Russische Analysten auf der Spur der IWF-Wachstumsprognosen

Mitte April hob die russische Regierung ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft auf 1,2 Prozent an. Kurz zuvor hatte der Internationale Währungsfonds seine Wachstumserwartung auf 0,7 Prozent erhöht, nachdem er schon Ende Januar für die russische Wirtschaft ein Wachstum von 0,3 Prozent im Jahr 2023 prognostiziert hatte.

Viele Konjunkturbeobachter blieben lange deutlich skeptischer als der IWF, vor allem außerhalb Russlands. Russische Banken und Forschungsinstitute beurteilen die Wachstumsaussichten der Wirtschaft inzwischen aber ähnlich positiv wie der IWF. Das zeigen auch die am 01. Juni veröffentlichten beiden Umfragen der russischen Zentralbank und des Moskauer Reuters-Büros.

Gestützt werden die Wachstumsprognosen für 2023 von der aktuellen Konjunkturentwicklung. Die letzte Woche veröffentlichten April-Daten lassen nach Einschätzung des Forschungsinstituts der Wneschekonombank auf eine weitere Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion schließen. Das reale Bruttoinlandsprodukt hat sich von seinem Einbruch im ersten Halbjahr 2022 inzwischen so stark erholt, dass es im April 2023 nach ersten Schätzungen des VEB-Instituts 3,0 Prozent höher war als vor einem Jahr im April 2022.

Auch ausländische Banken und Institute heben ihre Prognosen an

Bei der Ende Mai durchgeführten Zentralbank-Umfrage wird jetzt im Mittelwert im Jahr 2023 eine Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Russland um 0,8 Prozent erwartet (bisher: – 0,1 Prozent)  Die Reuters-Umfrage ermittelte eine durchschnittliche Wachstumserwartung von 0,7 Prozent (bisher: + 0,1 Prozent). An der Zentralbank-Umfrage waren allerdings nur wenige ausländische Banken und Institute beteiligt (5 der insgesamt 31 Teilnehmer). Das dürfte vermutlich auch für die Umfrage des Moskauer Reuters-Büros gelten (insgesamt 12 Teilnehmer).

Im Ausland werden die Perspektiven der russischen Wirtschaft aber weiterhin merklich negativer gesehen als in Russland. Das zeigen die Ergebnisse der monatlichen Umfragen des in Barcelona ansässigen Research-Unternehmens FocusEconomics, die nur wenige Prognosen aus Russland erfasst. So wurde bei der am 09. Mai veröffentlichten Umfrage von FocusEconomics für 2023 in Russland noch ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 1,2 Prozent erwartet.

Auch ausländische Banken und Institute heben ihre Produktionsprognosen für die russische Wirtschaft jedoch weiter an. Die Amsterdamer ING Bank erhöhte ihre Prognose für 2023 jetzt sogar von – 0,5 Prozent auf + 1,0 Prozent. Die neue Umfrage von FocusEconomics, die am 06. Juni veröffentlicht wird, dürfte im Durchschnitt jedoch allenfalls eine Stagnation der russischen Wirtschaft erwarten lassen. Schließlich gehen  die EU-Kommission, die Wirtschaftsabteilung der Vereinten Nationen und die Londoner Entwicklungsbank EBRD in ihren Mitte Mai veröffentlichten Prognosen noch von einem Anhalten der Rezession in Russland aus.

BIP-Prognosen 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

 

Zentralbank-Umfrage jetzt nah an der BIP-Prognose der Regierung für 2023

Die am 01. Juni veröffentlichte Zentralbank-Umfrage bei 26 russischen und 5 ausländischen Banken, Forschungsinstituten und Medien lässt im Mittelwert jetzt erwarten, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt 2023 um 0,8 Prozent wächst. Bei der letzten Zentralbank-Umfrage vom 20. April hatten die Teilnehmer noch damit gerechnet, dass Russlands Wirtschaft nach dem Rückgang um 2,1 Prozent im Jahr 2022 im Jahr 2023 noch etwas weiter schrumpft (- 0,1 Prozent).

Hinter der Wachstumsprognose des Wirtschaftsministeriums für 2023 (+ 1,2 Prozent) bleibt das Ergebnis der Zentralbank-Umfrage mit 0,8 Prozent damit jetzt nur noch wenig zurück. Das Umfrageergebnis für das Jahr 2024 (+ 1,4 Prozent) unterschreitet die Regierungsprognose (+ 2,0 Prozent) deutlicher.

Die Wachstumsprognosen für 2023 sind kräftig weiter gestiegen

Die folgende Abbildung der Zentralbank zeigt die starke Anhebung der BIP-Prognosen für 2023 in den letzten beiden Umfragen. Bei der Ende Mai durchgeführten jüngsten Umfrage erhöhte sich der Median der Prognosen zur Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2023 gegenüber der Mitte April durchgeführten Umfrage um fast einen Prozentpunkt von minus 0,1 Prozent auf plus 0,8 Prozent. Bei der April-Umfrage war die Wachstumsprognose auch um rund einen Prozentpunkt gestiegen.

Für die nächsten beiden Jahre erwarten die Analysten jetzt ein reales Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 1,4 Prozent (2024) und 1,5 Prozent (2025).

 

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
2023 bis 2025: Ergebnisse der Zentralbank-Umfragen vom März, April und Mai
sowie höchste und niedrigste Prognosen in den Umfragen

Russische Zentralbank: Macroeconomic survey of theCBR; 01.06.2023

Die Spannweite der Prognosen für die Veränderung des realen BIP im Jahr 2023 reichte bei der jüngsten Umfrage von – 1,5 Prozent bis + 1,9 Prozent (grau schraffierte Fläche zwischen den grünen Linien).

Steigende Löhne bei sinkender Inflation geben Wachstumsimpulse

Die folgende tabellarische Übersicht der Zentralbank zeigt die jüngsten Umfrageergebnisse im Vergleich mit den Ergebnissen der letzten Umfrage von Mitte April in Klammern.

Die Inflationserwartungen der Analysten nahmen in der neuen Umfrage noch etwas weiter ab. Erwartet wird jetzt für Dezember 2023 eine jährliche Inflationsrate von 5,5 Prozent (April-Umfrage: 5,9 Prozent). Ab Ende 2024 soll das Inflationsziel der Zentralbank von 4,0 Prozent erreicht sein.

Die Erwartungen für die Höhe des durchschnittlichen jährlichen Leitzinses im Jahr 2023 hielten sich auch in der jüngsten Umfrage bei 7,5 Prozent. Bis 2025 wird bei sinkender Inflation ein Rückgang des Leitzinses auf 6,0 Prozent erwartet.

Die Prognose für die Arbeitslosenquote am Jahresende 2023 ist noch etwas weiter auf 3,6 Prozent gesunken. In der April-Umfrage war noch mit 3,7 Prozent gerechnet worden.

Die Erwartungen für den Anstieg der Nominallöhne haben sich gleichzeitig weiter erhöht. Die Analysten erwarten 2023 jetzt 9,7 Prozent höhere Nominallöhne. Bisher wurde ein Anstieg um 8,9 Prozent prognostiziert. Für die nächsten zwei Jahre haben sich die Erwartungen für die Lohnsteigerungen kaum verändert: Bei sinkender Inflation wird 2024 ein Anstieg der Nominallöhne um 7,2 Prozent und 2025 um 6,0 Prozent erwartet.

Ergebnisse der Umfrage der Zentralbank

Russische Zentralbank: Macroeconomic survey of the CBR; 01.06.2023

Das Haushaltsdefizit verdoppelt sich 2023 nur vorübergehend

Die Entwicklung des konsolidierten Budgetdefizits des Gesamtstaates wird trotz des viel beachteten Anstiegs des Defizits im ersten Quartal 2023 jetzt kaum ungünstiger als bisher eingeschätzt. Das Budgetdefizit dürfte sich 2023 nicht auf 2,6 Prozent des BIP, sondern geringfügig stärker auf 2,7 Prozent des BIP erhöhen. Damit verdoppelt sich die Defizitquote im Vergleich mit 2022 aber fast. Ab 2024 wird jedoch weiterhin mit einem raschen Rückgang des Defizits bis auf 1 Prozent des BIP im Jahr 2025 gerechnet.

Starker Rückgang der Ausfuhrerlöse im Jahr 2023

Die Einschätzung der außenwirtschaftlichen Entwicklung hat sich gegenüber der April-Umfrage wenig verändert. Die Analysten erwarten weiterhin in diesem Jahr einen scharfen  Rückgang der Exporterlöse um rund ein Fünftel im Vergleich zum Jahr 2022 bei gleichzeitig steigenden Ausgaben für Einfuhren. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Ausfuhrerlöse im Jahr 2022 wegen des starken Anstiegs der Energie- und Rohstoffpreise um rund 16 Prozent gewachsen sind.

2023 wird der Urals-Ölpreis aber laut der Umfrage gut ein Viertel niedriger sein als 2022. Mit gesunkenen Ausfuhrpreisen werden die Erlöse beim Export von Waren und Dienstleistungen im laufenden Jahr gegenüber dem Jahr 2022 voraussichtlich um rund 22 Prozent auf 500 Milliarden US-Dollar einbrechen. Bis 2025 dürften sie sich lediglich um rund 5 Prozent auf 525 Milliarden Dollar erholen. Damit wären sie nur noch rund 5 Prozent niedriger als 2021.

Der Exportüberschuss sinkt

Gleichzeitig mit dem Einbruch der Exporterlöse erhöhen sich 2023 die Ausgaben für Einfuhren voraussichtlich um rund 7 Prozent auf 375 Milliarden Dollar. Der Ausfuhrüberschuss sinkt auf 125 Mrd. Dollar. Bis 2025 wird ein Anstieg der Einfuhren um rund 7 Prozent auf 400 Milliarden Dollar erwartet. Der Ausfuhrüberschuss dürfte damit bei 125 Milliarden Dollar stagnieren. Er bleibt rund ein Viertel niedriger als 2021 (170 Mrd. US-Dollar).

Dabei wird für die Jahre 2023 bis 2025 ein ziemlich stabiler Ölpreis in US-Dollar angenommen. Der durchschnittliche Urals-Ölpreis im Jahr 2023 wird von den Analysten auf 56 USD pro Barrel geschätzt (bisher 60 USD). Im nächsten Jahr soll er auf 60 USD pro Barrel steigen und 2025 dieses Niveau halten.

 

Der Rubel wertet ab 2024 nur noch langsam ab

Die Prognose für den durchschnittlichen Rubel-Wechselkurs gegenüber dem US-Dollar im Jahr 2023 wurde Im Vergleich mit der April-Schätzung von 76 Rubel auf 76,9 Rubel je US-Dollar angehoben. Gegenüber 2022, als im Jahresdurchschnitt nur 67,4 Rubel für einen Dollar bezahlt werden mussten, verteuert sich der US-Dollar 2023 also um rund 14 Prozent. In den nächsten beiden Jahren wird mit einer deutlich langsameren Abwertung des Rubels gerechnet. 2024 wird eine weitere Abwertung des Rubels auf 77,9 Rubel je US-Dollar und 2025 auf 79,5 Rubel je US-Dollar erwartet.

VEB-Institut: Russlands BIP ist im April bereinigt kaum weiter gestiegen

Nach ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der Wneschekonombank stagnierte  Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion im April 2023 saison-  und kalenderbereinigt fast. Sie stieg gegenüber dem Vormonat März nur noch um 0,1 Prozent. Im März war sie gegenüber Februar noch sprunghaft um 0,9 Prozent gewachsen.

Die folgende Abbildung zeigt aber, dass die russische Wirtschaft damit im April bereits rund zwei Drittel ihres Produktionseinbruchs im Verlauf des ersten Halbjahres 2022 aufgeholt hat.

 

Index des realen Bruttoinlandsprodukts (Jan. 2014= 100)

saison- und kalenderbereinigt, Schätzung des VEB-Instituts

VEB-Institut: World Economy and Markets Review, 02.06.23

Im Vergleich zum Vorjahresmonat wächst das BIP jetzt wieder

Im Vergleich zum April 2022, in dem die gesamtwirtschaftliche Produktion stark gesunken ist, war das reale Bruttoinlandsprodukt laut dem VEB-Institut im April 2023 um 3,0 Prozent höher. Im März 2023 hatte es sein Vorjahresniveau noch um 0,8 Prozent unterschritten.

Die Angaben  des russischen Wirtschaftsministeriums weichen von diesen ersten Schätzungen des VEB-Instituts geringfügig ab: Den Anstieg des BIP im April im Vorjahresvergleich schätzt das Ministerium nicht auf 3,0 Prozent, sondern auf 3,3 Prozent. Den bereinigten Anstieg des BIP im April gegenüber März veranschlagt das Ministerium nicht auf 0,1 Prozent, sondern auf 0,2 Prozent.

Gestiegen ist laut dem VEB-Institut die Produktion der russischen Wirtschaft im April gegenüber März in den Bereichen Verarbeitendes Gewerbe, Einzelhandel, Personenverkehr, Bauwirtschaft und Landwirtschaft. Rückläufig war die Produktion im Großhandel, im Bereich der privaten Dienstleistungen und im Warenverkehr. Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ stagnierte im April wie im März auf dem Niveau des Vormonats.

Die Industrieproduktion hat sich kräftig erholt

Die Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ hat laut den Berechnungen des VEB-Instituts seit der Jahresmitte 2022 fast den den gesamten tiefen Einbruchs in der ersten Jahreshälfte 2022 aufgeholt (siehe dunkelgrüne Linie in der folgenden Abbildung). Im April 2023 war die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes 8,0 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Gegenüber dem Vormonat März stieg sie im April nach Schätzung des VEB-Instituts saison- und kalenderbereinigt um 1,0 Prozent.

Die Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ (hellgrüne Linie) hatte sich bereits im Verlauf des zweiten Quartals 2022 deutlich erholt. Seitdem ist sie leicht gesunken. Im April 2023 war sie 3,1 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Gegenüber dem Vormonat stagnierte sie im April 2023 wie bereits im März saison- und kalenderbereinigt laut dem VEB-Institut.

Insgesamt ist die Industrieproduktion (schwarze Linie) im April gegenüber März 2023 saison- und kalenderbereinigt laut dem VEB-Institut um 0,8 Prozent gestiegen (laut Rosstat noch deutlich stärker um 1,7 Prozent). Ihr Vorjahresniveau übertraf die gesamte Industrieproduktion laut Rosstat im April um 5,2 Prozent.

Index der Industrieproduktion (Jan. 2014 = 100)
saison- und kalenderbereinigt

VEB-Institut: World Economy and Markets Review, 02.06.23

In den ersten vier Monaten des Jahres 2023 stieg die Industrieproduktion im Vergleich zum Vorjahreszeitraum laut Rosstat insgesamt um 0,6 Prozent. Dabei war die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe sogar 2,9 Prozent höher als vor einem Jahr. Die Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen war aber 1,8 Prozent niedriger als in den ersten vier Monaten 2022.

 

Geringe Arbeitslosigkeit und sinkende Teuerung treiben Reallöhne nach oben

Die Arbeitslosenquote fiel im April mit 3,3 Prozent auf ein neues Rekordtief (TradingEconomcs-Chart). Der Arbeitskräftemangel beschleunigte das Lohnwachstum.

Angaben zum Anstieg der Reallöhne liegen bisher nur bis März 2023 vor (Trading Economics-Chart). Im Vergleich zum März 2022 waren die Reallöhne im März 2023 um 2,7 Prozent höher (graue obere Linie in der folgenden Abbildung des VEB-Instituts). Im Vergleich zum Februar sind die Reallöhne laut Schätzung des VEB-Instituts im März um 0,8 Prozent gestiegen.

Der Einzelhandel entwickelte sich viel schlechter als der Dienstleistungsbereich

Die Abbildung zeigt, dass sich der reale Umsatz der Dienstleistungsunternehmen (dunkelgrüne Linie) seit der „Corona-Rezession“ im Jahr 2020 viel besser entwickelt hat als der reale Umsatz im Einzelhandel (schwarze Linie). Von einem leichten Rückgang im ersten Halbjahr 2022 hat sich der Dienstleistungsbereich schnell erholt. Im Einzelhandel ist der tiefe Einbruch des realen Umsatzes im Jahr 2022 erst etwa zur Hälfte wettgemacht.

 

Reallöhne und privater Verbrauch (Januar 2014 = 100)

Indizes der saison- und kalenderbereinigten Entwicklung von Reallöhnen, realem Einzelhandelsumsatz und realem Dienstleistungsumsatz

VEB-Institut: World Economy and Markets Review, 02.06.23

Im April 2023 war der reale Dienstleistungsumsatz 6,0 Prozent höher als ein Jahr zuvor.

Der reale Einzelhandelsumsatz stieg gleichzeitig um 7,4 Prozent.

Im Vergleich zum Vormonat ist der reale Einzelhandelsumsatz im April saison- und kalenderbereinigt laut VEB-Institut um 1,2 Prozent gestiegen. Der reale Dienstleistungsumsatz sank gleichzeitig gegenüber März um 1,2 Prozent.

 

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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