Russische Wirtschaft: Verschärfte Rezession – oder Anfang der Erholung?

Die Meinungen zum weiteren Verlauf der Konjunktur in Russland sind aktuell sehr geteilt. Die große Mehrheit der Experten meint, 2023 werde die Produktion der russischen Wirtschaft angesichts immer schärferer Sanktionen deutlich weiter sinken. Manche rechnen sogar mit einer Beschleunigung der Rezession auf bis zu 6,5 Prozent. In völligem Gegensatz dazu erwartet der Internationale Währungsfonds hingegen bereits für 2023 ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts.

Zuversicht weckt die Entwicklung der Industrieproduktion. Sie war 2022 laut ersten Berechnungen des russischen Statistikamtes nur 0,6 Prozent niedriger als 2022. Dass die Produktion nicht stärker abnahm, war allerdings auch durch erhöhte Ausgaben für militärische Zwecke bedingt. Bloomberg Economics erwartet im Jahr 2023 einen Anstieg der Industrieproduktion um 2,0 Prozent.

Überraschend positive Prognosen des Internationalen Währungsfonds

Der Internationale Währungsfonds setzte sich bei der Aktualisierung seines „World Economic Outlook“ Ende Januar vom „Konsens“ der Analysten erstaunlich stark ab. Der IWF erwartet jetzt nicht mehr, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt 2023 weiter sinkt. Gleich um 2,6 Prozentpunkte hob er seine Prognose vom Oktober 2022 an. Statt eines Rückgangs des Bruttoinlandsprodukts um 2,3 Prozent erwartet der IWF jetzt für 2023 einen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 0,3 Prozent.

Zum Vergleich: Sogar die russische Regierung geht in ihrer Haushaltsplanung für 2023 von einem weiteren Produktionsrückgang um 0,8 Prozent aus. Und auch bei der am 02. Februar veröffentlichten Umfrage der russischen Zentralbank, an der fast nur russische Institute teilnahmen, wurde ermittelt, dass einem BIP-Rückgang um 2,5 Prozent im Jahr 2022 eine weitere Schrumpfung der Produktion um 1,5 Prozent im Jahr 2023 folgen dürfte.

Gleichzeitig nahm der IWF Ende Januar seine Schätzung für den Rückgang des BIP im Jahr 2022 von 3,4 Prozent auf nur noch 2,2 Prozent zurück. Damit würden die Auswirkungen von Krieg und Sanktionen auf die russische Wirtschaft sehr glimpflich ausfallen – vor allem im Vergleich mit den bis Mitte 2022 oft zu hörenden Prognosen, die russische Wirtschaft werde um 15 bis 20 Prozent einbrechen.

BIP-Prognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

IWF: Statt um knapp 6 Prozent sinkt Russlands BIP nur um insgesamt 2 Prozent

Wie der Schluss der Tabelle zeigt, hat der IWF Mitte Oktober noch damit gerechnet, dass in Russland einem Rückgang der Produktion um 3,4 Prozent im Jahr 2022 eine weitere Schrumpfung um 2,3 Prozent im Jahr 2023 folgt. Insgesamt erwartete er also für die beiden Jahre einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um knapp 6 Prozent.

Jetzt rechnet der IWF damit, dass der im Jahr 2022 voraussichtlich erfolgte Produktionsrückgang um 2,2 Prozent 2023 mit einem Anstieg um 0,3 Prozent bereits zu einem kleinen Teil wettgemacht werden kann. Seine Prognose für das BIP-Wachstum im Jahr 2024 erhöhte der IWF gleichzeitig um 0,6 Prozentpunkte auf 2,1 Prozent. Schon Ende 2024 wäre damit der Produktionsrückgang des Jahres 2022 ausgeglichen.

Mittelfristig drückt der Krieg Russlands Produktionsniveau

Einige Hinweise zu den neuen IWF-Prognosen für Russland gab Petya Koeva Brooks, Stellvertretende Direktorin der IWF-Forschungsabteilung, in einem Interview mit Euronews.com (mit Video). Zu den Gründen für die deutlichen „Aufwärtsrevisionen“ der IWF-Prognosen äußerte sie sich dabei allerdings nicht. Auch der IWF-Bericht merkt zu den Revisionen lediglich an, dass die russischen Rohölexportmengen bei dem gegenwärtig von den G7-Staaten festgelegten „Preis-Deckel“ nicht deutlich betroffen sein dürften.

Petya Koeva Brooks meint, Russlands Außenhandel orientiere sich weg von Ländern, die Sanktionen verhängt hätten, zu „nicht-sanktionierenden“ Ländern. Die hohen militärischen Ausgaben Russlands hätten zur Aufrechterhaltung der Produktion beigetragen.

Gleichzeitig erklärt Koeva Brooks, dass sich die Wirkung der westlichen Sanktionen noch nicht vollständig gezeigt habe. Die russische Wirtschaft sei ziemlich abhängig von der Einfuhr von Investitionsgütern aus westlichen Staaten. Im Laufe der Zeit werde sich zeigen, wie stark die Wirkung der Sanktionen sei. Mittelfristig, wenn man etwa das Jahr 2027 ins Auge fasse, sei das vom IWF erwartete Produktionsniveau der russischen Wirtschaft deutlich niedriger, als vor dem Krieg angenommen wurde. Der Krieg werde sehr dauerhafte und deutliche Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben.

Ersatz russischen Erdgases bleibt eine „herausfordernde Aufgabe“

Im IWF-Bericht wird angemerkt, dass eine Eskalation des Krieges in der Ukraine vor allem für die Volkswirtschaften in Europa und in Staaten mit niedrigen Einkommen ein „größeres Risiko“ bleibe.

In Europa seien die Erdgaspreise jetzt zwar niedriger als erwartet wurde. Dazu beigetragen hätten höhere Erdgaslieferungen per Pipeline nach Europa und verstärkte Importe von verflüssigtem Erdgas aus anderen Staaten als Russland. Die Preise gedämpft habe auch der konjunkturell bedingte Rückgang der Erdgasnachfrage und der überdurchschnittlich warme Winter. Es sei genug Gas gespeichert, um einen Mangel an Gas in diesem Winter unwahrscheinlich zu machen.

Gleichzeitig warnt der IWF aber, angesichts der stark verringerten Gaslieferungen aus Russland werde die Auffüllung der Speicher vor dem nächsten Winter eine „herausfordernde Aufgabe“, vor allem wenn sich die Energienachfrage Chinas in diesem Jahr stark erhöht und Preissprünge nach oben auslöst.

wiiw: 2022 sank Russlands BIP nur um 2,5 Prozent

Anders als der IWF erwartet das „Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche“ (wiiw) nicht, dass Russlands Wirtschaft im Jahresdurchschnitt 2023 wieder wächst.

Aber auch laut der Ende Januar aktualisierten wiiw-Prognose ist die Rezession im Jahr 2022 noch geringer ausgefallen als im Oktober erwartet wurde. Das wiiw geht jetzt davon aus, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im letzten Jahr um 2,5 Prozent gesunken ist, nachdem es sich im Jahr 2021 vom Rückgang in der Corona-Krise des Jahres 2020 (- 2,7 Prozent) mit einem kräftigen Anstieg um 5,6 Prozent mehr als erholt hat.

Das BIP-Niveau Russlands lag nach Einschätzung des wiiw im letzten Jahr also noch rund 3 Prozent über dem Niveau des Jahres 2020. Dieser Anstieg wird nach Einschätzung des wiiw aber im Jahr 2023 verloren gehen. Das BIP dürfte im laufenden Jahr um weitere 3,0 Prozent sinken. Als Ursache verweist das wiiw vor allem auf die Sanktionen im Ölbereich.

Russlands Wirtschaft im Überblick

wiiw: Country Overview Russia, 30.01.2023

Rückblick auf 2022: Stark beschleunigter Preisanstieg und Haushaltsdefizit

Aus dem wiiw-Rückblick auf das Jahr 2022 ergibt sich außerdem:

2022 hat sich neben der gesamtwirtschaftlichen Produktion auch der Preisanstieg in Russland negativ entwickelt. Er beschleunigte sich im Jahresdurchschnitt auf 13,8 Prozent. Damit war er gut doppelt so hoch wie im Jahr 2021 (+ 6,7 Prozent).

Verschlechtert hat sich auch die Lage der öffentlichen Finanzen. Das Haushaltsbudget, das 2021 noch einen Überschuss auswies, rutschte ins Defizit. Laut wiiw war es mit 2,0 Prozent des BIP aber nur halb so hoch wie in der Corona-Krise im Jahr 2020 (- 4,0 Prozent).

In Russlands Leistungsbilanz wurde 2022 ein Rekordüberschuss verzeichnet (10,4 Prozent des BIP). Die Erlöse aus dem Energieexport wurden durch die stark gestiegenen Öl- und Gaspreise in die Höhe getrieben. Gleichzeitig sanken Russlands Ausgaben für die Einfuhren. Dazu trugen die westlichen Sanktionen bei.

Trotz der Rezession sank 2022 die russische Arbeitslosenquote von 4,8 Prozent auf 4,2 Prozent. Ein Grund dafür war die Verknappung des Angebots von Arbeitskräften durch Einberufungen zum Militär und die Auswanderung ins Ausland.

Ausblick des wiiw: Die Rezession setzt sich 2023 leicht beschleunigt fort

Zur Begründung seiner Einschätzung, dass Russlands BIP 2023 leicht beschleunigt um drei Prozent sinken dürfte, nennt das wiiw in seiner Pressemitteilung neben der Teilmobilmachung und den Ausfällen beim Gas-Export nach Europa vor allem die Ölsanktionen des Westens.

„Die am 5. Dezember in Kraft gesetzten Sanktionen sind die effizientesten, die bisher verhängt wurden“, wird der Russland-Experte des Instituts Wasilij Astrow in der Presseerklärung des wiiw zitiert. Russisches Öl müsse nun mit einem enormen Preisabschlag verkauft werden. Das schmälere die Steuereinnahmen erheblich. Rund 40 Prozent von ihnen kämen aus dem Energiesektor. Die Exportzölle auf Öl spielten dabei eine große Rolle.

Die Fähigkeiten Russlands, den Krieg gegen die Ukraine zu finanzieren, werden durch die Sanktionen nach Meinung Astrows aber nur wenig eingeschränkt werden. Er hält auch „Defizite von drei bis vier Prozent des BIP“ im Staatshaushalt für verkraftbar.

Die höheren Rüstungsausgaben begrenzten zudem den Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts. Aussagekräftiger als die BIP-Zahlen erscheinen Astrow deswegen zur Kennzeichnung der Entwicklung in Russland Indikatoren wie die Einzelhandelsumsätze. Sie seien seit Beginn des Krieges um 8 bis 10 Prozent gesunken.

Längerfristig könnte auch nach Meinung Astrows das westliche Export-Verbot für Hochtechnologie Wirkung zeigen und das Wachstum Russlands dämpfen.

Ab 2024 erwartet das wiiw eine schwache Erholung und weniger Inflation

Für die Jahre 2024 und 2025 erwartet das wiiw nur eine schwache Erholung der russischen Wirtschaft mit Anstiegen des Bruttoinlandsprodukts um 1,0 beziehungsweise 1,5 Prozent.

Fortschritte werde es bei der Preisstabilisierung geben: Der Anstieg der Verbraucherpreise dürfte im Jahresdurchschnitt 2023 mit 5,4 Prozent deutlich niedriger sein als 2022 (+13,8 Prozent), aber noch merklich über dem Inflationsziel der Zentralbank von 4 Prozent liegen. Erst 2024 werde die Inflationsrate im Jahresdurchschnitt auf 4,2 Prozent sinken.

Russlands Arbeitslosenquote werde im laufenden Jahr gegenüber dem 2022 erreichten Rekord-Tief (4,2 Prozent) zwar steigen, 2023 mit 4,8 Prozent aber lediglich den Stand des Jahres 2021 erreichen (4,8 Prozent). 2024 erwartet das wiiw einen weiteren Anstieg der Arbeitslosenquote auf 5,0 Prozent.

Zentralbank-Umfrage

Anfang Februar veröffentlichte die russische Zentralbank die Ergebnisse ihrer Ende Januar bei 31 Banken und Forschungsinstituten durchgeführten Konjunktur-Umfrage. Wie das wiiw rechneten auch die befragten Analysten im Mittelwert damit, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2022 um 2,5 Prozent gesunken ist (siehe schwarzer Punkt in der oberen schwarzen Linie in der folgenden Abbildung).

Während das wiiw für 2023 aber eine Beschleunigung der Rezession auf 3,0 Prozent erwartet, rechneten die Analysten bei der Zentralbank-Umfrage für 2023 im Mittelwert mit einer Verlangsamung der Rezession auf 1,5 Prozent.

Die große Spannbreite der Prognosen für 2023 bei der jüngsten Umfrage zeigt die grau schraffierte Fläche zwischen der oberen und der unteren grünen Linie. Die Prognosen für die Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2023 lagen zwischen – 6,5 Prozent und + 0,4 Prozent. Die Prognose des IWF hätte mit + 0,3 Prozent knapp unter dem oberen Rand der Prognosen gelegen.

Reales Bruttoinlandsprodukt,
Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

Zentralbank-Analysten-Umfrage: Macroeconomic survey of the Bank of Russia; 02.02.2023

Den unteren Rand der Prognose-Spanne für das Jahr 2023 bildet die Prognose der Alfa-Bank (- 6,5 Prozent). Die Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, Natalia Orlowa, bekräftigte ihre Einschätzung, dass sich die Rezession 2023 auf 6,5 beschleunigt, Ende Januar mit einem Artikel zum zunehmenden Abfluss von Bankguthaben aus Russland in andere Mitgliedsländer der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten.

Weitere Erholung der Industrieproduktion im Dezember

Seit der Jahresmitte 2022 hat sich die russische Industrieproduktion von ihrem starken Rückgang im Verlauf des ersten Halbjahres etwas erholt. Im Dezember 2022 war sie nach Angaben des russischen Statistikamtes aber noch 4,3 Prozent niedriger als im Dezember 2021. Im Jahresvergleich 2022/2021 sank die Industrieproduktion um 0,6 Prozent.

Saisonbereinigt ist die Industrieproduktion im Dezember 2022 nach ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der Wneschekonombank gegenüber dem Vormonat insgesamt weiter gestiegen (siehe schwarze Linie in der folgenden Abbildung). Der Anstieg war mit 0,3 Prozent allerdings schwächer als im November (+ 0,5 Prozent) und im Oktober (+ 0,7 Prozent).

Innerhalb der Industrie stieg im Dezember die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe gegenüber dem Vormonat saisonbereinigt um 0,2 Prozent (dunkelgrüne Linie). Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ nahm gleichzeitig um 0,3 Prozent zu (hellgrüne Linie).

Indizes der Industrieproduktion (Jan. 2014 = 100)

Industrie insg.; Bergbau, Förderung von Rohstoffen; Verarbeitendes Gewerbe

Forschungsinstitut der Wneschekonombank: World Economy and Markets Review, 03.02.2023

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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