Russland: Weitere Rezession oder Wachstum der Wirtschaft?

Noch sind die Meinungen sehr geteilt, ob Russlands Bruttoinlandsprodukt im laufenden Jahr erneut sinken wird. Zwar erwarten etwa die Pariser OECD und die Londoner Entwicklungsbank EBRD im Jahresvergleich 2023 gegenüber 2022 einen weiteren Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,5 Prozent. Die meisten russischen Banken und Forschungsinstitute prognostizieren hingegen, dass die russische Wirtschaft 2023 um rund 1 Prozent wächst und damit rund die Hälfte der Rezession des Jahres 2022 aufholt.

Präsident Putin verwies in einem Grußwort zum internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg auf Schätzungen von Experten, die russische Wirtschaft könne in diesem Jahr um ein bis zwei Prozent wachsen. Die russische Zentralbank prognostizierte bereits Ende April einen Anstieg um 0,5 bis 2 Prozent. Zentralbankpräsidentin Nabiullina betonte in ihrem Statement zur Leitzinsentscheidung am letzten Freitag, die Erholung der russischen Wirtschaft halte an. Sie erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt im nächsten Jahr wieder das „Vorkrisen-Niveau“ des Jahres 2021 erreicht.

Im April 2023 wurde im Vergleich zum Vorjahresmonat erstmals wieder ein Anstieg des russischen Bruttoinlandsprodukts verzeichnet. Nach Schätzung des Wirtschaftsministeriums war die gesamtwirtschaftliche Produktion 3,3 Prozent höher als im April 2022. BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, stellt in einer Analyse der aktuellen Konjunkturentwicklung aber heraus, dass die Produktion in den meisten „Kernbereichen“ der russischen Wirtschaft im April noch nicht so hoch war wie in den Monaten vor dem Ukraine-Krieg.

Weltbank und OECD erwarten 2023 einen weiteren BIP-Rückgang

In der letzten Woche veröffentlichten die Weltbank und die OECD neue Prognosen zur russischen Wirtschaft. Beide erwarten im laufenden Jahr einen weiteren Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion gegenüber dem Vorjahr. Die OECD rechnet – anders als die Weltbank – auch für das Jahr 2024 mit einem Anhalten der Rezession.

Die Weltbank übernahm in ihrem halbjährlich erscheinenden Bericht „Global Economic Prospects“ ihre Russland-Prognosen aus ihrem Anfang April veröffentlichten Bericht „Europe and Central Asia Update“. Sie rechnet also weiterhin damit, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion 2023 gegenüber 2022 noch etwas sinkt (- 0,2 Prozent). Als Ursachen nennt sie unter anderem eine Abnahme der Ausfuhren und eine schwache inländische Nachfrage. Sie verweist auf die Sanktionen und eine hohe politische Unsicherheit. 2024 erwartet die Weltbank in Russland dann wieder ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts  (+ 1,2 Prozent).

Die OECD beurteilt in ihrem „Economic Outlook“ die Perspektiven der russischen Wirtschaft merklich negativer als die Weltbank. Sie veranschlagt den diesjährigen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts auf 1,5 Prozent, nachdem sie Mitte März in ihrem „Interim Report“ sogar noch mit einer Rezession von 2,5 Prozent gerechnet hatte. 2024 erwartet sie eine weitere Abnahme der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 0,4 Prozent.

Bei der Anfang Juni veröffentlichten Umfrage des in Barcelona ansässigen Research-Unternehmens FocusEconomics beurteilten die Banken und Forschungsinstitute (unter ihnen nur wenige russische) die Konjunkturperspektiven der russischen Wirtschaft ähnlich wie die Weltbank. 2023 hält die Rezession laut der Umfrage zwar noch an (- 0,7 Prozent), 2024 wird die russische Wirtschaft aber voraussichtlich wieder wachsen (+1,1 Prozent).

Das Konjunkturforschungsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften (IEF RAS), das Ende März für 2023 noch einen weiteren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 0,7 Prozent erwartet hatte, geht hingegen in seiner neuen Ausgabe seiner vierteljährlich erscheinenden Prognose davon aus, dass die russische Wirtschaft schon in diesem Jahr um 1,0 Prozent wächst.

 

BIP-Prognosen 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

 

Akademie der Wissenschaften: Der Verbrauch treibt 2023 das Wachstum

Von der Entwicklung des privaten Verbrauchs erwartet das „Institute for Economic Forecasting of the Russian Academy of Sciences“ (IEF RAS) die stärksten Impulse für das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 1,0 Prozent im Jahr 2023. Der private Verbrauch (2. Zeile in der folgenden Tabelle) werde nach einem Rückgang um 1,4 Prozent im letzten Jahr jetzt um 2,0 Prozent steigen. Zum Vergleich: Die russische Zentralbank erwartet in ihrer Ende April veröffentlichten Prognose einen noch deutlich stärkeren Anstieg des privaten Verbrauchs um 3,5 bis 5,5 Prozent.

Der Staatsverbrauch, der im Rezessionsjahr real um 2,8 Prozent erhöht wurde, wird laut dem IEF 2023 weiter um 1,6 Prozent wachsen.

Bei den Anlageinvestitionen, die 2022 um 3,3 Prozent stiegen, erwartet das IEF hingegen nur noch ein schwaches Wachstum um 0,3 Prozent (Prognose der Zentralbank: 0,0 bis +3,0 Prozent). Das Institut geht davon aus, dass ein Rückgang der Rohstoffexporte und der Gewinne großer Unternehmen im Rohstoffbereich zu einer Einschränkung der Investitionen führen wird.

 

Prognosen des IEF RAS zur Verwendung des Bruttoinlandsprodukts

Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Institut für Konjunkturforschung der Russischen Akademie der Wissenschaften:
Quarterly forecast of macroeconomic indicators of the Russian Federation, 08.06.23

 

Der 2023 zu erwartende Rückgang des russischen Exports wird laut dem IEF mit 0,9 Prozent viel schwächer ausfallen als die Zentralbank erwartet (- 5,5 bis -2,5 Prozent). Beim Import, der im letzten Jahr um 15 Prozent einbrach, erwartet das IEF eine weniger starke Erholung (+ 5,9 Prozent) als die Zentralbank (+8,5 bis +11,5 Prozent).

 

Zentralbankpräsidentin: 2024 erreicht das BIP wieder sein „Vorkrisen-Niveau“

Russlands Zentralbankpräsidentin Elwira Nabiullina versicherte am letzten Freitag in ihrem Statement zur Leitzinsentscheidung, dass Russland im Jahr 2024 den Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion ausgeglichen haben wird:

„… we forecast that the economy will bounce back to its pre-crisis level next year.“

Einige Branchen haben, so Nabiullina, das Produktionsniveau von Ende 2021 bereits wieder erreicht. Die aktuelle Konjunkturlage stellte sie zusammengefasst so dar:

„Laut der April-Statistik ist die Geschäftsaktivität in vielen Schlüsselbereichen der Wirtschaft gewachsen, nämlich im verarbeitenden Gewerbe, im Baugewerbe, im Einzelhandel sowie im Dienstleistungssektor und in der Gastronomie. Der Geschäftsklimaindex der russischen Zentralbank liegt weiterhin nahe seinem Zehnjahreshoch…

Nach Einschätzung der Zentralbank entwickelt sich der Inlandstourismus unter den veränderten Rahmenbedingungen zu einem neuen Wachstumstreiber. Viele Regionen verzeichneten eine Expansion im Maschinenbau. … Auch einige andere Branchen melden eine Erholung der Produktion auf das Niveau von Ende 2021.“

Entscheidend ist der Ausgleich des Rückgangs der Auslandsnachfrage

Als „entscheidenden Strukturwandel“ stellt Nabullina die allmähliche Substitution der Auslandsnachfrage durch die inländische Nachfrage heraus:


„Insgesamt haben sich die Wirtschaftstrends verbessert. Das ist den Komponenten der Inlandsnachfrage zu verdanken, die sich vollständig erholt haben. Sie wachsen weiter und ersetzen den Anteil der Exporte. Das ist der entscheidende Strukturwandel. Angesichts der allmählichen Substitution der Nachfrage aus dem Ausland durch die inländische Nachfrage prognostizieren wir, dass die Wirtschaft im nächsten Jahr wieder das Vorkrisenniveau erreichen wird.“

 

BOFIT: Die meisten Wirtschaftsbereiche haben noch Aufholbedarf

BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, analysiert in seinem jüngsten Wochenbericht ebenfalls, wie weit sich Russlands Wirtschaft vom Einbruch der Produktion im Frühjahr 2022 erholt hat. Das Institut hebt hervor, dass die Produktion in den meisten „Kern-Bereichen“ der russischen Wirtschaft im April 2023 noch niedriger war als vor dem Ukraine-Krieg.

In der folgenden Abbildung zeigt BOFIT die saisonbereinigte Entwicklung der Produktion in den Bereichen „Bauwirtschaft“ (hellblaue Linie), Einzelhandel (rote Linie), „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (schwarze Linie) und „Verarbeitendes Gewerbe“ (dunkelblaue Linie).

 

Output of most of Russia’s core sectors were still below pre-invasion levels in April

Indizes der Produktionsmengen (saisonbereinigt, 100=Durchschnitt 2018)

BOFIT: Output in most branches of the Russian economy still below pre-invasion levels, 08.06.23

 

Nur die Bauproduktion ist trotz des Krieges ziemlich stetig weiter gestiegen. Sie war im April 2023 laut BOFIT rund 9 Prozent höher als vor dem Beginn des Ukraine-Krieges. Das rasche Wachstum der Bauproduktion scheint aber beendet. Die Anlageinvestitionen sind im ersten Quartal 2023 im Vorjahresvergleich nur noch um 0,7 Prozent gestiegen, während sie im Jahr 2022 um 4,6 Prozent wuchsen.

Die Produktion des verarbeitenden Gewerbes hat ihr Vorkriegs-Niveau im April fast wieder erreicht. Sie war nur noch rund ein Prozent niedriger.

Deutlich niedriger ist noch der reale Einzelhandelsumsatz (rund – 6 Prozent), obwohl sich seine Erholung seit dem Jahreswechsel beschleunigte. Die Reallöhne sind weiter gestiegen und die Arbeitslosenquote fiel im April auf einen neuen Tiefstand (3,3 Prozent).

Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ hat sich zwar Mitte 2022 merklich erholt, stagniert seitdem aber annähernd. Sie war im April, so BOFIT, noch rund 3 Prozent niedriger als vor dem Krieg.

Die Erdgasproduktion ist wegen des Rückgangs der Erdgasausfuhren stark gesunken. Ein rasches Wachstum der Produktion hat es hingegen bei Nicht-Eisenmetallen gegeben.

Zur Erdölproduktion veröffentlicht Rosstat keine Daten mehr. Laut Schätzungen der Internationalen Energieagentur stagnierte die russische Erdölförderung im April auf dem im März erreichten Niveau. Damit sei sie nur wenig niedriger als am Jahresbeginn gewesen. Bisher hat Russland, so die IEA, seine Ölproduktion noch nicht so stark verringert, wie es angekündigt und im Rahmen der OPEC+ vereinbart hat.

VEB-Institut: Wo die Produktion im April gegenüber März wuchs und wo sie sank

Das Forschungsinstitut der Wneschekonombank teilte zur aktuellen Produktionsentwicklung in einzelnen Wirtschaftsbereichen im April im Bericht „BIP-Index im April“ jetzt weitere Details mit.

Einen saisonbereinigten Anstieg der Produktion verzeichneten laut VEB-Institut im April gegenüber März drei der vier in der BOFIT-Abbildung dargestellten Bereichen: Die Bauwirtschaft (+3,2%), das Verarbeitende Gewerbe (+1,0 %) und der Einzelhandel (+1,2 %).

Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“, für den von der Regierung eine Beschränkung der Ölförderung beschlossen worden ist, stagnierte im April wie im bereits im März. Sie lag also weiterhin auf dem Februar-Niveau.

Gewachsen ist laut VEB-Institut außerdem die Produktion in den Bereichen Landwirtschaft (+0,3 %), Strom-, Gas- und Wasserversorgung (+2,2 %) und Personenverkehr (+2,4 %).

Die Impulse der wachsenden Branchen für die gesamtwirtschaftliche Produktion wurden aber weitgehend ausgeglichen durch Rückgänge der Produktion in den Bereichen Großhandel (-3,9 %), Gastronomie (-0,9 %), Güterverkehr (-1,7 %) und Dienstleistungen (-1,2 %). Insgesamt stieg das Bruttoinlandsprodukt im April gegenüber März deswegen nur um 0,1 Prozent.

Die Stahlerzeugung war einer der wichtigsten Wachstumstreiber im März und April.
In diesem Zeitraum kam es auch zu einem deutlichen Anstieg der Produktion von Erdölprodukten, Chemikalien, Medikamenten und Baumaterial.

Der Maschinenbau wächst seit fünf Monaten in Folge. Dabei weist der Bereich  „Produktion sonstiger Fahrzeuge“, in dem der Anteil der Aufträge des Verteidigungsministeriums gewöhnlich hoch ist, in den letzten drei Monaten einen negativen Trend auf.

Trotz des Wachstums in der Industrie setzte sich im April der Rückgang der Aktivitäten im Transportbereich fort. Die Lieferungen per Bahn nahmen ab.

Auch die Verbrauchernachfrage stützte das Wachstum

Als weiteren wichtigen Wachstumsträger im Zeitraum März/April nennt das VEB-Institut die Verbrauchernachfrage. Umfragen der russischen Zentralbank verzeichneten eine deutliche Verbesserung der Stimmung der Verbraucher und einen Rückgang der Sparneigung. Die Nachfrage nach Konsumentenkrediten belebte sich. Infolgedessen stiegen die realen Einzelhandelsumsätze vier Monate in Folge.

Vorübergehende Abschwächung der Verbrauchernachfrage

Die Nachfrage nach Dienstleistungen für die Bevölkerung nahm bereits seit Mitte letzten Jahres kontinuierlich zu. Im April 2023 begann sie jedoch zu sinken. Auch der Umsatz im Gastronomiebereich ist zurückgegangen.

Im Mai verschlechterte sich die Stimmung der Verbraucher laut Umfragen und Marktanalysen („Sberindex“). Vor allem aufgrund der schwächeren Nachfrage nach Dienstleistungen sank die Verbrauchernachfrage.

Anfang Juni beschleunigte sich das reale Wachstum der Verbraucherausgaben im Vergleich zum Vorjahr jedoch leicht. Das berichtet das VEB-Institut in seinem Wochenbericht am 09. Juni. Nach Schätzungen des Instituts betrug das reale Wachstum der Konsumausgaben im Vorjahresvergleich 5,1 Prozent gegenüber 4,9 Prozent eine Woche zuvor. Den größten Beitrag zu dieser Beschleunigung leisteten die Lebensmittelausgaben.

VEB-Institut: Rund zwei Drittel der Rezession sind aufgeholt

Vor einer Woche berichtete Ostexperte.de bereits, dass Russland den Rückgang seines Bruttoinlandsprodukts im Verlauf des ersten Halbjahres 2022 laut den ersten Berechnungen des VEB-Instituts bis einschließlich April 2023 bereits zu rund zwei Dritteln aufgeholt hat.

 

Index des realen Bruttoinlandsprodukts (Jan. 2014= 100)

saison- und kalenderbereinigt, Schätzung des VEB-Instituts

VEB-Institut: World Economy and Markets Review, 02.06.23

 

Im April 2023 begann das Wachstum des BIP im Vorjahresvergleich

Vergleicht man das Bruttoinlandsprodukt mit seinem Vorjahresniveau, ist es im April erstmals wieder gestiegen. Das Wachstum gegenüber April 2022 betrug laut den Berechnungen des VEB-Instituts 3,0 Prozent. Im März war der BIP-Index noch 0,8 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor.

 

Geschätztes Bruttoinlandsprodukt,
Veränderung gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent


VEB Institute:  Monthly GDP Index April 2023, 07.06.23

 

Im Zeitraum Januar bis April 2023 war das BIP aber noch 0,6 Prozent niedriger als in den ersten vier Monaten des Jahres 2022.

Im Mai dürften sich die Wirtschaftsaktivitäten trotz der Sanktionen weiter verstärkt haben.  FocusEconomics verweist dazu auf die Ergebnisse der Einkaufsmanager-Umfrage von S&P Global (Index für Industrie und Dienstleistungen).

 

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Russische Analysten auf der Spur der IWF-Wachstumsprognosen, 06.06.23

Die Russland-Sanktionen werden verschärft – Wie wirkten sie bisher? 30.05.23

Russische Wirtschaft: EU, UN und EBRD folgen Wachstumsprognosen nicht, 22.05.23

Russische Wirtschaft: Gesunkene Inflation zieht bald wieder an, 15.05.23

 

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu: