„Es war ein Tanz auf dem Vulkan“ – Hermann Krause im Interview zu 100 Jahren Sowjetunion

Vor rund einem Monat wäre die Sowjetunion 100 Jahre alt geworden. Hermann Krause, ehemaliger ARD-Korrespondent in Moskau, im Interview über die Perestroika und den Alltag in den letzten Jahren der UdSSR.


Das folgende Interview ist ein Auszug aus dem Podcast “Zaren. Faten. Fakten.”

Ostexperte: Sie kamen zum ersten Mal nach Moskau als Journalist für die ARD. Wie war denn das Leben damals als deutscher Journalist in der Sowjetunion?

Hermann Krause: Ich kam 1986 zum ersten Mal nach Moskau und zwar gab es damals die „Spiele des guten Willens“, ein Spektakel was von Medienmogul Ted Turner veranstaltet wurde. Die Amerikaner hatten wegen des Einmarsches der UdSSR in Afghanistan die Olympiade boykottiert, und später hat die UdSSR dann die Olympiade in den USA boykottiert.

Das war mein erster Einsatz hier, und es gab damals auch eine Ausstellung, die hieß „NRW präsentiert sich an der Moskwa“, eine legendäre Ausstellung! Denn das war das erste Mal, dass eine Ausstellung Dinge nach Moskau brachte, die man bisher in der Sowjetunion gar nicht kannte.

Zum Beispiel konnten die Sowjetbürger sehen: wie wird eine deutsche Küche zusammengebaut? Die Leute waren begeistert und haben dagestanden, mit staunenden Augen und waren hingerissen von diesem Wohlstand.

Damals habe ich mich dann gleich in dieses Land verliebt, da ich es politisch so interessant fand, weil nämlich auch gerade Gorbatschow frisch im Amt war.

Der politische Umbruch war schon zu erkennen, aber er zeichnete sich ab, und die Stimmung war fast revolutionär. Alle spürten, da passiert jetzt etwas und keiner wusste eigentlich damals, wie das Ganze richtig ausgeht.

Ostexperte: Haben Sie damals schon gespürt, dass auch das Ende der Sowjetunion in der Luft schwebt?

Krause: Nein, überhaupt nicht. Damals dachte niemand, dass es enden würde. Die Menschen beschäftigten sich hauptsächlich damit, ihr tägliches Leben zu organisieren, was extrem schwierig war, da es wenig Waren in den Geschäften gab. Die Gesellschaft befand sich in einer sehr seltsamen Situation. Das Alte war noch da, aber das Neue war noch nicht vollständig im Gange und niemand dachte, dass die Sowjetunion auseinanderfallen würde. Jeder war stolz auf die 15 Republiken und Gorbatschow kam mit der Absicht, sie zu reformieren. Er wollte den Kommunismus erhalten, aber modernisieren. Damals geschah jeden Tag etwas Neues, private Restaurants öffneten zum ersten Mal in Moskau. Einige Dinge waren immer noch von der Regierung bestimmt, aber allmählich kam die Privatisierung. Dies führte zur Entstehung von privaten Friseursalons, Saunen, Restaurants, Bars und so weiter. Damals, als ich 1986 hier war, war es noch nicht ganz so weit. Es gab immer noch einen Unterschied zwischen Menschen, die ausländische Währung hatten und einfachen sowjetischen Bürgern. Wenn sie ausländische Währung hatten und Ausländer waren, konnten sie spät nachts in eine Hotelbar gehen und ein Bier bekommen. Wenn sie keine ausländische Währung hatten und keine Ausländer waren, war das verboten. Das war völlig absurd. Wenn Sie als Korrespondent nach Russland reisten, mussten Sie einen großen Lastwagen mit Dingen mitbringen, die hier nicht verfügbar waren oder nur für viel Geld verfügbar waren.

Ostexperte: Wie hat sich denn das Leben der Sowjetbürger in Moskau vom Leben der Menschen im Westen unterschieden?

Krause: Im Alltag gab es viele Unterschiede zwischen den Sowjetbürgern und Menschen aus dem Westen. Es gab nicht nur negative, sondern auch positive Aspekte, wie beispielsweise die großen Kinderlager, in denen Kinder ihre Jugend verbrachten, oder die Sanatorien für die Eltern. Während der Breschnew-Zeit, die von Manchen als Goldene Jahre bezeichnet wird, verdiente jeder ungefähr das Gleiche, unabhängig davon, ob man arbeitete oder nicht. Es gab viel Ironie und Witze über die Regierung, auch über Breschnew und Gorbatschow. In den Küchen traf man sich und träumte von einer besseren Zukunft, aber auch hier herrschte eine gewisse Ironie. Eine Freundin wollte ein Reisebüro eröffnen, aber dann änderte sie schnell ihre Meinung und wollte stattdessen ein Restaurant oder einen Kurort eröffnen. Diese Geschichte zeigt, dass es viele Träume gab, aber auch viele Enttäuschungen.

Ostexperte: Glauben Sie, dass Gorbatschow im Volk sehr beliebt war und dass die Mehrheit hinter dieser neuen Öffnung, hinter Glasnost und Perestroika stand? Oder gab es auch eine gewisse Angst, dass es schlechter werden könnte?

Krause: Natürlich gab es eine gewisse Angst, weil man ja nicht genau wusste, wie es ausgehen würde. Gorbatschow hat gleich von Anfang an große Fehler gemacht, zum Beispiel hat er versucht, den Alkoholismus auf irgendeine Weise zu begrenzen. Er hat damals Weinberge verbrennen lassen und dachte, er könne durch eine Anti-Alkohol-Kampagne Sympathien bei der Bevölkerung gewinnen. Das Gegenteil war der Fall. Die Zahl derer, die an selbst gemachtem Fusel gestorben sind, war viel höher als die der bisherigen Toten, die durch Alkoholismus und Alkoholmissbrauch ums Leben gekommen sind.

Gorbatschow hat also schon viel Kredit verloren, aber andererseits war er der erste, der in das Volk hineinging und mit den Leuten sprach. Das war für die Bevölkerung natürlich auch großartig, aber sie haben schnell festgestellt, dass er ein Parteimann ist und dass er die Parteisprache hat und dass er nicht unmittelbar aus dem Volk kommt und nicht so ganz versteht, was das Volk eigentlich will.

Obwohl ich davon überzeugt bin, dass das Volk selbst nicht wusste, was es eigentlich will. Gorbatschow war im Ausland unglaublich beliebt, wir wissen von den vielen Abrüstungsverträgen, die er durchgesetzt hat, aber im Inland war es für ihn sehr schwierig.

Ostexperte: Es wird Gorbatschow ja immer wieder vorgeworfen, die Sowjetunion auseinanderbrechen lassen zu haben. Stimmt das?

Krause: Wenn heute noch behauptet wird, dass Gorbatschow die Sowjetunion zerfallen ließ, dann kann ich nur sagen: Leute, ihr habt keine Ahnung. Ich bin bereit, mit jedem zu streiten, der diese Dummheit verbreitet.

Die ersten, die für ihre Unabhängigkeit auf die Straße gingen, waren die Balten, aber bald folgten die Armenier, Aserbaidschaner, Ukrainer und Russen. Die Russen wollten vor allem ihre Freiheit von der Kommunistischen Partei, und ihr Held war Boris Jelzin, der erste russische Präsident.

Gorbatschow war der sowjetische Präsident, aber es war der Wille der Russen, die Sowjetunion nicht länger so zu belassen, wie sie war. Es ist falsch zu behaupten, dass Gorbatschow schuld an ihrem Zerfall ist. Es war eine Bewegung für Freiheit, angeführt von den Russen, die zum Auseinanderbrechen der UdSSR geführt hat. Jene, die das Gegenteil behaupten, zeigen, dass sie keine Ahnung von Geschichte haben und nicht gesehen haben, wie viele Menschen für ihre Freiheit auf die Straße gegangen sind.

Ostexperte: Wie war denn das Leben außerhalb Moskaus in den verschiedenen Republiken?

Krause: Ich fand es immer faszinierend, wenn ich in die Republiken reiste, wie freundlich die Menschen überall waren und wie sehr sie mich mit Respekt behandelten. Überall wurde Russisch gesprochen und der Rubel war das gültige Zahlungsmittel. Egal ob ich nach Usbekistan, Tadschikistan oder sonst wo reiste, überall wurde diese Sprache gesprochen. Diese Sprache hat so wenige Dialekte, was mich faszinierte.

Die Reisen mussten damals gut organisiert sein und es war nicht so, dass man frei reisen konnte. Mitarbeiter des Außenministeriums und vielleicht auch des KGB begleiteten uns. Nach einigen Tagen wurde man aber so eng befreundet, dass man nicht mehr merkte, wer eigentlich welcher Seite angehörte.

Eine Besonderheit des Lebens damals in Moskau war, dass man beim Verlassen der Stadt an den Diplomatenstrand nur nach vorheriger Anmeldung beim Außenministerium gehen durfte. Man musste den Zeitkorridor einhalten, sonst wurde man ins Außenministerium bestellt. Ich erinnere mich auch daran, dass wir immer Samstags zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Tankstelle tanken mussten.

Diese Zeit am Ende der Sowjetunion erschien mir wie ein Tanzen auf einem Vulkan. Vor meiner Wohnung, die gegenüber dem Hotel Ukraina liegt, kamen abends Menschen zusammen, um zu feiern, zu tanzen und zu trinken, als gäbe es kein Morgen.

Ostexperte: Was waren die deutschen Hoffnungen für die Zeit nach der Sowjetunion und wie beurteilen Sie diese Hoffnungen heute im Rückblick?

Krause: Heute ist es sehr traurig, aber damals war es mit der Hoffnung verbunden, dass Russland und Deutschland eng zusammenarbeiten würden, nach dem Fall der Sowjetunion. Dies begann tatsächlich. Heute klingt es lustig, aber der Quelle-Katalog war eine Tür zum Westen. Als Gorbatschow öffnete, wurde es möglich, Kleidung aus dem Katalog von Deutschland nach Russland zu bringen. Danach kamen erste Kaufhäuser und Geschäfte, die westliche Kleidung anboten. Die Hoffnungen auf enge Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland waren groß und fanden Ausdruck in der Freundschaft zwischen Helmut Kohl und Boris Jelzin sowie später Gerd Schröder und Wladimir Putin. Angela Merkel war auch für Putin eine herausragende Person, obwohl das Verhältnis kritisch war. Der Wunsch nach guten Beziehungen zu Deutschland besteht in Russland immer noch, trotz der aktuellen Lage.

Ostexperte: Wie unterscheidet sich das Leben im modernen Russland von dem Leben in der Sowjetunion?

Krause: Wenn man in Moskau lebt, ist es ganz anders als in der Provinz. In Moskau sehen Sie ein Meer von Lichtern. Als ich 1986 hier war, war Moskau eine graue Stadt, die hinter der Zeit zurücklag. Es gab kaum Werbung oder Reklame. Jetzt ist das genau das Gegenteil. Moskau ist jetzt europäisiert und teilweise amerikanisiert, durch die vielen Restaurants und anderen Möglichkeiten. Manchmal denke ich, Freunde, ihr könnt immer gegen Europa und Amerika schimpfen, aber ihr habt hier Namen mit amerikanischen Schriftzügen und ähnlichem gewählt, die ins Russische übersetzt werden. Dieser Luxus ist natürlich nicht ganz Russland, sondern nur in Moskau.

Wenn Sie in die Provinz gehen, sehen Sie, dass die Straßen teilweise in schlechtem Zustand sind und es kein Glitzern mehr gibt. Es ist traurig. Und wir hören wieder Meldungen aus Städten in Russland, wo die Heizung ausfällt, die Leute frieren, kein Strom da ist oder die Wasserversorgung nicht funktioniert. Der wirtschaftliche Aufschwung, der unter Putin in den ersten beiden Dekaden vorhanden war, ist nicht nur ins Stocken geraten, sondern jetzt in eine Rezession übergegangen.

Ostexperte: Warum sollten wir überhaupt auf die Geschichte der Sowjetunion zurückblicken und was können wir aus dieser Geschichte lernen?

Krause: Die Sowjetunion war der größte Flächenstaat der Erde mit 15 Republiken, die zum Teil gar nicht zusammengehörten. Die Kommunistische Partei war die Verbindung die durch Zwang entstanden ist und das autoritäre System.

Eine der wichtigsten Lektionen ist, dass etwas, was nicht zusammengehört, nicht zusammen sein darf. Die Bolschewiki haben versucht, einen riesigen Staat zu schaffen, aber er konnte nicht ewig bestehen, weil die Russen im Gegensatz zu den Chinesen ein anderes Freiheitsgefühl haben und frei sein wollen.

Jetzt versucht man, das liberale System in Russland zurückzudrehen, aber ob das auf Dauer so bleiben wird, ist unklar.

Zur Person
Hermann Krause ist Leiter der Vertretung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in der Russischen Föderation. Er wurde am 24. April 1953 in Duisburg geboren und studierte Wirtschaftswissenschaften. Nach Abschluss seines Studiums als Diplom-Ökonom arbeitete Krause als Redakteur und Moderator beim WDR. Als Reporter war er 1986 das erste Mal in Moskau und war von 1989-1994 ARD-Hörfunk-Korrespondent. Bis Februar 2018 war er Studioleiter beim ARD-Hörfunk Moskau.

Die Fragen stellte Thomas Baier.

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