Vor ihrer Leitzinsentscheidung am 21. Juli wird die russische Zentralbank wieder Banken und Forschungsinstitute zur Konjunkturentwicklung in Russland befragen. Das Ergebnis wird am 13. Juli veröffentlicht. Bei der letzten Umfrage Ende Mai haben die vorwiegend russischen Analysten ihre Prognosen für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft im Mittelwert auf 0,8 Prozent angehoben. Mitte April hatten sie noch mit einem leichten Rückgang des Bruttoinlandsprodukts gerechnet (- 0,1 Prozent).
Die russische Regierung kündigte kürzlich an, dass sie ihre im April veröffentlichte Wachstumsprognose für 2023 (+ 1,2 Prozent) weiter anheben will. Ob die Mehrzahl der Banken und Institute ihr in den nächsten Tagen bei der neuen Umfrage der Zentralbank folgen wird? Hat die „Prigoschin-Revolte“ (Irina Scherbakowa) Verbraucher und Unternehmen in Russland vielleicht doch so verunsichert, dass sie Konsum und Investitionen weniger als bisher geplant erhöhen? Oder wird Russland den „Schlamassel“ (Außenminister Lawrow) ohne schmerzhafte Folgen für die Wirtschaft „abhaken“ können?
Reuters-Umfrage: Die „Meuterei“ schwächt den Rubel und treibt die Inflation
Alexandra Prokopenko macht in ihrem wöchentlichen Wirtschafts-Newsletter für „The Bell“ darauf aufmerksam, dass der „Wagner-Aufstand“ eine verstärkte Bargeldnachfrage bei russischen Banken auslöste. Seit der „Teil-Mobilisierung“ im September 2021 sei nicht mehr so viel „Cash“ nachgefragt worden. Laut dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Andrei Belousov sei die Bargeldnachfrage am 24. Juni rund 30 Prozent höher als gewöhnlich gewesen.
Auch der Rubel geriet unter verstärkten Druck. Die russische Währung (siehe Trading Economics Chart) hat sich seit der „Meuterei“ Prigoschins am 24. Juni beschleunigt abgeschwächt. Am 30. Juni verteuerte sich der US-Dollar zeitweilig auf rund 89 Rubel. Die Abwertungserwartungen für den Rubel haben sich offenbar verstärkt (siehe auch Business Insider).
Laut einer vom Moskauer Reuters-Büro Ende Juni durchgeführten Umfrage bei 13 Analysten ist zu erwarten, dass der Rubel in einem Jahr Ende Juni 2024 gegenüber dem Dollar bei 87,90 Rubel gehandelt wird. Vor einem Monat war in der Reuters-Umfrage noch damit gerechnet worden, dass der Rubel-Kurs im Verlauf der nächsten 12 Monate nur auf 79,00 Rubel je US-Dollar abwerten wird.
Die Abschwächung des Rubels seit Herbst 2022 ist, so Reuters, einer der Inflationsfaktoren, die die Zentralbank bisher daran gehindert haben, den Leitzins zu senken, und sie nun wahrscheinlich dazu zwingen werden, die Kreditkosten zu erhöhen. Die Zentralbank hielt den Leitzins seit September 2022 bei 7,5 Prozent. Die meisten von Reuters befragten Analysten gehen jedoch davon aus, dass er am 21. Juli auf 8 Prozent erhöht wird. Drei Analysten erwarten eine Anhebung um 25 Basispunkte. Nur einer prognostiziert eine Beibehaltung des Leitzinses von 7,5 Prozent.
Die Reuters-Umfrage ergab im Durchschnitt der Erwartungen, dass der Leitzins im letzten Quartal 2023 mit 8,25 Prozent seinen Höchststand erreichen dürfte. Erst Ende 2024 wird wieder ein Leitzins von 7,5 Prozent erwartet.
Ihre Erwartungen für den jährlichen Preisanstieg am Jahresende 2023 hatten die von Reuters befragten Analysten bisher kontinuierlich gesenkt. Ende Mai rechneten sie noch mit einem Rückgang der Inflationsrate auf 5,4 Prozent im Dezember. Jetzt prognostizieren sie einen Preisanstieg von 5,7 Prozent für Ende 2023.
Die Wachstumsprognosen für 2023 sind bisher aber weiter gestiegen
Die Erwartungen der von Reuters befragten Analysten zur Entwicklung der Produktion der russischen Wirtschaft scheinen zumindest bisher aber wenig von der Meuterei Prigoschins beeinflusst worden zu sein. Die durchschnittliche Wachstumsprognose für 2023 ist in der Reuters-Umfrage im letzten Monat jedenfalls von 0,7 Prozent auf 1,2 Prozent gestiegen.
Bisher rechnen auch immer mehr westliche Beobachter mit einem Wachstum der russischen Wirtschaft von rund einem Prozent im laufenden Jahr. Dazu gehören das Kieler Institut für Weltwirtschaft (+ 1,0 Prozent), das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (+ 0,8 Prozent) und das Münchner ifo Institut (+ 0,6 Prozent). Die Amsterdamer ING Bank hob ihre Prognose Anfang Juni auf 1,0 Prozent an, die Frankfurter DekaBank Mitte Juni auf 0,9 Prozent.
Auch die Mailänder Großbank UniCredit erwartet in ihrer Ende Juni veröffentlichten Analyse der Konjunkturentwicklung in den Ländern in Mittel- und Osteuropa („CEE Quarterly“) jetzt für 2023 einen Anstieg des russischen Bruttoinlandsprodukts um 1,0 Prozent. Vor einem Vierteljahr hatte sie in Russland noch eine weitere Rezession von 2,5 Prozent erwartet.
BIP-Prognosen 2023 und 2024
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
UniCredit hebt BIP-Prognose von – 2,5 Prozent auf + 1,0 Prozent an
Artem V. Arkhipov und Ariel Chernyy, die Analysten der Mailänder Großbank UniCredit, konstatieren einen „fiskalgetriebenen Aufschwung“ in Russland. Sie prognostizieren:
Der öffentliche Verbrauch wird 2023 um 1,9 Prozent erhöht. Der private Verbrauch steigt noch etwas stärker um 2,4 Prozent. Auch die Anlageinvestitionen wachsen (+ 1,8 Prozent).
Gebremst wird das Wachstum von der außenwirtschaftlichen Entwicklung. Während die Exporte um 6,2 Prozent sinken, steigen die Importe um 5,9 Prozent. Der Wachstumsbeitrag des Netto-Exports ist negativ.
Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts erreicht laut UniCredit im Jahr 2023 1,0 Prozent. Es schwächt sich 2024 bei geringeren Impulsen von den Staatsausgaben (+ 0,5 Prozent) voraussichtlich auf 0,8 Prozent ab.
Gesamtwirtschaftliche Daten und Prognosen
UniCredit: CEE Quarterly June 2023, 29.06.23
Mitte Juli erscheint: Deutsche Ausgabe von Bank Austria
Wichtigster Wachstumsträger ist 2023 wieder der Verbrauch
Die folgende Abbildung lässt für das Jahr 2023 die Schätzungen der UniCredit für die Wachstumsbeiträge des privaten und öffentlichen Verbrauchs (roter Säulenteil) und der Investitionen (rosa Säulenteil) zum Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 1,0 Prozent erkennen (dunkle Linie).
Prognose der Verwendung des realen Bruttoinlandsprodukts
BIP-Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent (schwarze Linie)
Beiträge der Verwendungsbereiche in Prozentpunkten
UniCredit: CEE Quarterly June 2023, 29.06.23
Mitte Juli erscheint: Deutsche Ausgabe von Bank Austria
Mit Abstand den größten Wachstumsbeitrag erwartet UniCredit 2023 vom Verbrauch (roter Säulenteil). Die „Bremswirkung“ der Entwicklung von Ein- und Ausfuhren wird von UniCredit aber etwa ebenso hoch veranschlagt (unterer hellgrauer Säulenteil). Einen positiven Wachstumsbeitrag erwartet UniCredit auch von den Investitionen und den „statistischen Diskrepanzen“ (oberer dunkelgrauer Säulenteil).
Die Staatsausgaben stützen Konsum und Investitionen
UniCredit betont die Bedeutung der staatlichen Ausgabenpolitik für die Erholung der russischen Wirtschaft:
Von Januar bis Mai 2023 stiegen die Haushaltsausgaben im Jahresvergleich um über 25 Prozent. Das Finanzministerium wies wiederholt darauf hin, dass dieses starke Wachstum in erster Linie auf die beschleunigte Ausführung geplanter Ausgaben zurückzuführen ist. Fast 45 Prozent der für das gesamte Jahr 2023 geplanten Ausgaben wurden bereits in den ersten fünf Monaten des Jahres vorgenommen. Im historischen Durchschnitt waren es in den ersten fünf Monaten nur rund 35 Prozent.
Auch die für das gesamte Jahr 2023 geplante Ausgabensumme wurde verglichen mit dem ursprünglichen Haushaltsgesetz um etwa 1 Billion Rubel (0,6 % des BIP) erhöht. UniCredit geht davon aus, dass für das Jahr 2023 noch weitere Ausgabenerhöhungen um 0,5 bis 1,0 Billionen Rubel beschlossen werden.
Kräftig gestiegene Haushaltseinnahmen erlauben höhere Ausgaben
Nach Einschätzung von UniCredit hat die Regierung aufgrund der Entwicklung der Einnahmen genügend Spielraum für eine Erhöhung der Ausgaben. Die Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich seien 2023 zwar im Jahresvergleich um fast 50 Prozent rückläufig. Dieser Einbruch sei aber hauptsächlich auf ungewöhnlich hohe Einnahmen im Jahr 2022 zurückzuführen. Die diesjährigen Öl- und Gaseinnahmen lägen in Rubel fast auf dem Niveau des Jahres 2021. Der schwächere Rubel-Kurs trage dazu bei. Außerdem habe die Regierung eine Reihe von Steuererhöhungen beschlossen.
UniCredit rechnet deswegen jetzt nur noch mit einem Anstieg des föderalen Haushaltsdefizits von 2,2 Prozent des BIP im Jahr 2022 auf 3,2 Prozent des BIP im Jahr 2023.
Ministerium: Das BIP war von Januar bis Mai 0,6 Prozent höher als im Vorjahr
Am 28. Juni veröffentlichte das Statistikamt Rosstat die Konjunkturdaten für Mai. Nach ersten Berechnungen des russischen Wirtschaftsministeriums, so berichtete Wedomosti, war Russlands reales Bruttoinlandsprodukt im Mai 5,4 Prozent höher als vor einem Jahr. Im Zwei-Jahres-Vergleich zum Mai 2021 stieg das BIP um 0,6 Prozent.
Reales Bruttoinlandsprodukt
Veränderungen gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent
Quelle: Russisches Wirtschaftsministerium
Trading Economics: Russian Economy Grows 5.4% in May, 29.06.23
In den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 war die gesamtwirtschaftliche Produktion laut dem Ministerium 0,6 Prozent höher als im entsprechenden Vorjahreszeitraum.
Gegenüber dem Vormonat April 2023 stieg das Bruttoinlandsprodukt im Mai saison- und kalenderbereinigt um 1,4 Prozent.
Erste Berechnungen des Forschungsinstituts Wneschekonombank weichen von diesen Angaben des Ministeriums geringfügig ab. Laut dem Wochenbericht des VEB-Instituts stieg das BIP im Mai gegenüber dem Vormonat um 1,1 Prozent und war 5,1 Prozent höher als vor einem Jahr im Mai 2022.
Die in der folgenden Abbildung dargestellte Entwicklung des VEB-Instituts berechneten Indexes des realen Bruttoinlandsprodukts zeigt, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion Russlands nach einer kräftigen Erholung seit Mitte 2022 inzwischen kaum noch niedriger ist als am Jahresanfang 2022 vor dem Beginn des Ukraine-Krieges.
Index des realen Bruttoinlandsprodukts (Jan. 2014= 100)
saison- und kalenderbereinigt, Schätzung des VEB-Instituts
VEB-Institut: „World Economy and Markets Review“, 30.06.23
Gewachsen ist die Produktion im Vorjahresvergleich im Mai unter anderem in den Bereichen „Verarbeitendes Gewerbe“, Bauwirtschaft, Großhandel und Einzelhandel, Gastronomie, Dienstleistungen und Personenverkehr. Gesunken ist die Produktion unter anderem im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ und im Personenverkehr.
Die Industrieproduktion war im Mai 7,1 Prozent höher als vor einem Jahr
Die folgende Abbildung des VEB-Instituts zeigt, dass die Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“ im Mai im Vorjahresvergleich besonders kräftig gestiegen ist. Sie überschritt ihr vor dem Ukraine-Krieg erreichtes Niveau und war 12,8 Prozent höher als vor einem Jahr im Mai 2022 (obere, dunkelgrüne Linie). Insgesamt übertraf die Industrieproduktion im Mai ihr Vorjahresniveau um 7,1 Prozent (schwarze Linie).
Index der Industrieproduktion (Jan 2014 = 100)
saison- und kalenderbereinigt
VEB-Institut: „World Economy and Markets Review“, 30.06.23
Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (untere hellgrüne Linie) war im Mai zwar auch etwas höher als vor einem Jahr (+ 1,9 Prozent). Gegenüber dem Vormonat April sank sie bereinigt aber um 0,6 Prozent. Im verarbeitenden Gewerbe stieg die Produktion gegenüber dem Vormonat hingegen bereinigt um 1,6 Prozent. Insgesamt war die Industrieproduktion im Mai bereinigt 0,8 Prozent höher als im April.
Auch der private Verbrauch legte im Mai kräftig zu
Laut den Berechnungen des Wirtschaftsministeriums stieg der reale Umsatz in den Bereichen Einzelhandel, Gastronomie und kostenpflichtige Dienstleistungen für die Bevölkerung im Mai im Vorjahresvergleich um insgesamt 8,8 Prozent.
Das VEB-Institut veröffentlichte zur Entwicklung des privaten Verbrauchs folgende Abbildung der Entwicklung des realen Umsatzes in den Bereichen Einzelhandel (schwarze Linie) und Dienstleistungen (dunkelgrüne Linie) vor dem Hintergrund der Entwicklung der Reallöhne (graue Linie).
Reallöhne und privater Verbrauch (Januar 2014 = 100)
Indizes der saison- und kalenderbereinigten Entwicklung von Reallöhnen, realem Einzelhandelsumsatz und realem Dienstleistungsumsatz
VEB-Institut: „World Economy and Markets Review“, 30.06.23
Im Vergleich zum Mai 2022 stieg der reale Umsatz im Mai 2023 im Einzelhandel um 9,3 Prozent und im Dienstleistungsbereich um 5,2 Prozent. Saison- und kalenderbereinigt wuchs der Einzelhandelsumsatz gegenüber April um 1,1 Prozent. Der Dienstleistungsumsatz war 0,5 Prozent höher als im Vormonat.
Reallöhne im April 10,4 Prozent höher als vor einem Jahr
Angaben zur Entwicklung der Reallöhne liegen bisher nur bis April vor. Im Vergleich zum April 2022 sind die Reallöhne im April 2023 um 10,4 Prozent gestiegen. Gegenüber März 2023 waren sie im April 2023 saison- und kalenderbereinigt 1,6 Prozent niedriger.
Reallöhne
Veränderung gegenüber Vorjahresmonat in Prozent
Trading Economics: Russia Real Wages Growth at Over 5-Year High, 28.06.23
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
Russlands Konjunktur: Deutsche Institute bleiben sehr geteilter Meinung, 25.06.23
Russland: Weitere Rezession oder Wachstum der Wirtschaft? 12.06.23
Russische Analysten auf der Spur der IWF-Wachstumsprognosen. 06.06.23
Die Russland-Sanktionen werden verschärft – Wie wirkten sie bisher? 30.05.23
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Dekoder: Prigoshins Aufstand: Eine Chronologie der Ereignisse
- Phoenix-Runde: Putin und der Westen – Wie umgehen mit Russland? Anke Plättner diskutiert mit: Katja Gloger, Anja Dahlmann, Alexey Yusupov und Hermann Krause
- Alexander Rahr: Die Schmach des Präsidenten. …. Doch wie geht es weiter? Preußische Allemeine
- Michael Rochlitz im AHK-Podcast: Wem schaden die Sanktionen mehr?