2019 stieg die Industrieproduktion um 2,4 Prozent

Wie das folgende Schaubild aus dem Bericht des Wirtschaftsministeriums zeigt, stieg die Industrieproduktion im vergangenen Jahr insgesamt um 2,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dabei nahm die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ wie 2018 am stärksten zu (+ 3,1 Prozent). Die Fertigung im „Verarbeitenden Gewerbe“ stieg um 2,3 Prozent.

In den beiden weiteren von Rosstat erfassten Bereichen der Industrieproduktion wuchs die Produktion nur um insgesamt 0,3 Prozent (Strom- und Wärmeerzeugung: + 0,4 Prozent; Wasserversorgung und Entsorgung: – 0,3 Prozent).

Industrieproduktion im Jahr 2019

Wirtschaftsministerium: Entwicklung der Industrieproduktion; 23.01.2020

Fast das gesamte Wachstum der Industrieproduktion von 2,4 Prozent stellten 2019 die beiden wichtigsten Bereiche der Industrie. Der Bereich „Bergbau und Förderung von Rohstoffen“ trug 1,1 Prozentpunkte bei, der Bereich „Verarbeitendes Gewerbe“ 1,2 Prozentpunkte. Von der gesamten Industrieproduktion entfallen laut Dolgin rund 37 Prozent auf den Bereich „Bergbau und Förderung von Rohstoffen“ und rund 50 Prozent auf das „Verarbeitende Gewerbe“.

Das „Verarbeitende Gewerbe“ hielt sein Wachstumstempo 2019 fast

Der Anstieg der Fertigung im „Verarbeitenden Gewerbe“ war 2019 mit 2,3 Prozent nur wenig niedriger als 2018 (+ 2,6 Prozent). Wachstumstreiber waren laut den Berechnungen des Wirtschaftsministeriums dabei

  • die Nahrungsmittelindustrie (+ 3,7 Prozent nach + 4,4 Prozent in 2018),
  • die Chemische Industrie (+ 5,1 Prozent nach +3.3 Prozent in 2018) sowie
  • die Herstellung von mineralischen Produkten (+ 4,6 Prozent nach + 4,4 Prozent).

Die Produktion im Maschinenbau, die schon 2018 kaum gestiegen war (+ 1,2 Prozent) sank hingegen 2019 um 2,6 Prozent.

Das Wachstum im Rohstoff-Bereich ließ nach, blieb aber überdurchschnittlich

Nachdem der Bereich „Bergbau und Förderung von Rohstoffen“ seine Produktion 2018 um 4,1 Prozent erhöht hatte, nahm sie 2019 erneut überdurchschnittlich stark um 3,1 Prozent zu. Dabei sank der Anstieg von 4,7 Prozent im ersten Quartal auf 1,3 Prozent im vierten Quartal. Laut Rosstat ist diese Abschwächung des Wachstums in erster Linie auf die Produktionsvereinbarungen Russlands mit der OPEC zurückzuführen.

Die Förderung von Rohöl einschließlich Gaskondensat nahm nur noch um 1,0 Prozent auf 561 Millionen Tonnen zu. Die Erdgasförderung stieg noch etwas schwächer um 0,8 Prozent auf 644 Milliarden Kubikmeter. Gleichzeitig nahm die Produktion von verflüssigtem Erdgas aber um fast die Hälfte zu (+ 47,7 Prozent). Zusammengefasst erhöhte sich die Produktion von Rohöl und Erdgas laut Wirtschaftsministerium um 2,1 Prozent (2018: + 2,8 Prozent). Die Kohleproduktion (Steinkohle, Braunkohle, angereicherte Kohle) wurde insgesamt um 1,3 Prozent erhöht (2018: + 4,2 Prozent).

Raiffeisenbank: Ziemlich volatile Produktionsentwicklung im Jahresverlauf

Stanislav Murashov, Analyst der Raiffeisenbank, erstellte zur Entwicklung der Industrieproduktion im Jahresverlauf 2019 die folgende Abbildung. Sie zeigt die Beiträge der unter der Tabelle genannten Branchen zum monatlichen Wachstum der Industrieproduktion gegenüber dem Vorjahresmonat (graue Linie):

Entwicklung der Industrieproduktion war 2019 ziemlich volatil

Sonstige Branchen;                              Energieerzeugung;
Öl- und Gasförderung;                          Chemische Industrie;
Metall-Bergbau und -produktion;           Maschinenbau und KFZ-Industrie

Stanislav Murashov (Raiffeisenbank): National projects – the only hope of industry to accelerate; 27.01.2020

Analysten erwarten von neuer Regierung mehr Staatsausgaben

Angesichts bereits geplanter und möglicher weiterer Ausgaben des Staates zur Stimulierung der Nachfrage rechnet ING-Analyst Dolgin im Jahr 2020 mit einem beschleunigten Wachstum der Industrieproduktion.

Schon vor der Umbildung der Regierung, so Dolgin, wurde geschätzt, dass der Anteil der staatlichen Ausgaben für die „Nationalen Projekte“ von 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2019 auf 3,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2020 erhöht wird.

Die Zusammensetzung der neuen Regierung lässt Dolgin nun vermuten, dass die Regierung das Problem anpacken wird, dass Haushaltsmittel für Infrastruktur-Investitionen und die Entwicklung von Humankapital von der staatlichen Verwaltung nicht vollständig ausgeschöpft werden. Zum Beispiel seien von den im föderalen Haushalt 2019 verfügbaren Mitteln rund 9 Prozent nicht ausgegeben worden, was auch rbc.ru berichtet. Sie könnten auf den Haushalt 2020 übertragen werden.

Dolgin weist außerdem darauf hin, dass Präsident Putins „Rede an die Nation“ am 15. Januar erwarten lasse, dass jetzt sozialpolitische Maßnahmen zur Anhebung der Einkommen der privaten Haushalte Priorität erhalten werden. Dafür könnten in den letzten Jahren angesammelte Reserven in Höhe von rund 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts genutzt werden. Die Investitionsneigung konsumnaher Wirtschaftszweige würde so gefördert und die Industrieproduktion Wachstumsimpulse erhalten. Die Regierung will bis zum 11. Februar zur Umsetzung der Vorschläge Putins Ergänzungen der Haushaltsplanung vorlegen.

Der Präsident des russischen Rechnungshofes, Alexei Kudrin, schätzt, dass für die Umsetzung der Vorschläge Putins jährlich zusätzliche öffentliche Ausgaben von 400 bis 500 Milliarden Rubel oder 0,4 bis 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erforderlich sein werden. Finanzminister Siluanow sprach von 400 bis 450 Milliarden Rubel im Jahr 2020.

2020 wird sich das Wachstum der Industrie beschleunigen

Dolgin will zwar vorerst bei seiner Prognose bleiben, dass sich der Anstieg der Industrieproduktion in diesem Jahr lediglich von 2,4 auf 2,7 Prozent beschleunigt. Die Produktion könne aber stärker wachsen, wenn die Regierung Pläne zur weiteren Steigerung der öffentlichen Ausgaben bestätigt. Ein nominaler Anstieg der Ausgaben im föderalen Haushalt um um sieben Prozent sei für 2020 ohnehin schon vorgesehen.

Der ING-Volkswirt warnt abschließend aber auch: Wenn höhere staatliche Ausgaben nicht von „systemischen“ Maßnahmen zur Verbesserung des Geschäftsklimas begleitet werden, könnte ihr Wachstumseffekt begrenzt bleiben.

Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, meint sogar, die Industrieproduktion könne 2020 ein Wachstum von 3,0 Prozent erreichen, wenn sich die Hoffnung bestätige, dass die neue Regierung die Ausgaben für die „Nationalen Projekte erhöhe. Als „schlechte Nachricht“ erwähnt sie in ihrem Kurz-Kommentar zur Entwicklung der Industrieproduktion, dass Russlands Rohstoff-Bereich 2019 erneut deutlich stärker als das Verarbeitende Gewerbe gewachsen ist – trotz der Bemühungen um eine stärkere Diversifizierung der Wirtschaftsstruktur.

Auch das gesamtwirtschaftliche Wachstum zieht 2020 an

Das russische Wirtschaftsministerium hat geschätzt, dass die in Putins „Rede zur Nation“ vorgeschlagenen sozialpolitischen Maßnahmen das Wachstum der Gesamtwirtschaft um 0,3 Prozentpunkte steigern werden.

Orlova hob in einem Kommentar zur Bildung der neuen Regierung ihre Wachstumsprognose für das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 auf 1,8 Prozent an. Diese Prognose entspricht den durchschnittlichen Erwartungen von Analysten in einer Mitte Januar von FocusEconomics veröffentlichten Umfrage. Das Wachstum wäre damit 2020 aber immer noch deutlich schwächer als 2018, als laut einer Ende Dezember veröffentlichten neuen Rosstat-Schätzung ein Produktionsanstieg von 2,5 Prozent erreicht wurde.

Andrey Klepach, Vorstandsmitglied und Chef-Volkswirt der Vnesheconombank, hob die „Nationalen Projekte“ bereits Ende Dezember in einem Interview mit dem Expert-Magazin als wichtigsten „Treiber“ der Investitionen im Jahr 2020 hervor. Er rechnet damit, dass 2020 bei einem gesamtwirtschaftlichen Wachstum von 1,8 Prozent die Investitionen um insgesamt 3,6 Prozent steigen.

Dabei würden die privaten Investitionen nur um 2,5 Prozent wachsen, die staatlichen Investitionen hingegen um 9,5 Prozent. Die staatlichen Investitionen würden zum Wachstum der gesamten Investitionen so rund 40 Prozent beitragen. Wichtigster Treiber der Investitionen würden 2020 die „Nationalen Projekte“ sein, vor allem die Ausgaben für den Ausbau der Infrastruktur. Die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote könne im Jahr 2020 auf 23 Prozent steigen.

Die Moskau-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, Sigrid Bigalke, sieht hingegen die Aussichten, dass es Andreij Beloussow, dem bisherigen Wirtschaftsberater von Präsident Putin, gelingt, mit den „Nationalen Projekten“ das Wachstum der russischen Wirtschaft zu beleben, ziemlich skeptisch:

„Andreij Beloussow soll als Vizepremierminister für die Wirtschafts- und Finanzpolitik zuständig sein. Er hat schon früher für mehr staatliche Investitionen – und damit auch für mehr staatliche Kontrolle der Wirtschaft – geworben. Er gilt als einer der Initiatoren der Nationalen Projekte, die auch daran kranken, dass die Liste lang und unübersichtlich ist. (…) Manche Projekte sind detailliert, andere nur vage formuliert. Eine Hürde ist, dass ein Anteil an der Gesamtsumme von privaten Unternehmen kommen soll. Doch private Investitionen fehlen in Russland fast überall.“

 

Wachstumsprognosen 2019 bis 2021
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

   201920202021
IWF, New York01/20/20201.11.92
Berenberg Bank, Hamburg01/20/202011.31.7
Helaba, Frankfurt01/17/20201.31.71.7
Commerzbank, Frankfurt01/17/20201.31.81.8
Citibank01/15/20201.322.5
OPEC, Wien01/15/20201.11.5
FocusEconomics
Consensus Forecast
01/14/20201.11.81.9
DekaBank, Frankfurt01/14/20201.221.7
Economist Intelligence Unit01/14/20201.11.61.7
Unicredit, Mailand01/13/20201.11.11.4
Morgan Stanley01/13/20201.21.72
ING Bank, Amsterdam01/10/202011.51.7
Weltbank, Washington01/08/20201.21.61.8
Russian Academy of Sciences, RAS01/08/20201.11.82.2
Reuters-Umfrage12/24/20191.21.8
Vnesheconombank Institute12/20/20191.31.82.1
RIA Rating12/20/20191.3
CMASF, Moskau12/18/20191.11.31.5
Erste Group, Wien12/17/20191.11.9
Russische Zentralbank,
Basisszenario
12/13/20190,8 bis 1,3
Urals 64 $/b
1,5 bis 2,0
Urals 55 $/b
1,5 bis 2,5
Urals 50 $/b
Russische Regierung;
Basisszenario im Haushaltsgesetz
12/02/20191.3
Urals 62,2 $/b
1.7
Urals 57,0 $/b
3.1
Urals 56,0 $/b

Titelbild

Titelbild: pixabay.com
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Quellen und Lesetipps:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Regierungswechsel und Verfassungsreform – Politik und Wirtschaft nach Rede Putins

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte

Industrieproduktion im Dezember und im Jahr 2019

Preisentwicklung im Dezember und im Jahr 2019

Rosstat: Revision der Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts 2012 bis 2018

Rosstat: Revision der real verfügbaren Einkommen 2018 und in den ersten drei Quartalen 2019

Monatsberichte Wirtschaft November 2019 von Rosstat, Ministerium und Zentralbank

Zentralbank: Präsentationen in Englisch; Statistical Bulletin (monatlich); Publikationstermine

Weitere Veröffentlichungen zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland: