20 Jahre Putin: Bleibt Russland im „Wachstumstal“ stecken?

Was Wissenschaftler zur russischen Wirtschaft sagen

Zum Jahreswechsel erscheinen stets viele Rück- und Ausblicke auf das Geschehen in Politik und Wirtschaft. Zur russischen Wirtschaft scheinen sie in diesem Jahr besonders zahlreich zu sein. Schließlich ist es jetzt 20 Jahre her, seit Wladimir Putin das Amt des Staatspräsidenten von Boris Jelzin übernahm. Für etliche Experten war das ein Anlass, auch eine Bilanz der Wandlungen der Wirtschaftspolitik Russlands zu ziehen.

Wir möchten insbesondere auf Analysen von Laura Solanko, Philip Hanson und Marek Dabrowski hinweisen. Uns hat vor allem interessiert, was sie zur aktuellen Lage der russischen Wirtschaft schreiben und wie sie die Möglichkeiten für eine Belebung des Wachstums einschätzen.

Laura Solanko: „Von Reformen in die Stagnation“

Laura Solanko hat als Mitarbeiterin des „Institute for Economies in Transition“ der Bank of Finland (BOFIT) Russlands wirtschaftliche Entwicklung in den letzten 20 Jahren oft kommentiert. BOFIT veröffentlichte in der letzten Woche einen prägnanten, faktenreichen Rückblick von ihr („BOFIT Policy Brief“: „From reforms to stagnation – 20 years of economic policies in Putin’s Russia“). Die Autorin macht insbesondere auf die deutliche Abschwächung des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts in der zweiten Hälfte der bisherigen Regierungszeit Putins aufmerksam. Solanko twitterte dazu folgende Abbildung:

Die schwarze Linie zeigt die jährlichen Veränderungsraten des realen Bruttoinlandsprodukts von 2000 bis 2018. Außerdem berechnete Solanko durchschnittliche Wachstumsraten (rote Linie) für die Amtsperioden Putins als Staatspräsident und als Ministerpräsident (2008 bis 2011):

2000 bis 2003:         6,8 Prozent

2004 bis 2007:         7,6 Prozent

2008 bis 2011:         1,5 Prozent

2012 bis 2018:         1,2 Prozent

Deutlich wird: Nach dem tiefen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2009 um fast 8 Prozent als Folge der Weltfinanzkrise blieb der Anstieg der Produktion in Russland weit unter der Wachstumsrate von rund 7 Prozent, die in den beiden ersten 4-jährigen Amtsperioden Putins erreicht worden ist.

Nachdem der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion in den Jahren 2008 bis 2011 auf 1,5 Prozent sank, schwächte sich das Wachstum in der letzten 6-jährigen Amtszeit Putins als Staatspräsident im Jahresdurchschnitt von 2012 bis 2018 noch etwas weiter auf nur noch 1,2 Prozent ab. Dazu trug wesentlich bei, dass nach der Besetzung der Krim im Sommer 2014 Sanktionen gegen Russland verhängt wurden und die Ölpreise einbrachen. Russlands Wirtschaft geriet 2015 erneut in eine Rezession.

Solanko betont aber, dass das Wirtschaftswachstum schon 2012 nachließ. Trotz noch relativ hoher Ölpreise, Vollbeschäftigung und hoher Kapazitätsauslastung stockte der Anstieg der Investitionen. 2013 sanken sie bereits.

Solankos Fazit: Ohne strukturelle Reformen höchstens zwei Prozent Wachstum

Am Schluss ihrer Analyse nimmt die Autorin zur aktuellen Wirtschaftspolitik Stellung. Sie meint, mit den von Präsident Putin 2018 in den „Mai-Dekreten“ angekündigten „Nationalen Programmen“ würden zwar insbesondere die öffentlichen Ausgaben für den Ausbau der Infrastruktur ausgeweitet. Damit könne das Wachstum der Gesamtwirtschaft in den Jahren 2020-2021 wahrscheinlich aber nur um höchstens 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte beschleunigt werden. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass das Wachstumspotenzial der Wirtschaft durch „simple Geldspritzen“ erhöht werden könne.

Ein stärkeres Wachstum könnte aber schon mit kleinen Schritten zur Beseitigung von Problemen der privaten Unternehmen erreicht werden, zum Beispiel mit einer besseren Wettbewerbspolitik. Als weitere Möglichkeit zur Erschließung von mehr Wachstum nennt Solanko eine Reform des Bildungswesens zur besseren Entwicklung des Humankapitals.

Solankos Fazit ist, dass Russland mit seinen gegenwärtigen Strukturen und Institutionen wahrscheinlich nur ein jährliches Wachstum von höchstens zwei Prozent erreichen kann. Es gebe nicht viel Hoffnung auf Reformen zur Behebung der strukturellen Schwächen der russischen Wirtschaft. Das „Regime“ sehe keine Notwendigkeit, die erforderlichen Reformen zu ergreifen. Etablierte Industrieunternehmen und ihre gut vernetzten Eigentümer hätten kein Interesse, für mehr Transparenz und Wettbewerb in der Wirtschaft zu sorgen.

„With current economic structures and institutions Russia looks likely to reach GDP growth rates of at most two percentage annually. Hopes for serious reforms that would address the structural weaknesses of the Russian economy are not high. The regime feels no urgency to embark on necessary reforms as they would undeniably compromise some vested interests. Incumbent industrial firms or their well-connected owners have no interest in making the economy more transparent or competitive.“

Prof. Hanson: Lob für Stabilisierung, Kritik am sehr langsamen Wachstum

Professor Philip Hanson (Associate Fellow des „Royal Institute of International Affairs“ in London) analysiert in einer Mitte Dezember erschienenen Studie insbesondere die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik in der letzten Amtszeit Putins. Ihm geht es vor allem um die Frage, in welchem Verhältnis die Ziele „Stabilität“ und „Wachstum“ stehen („Russian Economic Policy and the Russian Economic System: Stability Versus Growth“).

Hanson schreibt in der Zusammenfassung seiner Studie, dass die russische Regierung für die Stabilisierung der Wirtschaft in den Jahren 2014 bis 2018 zwar häufig gelobt werde. Die Inflation sei gesenkt worden, der Staatshaushalt weise einen Überschuss aus, die Verschuldung gegenüber dem Ausland sei niedrig und die Währungsreserven seien hoch. Gleichzeitig werde aber oft kritisiert, dass es der Regierung nicht gelungen ist, mehr als ein sehr langsames Wachstum zu gewährleisten.

„Autokratische“ Regierungsform erleichterte „harte Sparpolitik“

Die „Stabilisierung“ der Wirtschaft habe die Regierung mit konventionellen „liberalen“ Maßnahmen erreicht. Die öffentlichen Ausgaben wurden gekürzt. Mit der Einführung der „Budget-Regel“ wurde verhindert, dass steigende Ölpreise automatisch zu höheren Staatsausgaben führen.

Hanson stellt fest, dass in Russland eine „harte“ Sparpolitik verfolgt wurde, von der Rentner, das Militär, die Haushalte der Regionen und auch die Wirtschaft betroffen waren. Gegen die Einsparungen habe es nur wenig Widerstand gegeben. Die „autokratische“ Form der Regierung in Russland habe diese Sparpolitik erleichtert.

Mehr Wachstum nur bei umfassenden „systemischen“ Reformen

Im Rückblick auf die Anfänge der Regierungszeit Putins weist Hanson darauf hin, das schnelle Wachstum der russischen Wirtschaft in den Jahren 1999 bis 2008 sei zu einem großen Teil als Erholung von der tiefen Rezession in den 90er Jahren und durch den Aufbau eines Dienstleistungssektors zu erklären. Diese Wachstumsquellen gebe es jetzt nicht mehr. Die Investitionen seien niedrig, die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte nehme ab.

Wie Solanko betont Hanson, die Verlangsamung des Wachstums seit 2012 könne nicht einfach dem Rückgang der Ölpreise und den Sanktionen zugeschrieben werden. Zentrales Problem in Russland ist für Hanson eine korrupte Staatsverwaltung, die überall interveniere. In einem funktionierenden Rechtsstaat wäre die Wirtschaft langfristig leistungsfähiger. Dafür seien umfassende Reformen der formalen und informalen Institutionen erforderlich.

Für die russische Regierung gibt es aber, so Hanson, sehr starke Anreize, solche „systemischen“ Reformen nicht durchzuführen. Sogar die „pragmatischen“ Minister des „Wirtschaftsblocks“ der Regierung teilten das Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo.

Korrupte Staatsverwaltung verhindert Reformen

Hanson hält es für unwahrscheinlich, dass in Russland Reformen zur Herstellung eines Rechtsstaates in Gang kommen, weil sie das herrschende soziale und politische System destabilisieren könnten.

Mehr Wirtschaftswachstum werde von der russischen Regierung deswegen auch durch die vom Staat geplanten und auch weitgehend vom Staat finanzierten „Nationalen Projekte“ angestrebt. Bei der Realisierung dieses sehr ambitionierten Programms für den Zeitraum 1998 bis 2024 hätten sich aber schon jetzt Schwierigkeiten ergeben.

Nach Ansicht Hansons hat sich in Russland gezeigt, dass die Regierung innerhalb des bestehenden politischen Systems die Wirtschaft zwar erfolgreich stabilisieren konnte. Ihre Wachstumsstrategie sei hingegen – zumindest bisher – ohne Erfolg geblieben.

Prof. Dabrowski: Viele weitreichende Vorschläge für mehr Wachstum

Prof. Marek Dabrowski ist Fellow des Warschauer Forschungsinstituts „CASE – Centre for Social and Economic Research“, Professor der „Higher School of Economics“ in Moskau und „Non-Resident Fellow“ des Brüsseler Think Tanks Bruegel. In einem im Dezember im „Russian Journal of Economics“ erschienen Artikel („Factors determining Russia*s long-term growth rate“) analysiert er ausführlich die Determinanten für Russlands langfristiges Wachstum.

Auch Professor Dabrowski ist überzeugt, dass in Russland umfassende wirtschaftliche und institutionelle Reformen erforderlich sind, um das potenzielle Wachstum des Landes zu steigern. Dafür seien wiederum politische Reformen und eine Verbesserung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit den USA, der EU und Russlands Nachbarn nötig.

Er weist darauf hin, dass die in der letzten Dekade auf unter 2 Prozent gesunkene jährliche Wachstumsrate für Russlands Wirtschaft zumindest mittelfristig die „neue Normalität“ ist, wenn man den meisten Prognosen folge.

Ein Rückgang des Wachstums sei schon wegen der ungünstigen demografischen Trends unvermeidlich. Eine allmähliche Anhebung des Renteneintrittsalters und eine für die Zuwanderung von Arbeitskräften offene Migrationspolitik könnten die negativen Effekte des schrumpfenden inländischen Angebots von Arbeitskräften nur teilweise ausgleichen.

Dabrowski nennt außerdem unter anderem folgende Ursachen für das niedrigere Wachstum in Russland:

  • Das Geschäfts- und Investitionsklima ist schlecht
  • Die Verringerung der Abhängigkeit vom dominierenden Energiesektor bereitet Schwierigkeiten
  • Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit den USA und der EU haben sich verschlechtert.

An diesen Schwachpunkten setzen einige seiner zahlreichen und sehr weitreichenden Forderungen und Vorschläge zur Stärkung des Wachstums an:

  • Für eine Verbesserung des Geschäftsklimas sollen tiefgreifende institutionelle und politische Reformen, zum Beispiel die Stärkung der Eigentumsrechte und die Schaffung einer unabhängigen Judikative sorgen. Die Bekämpfung der Korruption sei unmöglich ohne eine demokratische Kontrolle der Verwaltung und Pressefreiheit.
  • Ein neues Privatisierungsprogramm, das für inländische und ausländische Investoren gleichermaßen offen sein müsse, soll „den Fußabdruck des Staates“ in der Wirtschaft verkleinern, für mehr Wettbewerb und eine höhere Produktivität sorgen. Daneben sei in einigen Branchen eine „De-Monopolisierung“ erforderlich, zum Beispiel in der Erdgaswirtschaft.
  • Eine tiefere Integration Russlands in die Weltwirtschaft soll, nicht nur durch eine enge Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten Russlands, sondern auch mit der EU und den USA erreicht werden.

Professor Dabrowski erläuterte seine Meinung zu den Ursachen der Wachstumsschwäche Russlands und seine Vorschläge für eine Stärkung des Wachstums auch im Juli in einem Gespräch mit Professor Aleksander Auzan (Lomonosov Moscow State University), das von der russischen Zentralbank aufgenommen wurde (Video mit Mitschrift in Englisch: „The Impact of Democratization: What Makes the Reforms Effective“; Episode 4, 11.07.2019).

Rosstat-Revisionen sorgten Ende 2019 wieder für etwas mehr Wachstum

Als eine ziemlich verlässliche Quelle für ein stärkeres Wirtschaftswachstum erwies sich am Jahresende wieder einmal die russische Statistikbehörde Rosstat. Nach ihren neuen Schätzungen hellte sich das Konjunkturbild seit 2015 etwas auf.

Die Rezession im Jahr 2015 war schwächer als bisher errechnet. Die Wirtschaft erholte sich auch schneller als bisher geschätzt von diesem Rückschlag. Die am 31. Dezember mitgeteilten Aufwärtskorrekturen (die in der BOFIT-Studie noch nicht berücksichtigt wurden) ändern am schwachen Wachstum im Durchschnitt der Jahre 2012 bis 2018 aber kaum etwas.

Rosstat nahm laut Interfax folgende Revisionen des Bruttoinlandsprodukts vor:

  • 2015 sank das BIP nur um 2,0 Prozent (bisher: – 2,3 Prozent)
  • 2016 wuchs das BIP um 0,3 Prozent (wie bisher geschätzt)
  • 2017 wuchs das BIP um 1,8 Prozent (bisher: + 1,6 Prozent)
  • 2018 wuchs das BIP um 2,5 Prozent (bisher: + 2,3 Prozent)

Auch 2019 dürfte die gesamtwirtschaftliche Produktion laut Prognose der Regierung nur um 1,3 Prozent gestiegen sein. Analysten schätzten im Dezember in einer Reuters-Umfrage das Wachstum 2019 im Durchschnitt auf 1,2 Prozent.

Wachstumsprognosen 2019 bis 2021
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

201920202021
ING Bank, Amsterdam01/10/202011.51.7
Commerzbank, Frankfurt01/10/20201.21.61.3
Helaba, Frankfurt01/10/20201.31.71.7
Weltbank, Washington01/08/20201.21.61.8
Russian Academy of Sciences, RAS01/08/20201.11.82.2
Berenberg Bank, Hamburg01/06/20200.811.7
Reuters-Umfrage12/24/20191.21.8
Vnesheconombank Institute12/20/20191.31.82.1
RIA Rating12/20/20191.3
CMASF, Moskau12/18/20191.11.31.5
Erste Group, Wien12/17/20191.11.9
Russische Zentralbank,
Basisszenario
12/13/20190,8 bis 1,3
Urals 64 $/b
1,5 bis 2,0
Urals 55 $/b
1,5 bis 2,5
Urals 50 $/b
Citibank12/12/20191.322.5
Ifo Institut M?nchen12/12/20191.222
IWH Halle12/12/20191.32.11.7
DIW Berlin12/11/20191.21.81.9
IfW Kiel12/11/20190.81.31.8
DekaBank, Frankfurt12/11/20191.221.7
Economist Intelligence Unit 12/11/20191.11.61.7
OPEC, Wien12/11/201911.2
Sberbank, Moskau12/11/201911.72.2
Morgan Stanley12/06/20191.21.72
Fitch Ratings, Global Outlook12/05/20191.422
Higher School of Economics-Umfrage12/05/20191.1
Urals 64,0 $/b
1.7
Urals 61,2 $/b
1.8
Urals 63,1 $/b
Alfa Bank12/04/20191.11.4
Russische Regierung;
Basisszenario im Haushaltsgesetz
12/02/20191.3
Urals 62,2 $/b
1.7
Urals 57,0 $/b
3.1
Urals 56,0 $/b
FocusEconomics
Consensus Forecast
11/26/20191.21.71.9
IWF, New York10/15/20191.11.92

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Titelbild: Arbeiter in einer Fabrik in der russischen Republik Tatarstan. Foto von Simon Schütt für Ostexperte.de[/su_spoiler]
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Quellen und Lesetipps:

20 Jahre Putin; Rück- und Ausblicke auf Russlands Wirtschaftspolitik

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Periodisch erscheinende Konjunkturberichte

Rosstat: Revision der Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts 2012 bis 2018

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