Russlands BIP ist in 3 Monaten um 6 Prozent gesunken

Viele westliche Banken und Forschungsinstitute rechnen in diesem Jahr mit einem Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um rund 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Auch die Mailänder Großbank Unicredit schließt sich den Prognosen an. Über die neuen Wachstumsprognosen.

Die russische Regierung erwartete für 2022 aber schon in ihrer Prognose vom April einen schwächeren Rückgang des BIP um 7,8 Prozent. Wirtschaftsminister Reschetnikow teilte zudem bereits beim Wirtschaftsforum in St. Petersburg mit, dass die Regierung inzwischen von einem noch geringeren Rückgang ausgehe. Die neue Prognose der Regierung soll in rund zwei Wochen veröffentlicht werden, sagte der Minister am Freitag.

In den ersten fünf Monaten war das BIP noch etwas höher als im Vorjahr

Im Zeitraum Januar bis Mai war die gesamtwirtschaftliche Produktion nach ersten Berechnungen des Wirtschaftsministeriums noch 0,5 Prozent höher als im Vorjahr berichtet Lenta.ru.

Im April und Mai wurde im Vergleich mit dem jeweiligen Vorjahresmonat allerdings ein sich beschleunigender Rückgang verzeichnet. Im April war das BIP 2,8 Prozent niedriger als vor einem Jahr, im Mai nahm der Rückgang auf 4,3 Prozent zu.

VEB-Institut: Seit Februar sank das Bruttoinlandsprodukt um rund 6 Prozent

Nach ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der Vnesheconombank, die etwas von den Angaben des Wirtschaftsministeriums abweichen, ist die gesamtwirtschaftliche Produktion  gegenüber dem Vormonat saisonbereinigt erstmals im März gesunken (- 1,2 Prozent gegenüber Februar). Im April beschleunigte sich der Rückgang stark (- 4,6 Prozent gegenüber März). Im Mai flaute der Rückgang jedoch auf nur noch 0,2 Prozent ab. In der folgenden Abbildung ist erkennbar, dass der Index des realen BIP seit Februar von rund 109,5 Punkten auf rund 103 Punkte abnahm. Das BIP sank in den Monaten März, April und Mai also insgesamt um rund 6 Prozent.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts (Januar 2014 = 100)

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“, 01.07.2022

Zum geringfügigen weiteren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Mai gegenüber April  (- 0,2 Prozent) trugen die Bereiche Groß- und Einzelhandel, Bauwirtschaft, Verarbeitendes Gewerbe und Landwirtschaft bei. Gegenüber April gestiegen ist im Mai hingegen die Produktion in den Bereichen Bergbau/Förderung von Rohstoffen, private Dienstleistungen, Warentransport und Personenverkehr.

Auch die Industrieproduktion ist in den letzten drei Monaten um 6 Prozent gesunken

Die folgende Abbildung des VEB-Forschungsinstituts zeigt, dass sich der Rückgang der gesamten Industrieproduktion (schwarze Linie) im Mai gegenüber dem Vormonat April stark verlangsamt hat. Saisonbereinigt betrug der Rückgang wie beim Bruttoinlandsprodukt nur noch 0,2 Prozent. Im April war die Industrieproduktion gegenüber März noch um 4,0 Prozent gesunken und im März gegenüber Februar um 1,6 Prozent. Insgesamt ist die Industrieproduktion damit wie das gesamte Bruttoinlandsprodukt in den Monaten März, April und Mai um rund 6 Prozent zurückgegangen.

Index der Industrieproduktion, saisonbereinigt (Januar 2014=100)

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“, 01.07.2022

Der Anstieg der Förderung von Rohstoffen stützte im Mai die Industrieproduktion

Wichtigster Grund für die Verlangsamung des Rückgangs der gesamten Industrieproduktion im Mai gegenüber dem Vormonat auf nur noch 0,2 Prozent war der leichte Anstieg der Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ (untere hellgrüne Linie). Die Produktion des Rohstoffsektors stieg im Mai gegenüber April um 0,9 Prozent. Im April war sie gegenüber März noch stark gesunken (- 6,9 Prozent),

Im Bereich „Verarbeitendes Gewerbe“ (obere dunkelgrüne Linie) setzte sich der Rückgang der saisonbereinigten Produktion gegenüber dem Vormonat im Mai hingegen fort, aber nur in stark abgeschwächtem Tempo (Mai: – 1,4 Prozent; April: – 2,3 Prozent).

Besonders stark nahm nach Angaben des Wirtschaftsministeriums im Mai die Produktion im Maschinenbau im Vorjahresvergleich ab. Sie sank gegenüber Mai 2021 um – 6,5 Prozent.

Die Produktion im Fahrzeugbau verringerte sich im Mai im Vorjahresvergleich sogar um 66 Prozent. Dabei kam die Produktion von Personenkraftwagen fast zum Stillstand. Nur noch 3.700 PKW wurden hergestellt. Das berichtet RIA Rating in einer ausführlichen Analyse der Produktionsentwicklung der russischen Wirtschaft im Mai.

RIA Rating zieht aus dieser Analyse folgendes Fazit: Abgesehen vom tiefen Einbruch im Einzelhandel ist die aktuelle Konjunkturentwicklung noch nicht „schockierend“. In den nächsten Monaten wird sich die Entwicklung jedoch wahrscheinlich weiter verschlechtern. Mit dem Abbau der Vorräte importierter Komponenten und Materialien schwindet die Fähigkeit der Unternehmen, das gegenwärtige Produktionsniveau beizubehalten. RIA Rating bleibt bei der Prognose, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr um rund 8 Prozent sinken wird.

Einkaufsmanager-Index im Verarbeitenden Gewerbe: Aufträge gestiegen

Hoffnungen auf eine Stabilisierung der Produktion im Bereich des Verarbeitenden Gewerbes macht hingegen die jüngste Entwicklung des von S&P Global durch Befragungen von Unternehmen ermittelten „Einkaufsmanager-Indexes“. Laut der am Freitag veröffentlichten Juni-Umfrage ist der Index von 50,8 auf 50,9 Punkte gestiegen, übertrifft also wie bereits im Mai die „Wachstumsschwelle“ von 50 Indexpunkten.

S&P Global betont dazu, die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe sei im Juni wegen der stark sinkenden Ausfuhren und angesichts von Engpässen bei der Versorgung mit Vorprodukten zwar weiter gesunken. Ein Anstieg der Auftragseingänge signalisiere jedoch eine marginale Verbesserung der Bedingungen für die Geschäftsentwicklung.

Russlands Einkaufsmanager-Index im Verarbeitenden Gewerbe

IHS Markit: S&P Global Russia Manufacturing PMI,  01.07.2022

Unicredit erwartet für 2022 jetzt eine Rezession von rund 10 Prozent

 Die Mailänder Großbank Unicredit rechnet damit, dass Russlands Industrieproduktion im weiteren Verlauf des Jahres 2022 wahrscheinlich weiter sinkt. In Branchen wie der Produktion von Fahrzeugen und Flugzeugen, wo allenfalls eine „unvollständige Substitution“ von bisherigen Einfuhren aus dem Ausland möglich sei, würden die Lagervorräte von importierten Bauteilen bald erschöpft sein. Durch die Entscheidungen der EU, ihre Energie-Importe aus Russland zu verringern oder ganz zu beenden, werde Russlands Produktion von Öl, Gas und Kohle eingeschränkt.

Unicredit erwartet für das Jahr 2022 in Russland aber dennoch jetzt einen schwächeren Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Produktion als bisher. In der Ende Juni veröffentlichten neuen Ausgabe ihrer vierteljährlich erscheinenden Konjunkturberichte für die Länder Mittel- und Osteuropas („CEE Quarterly“) veranschlagt Unicredit den diesjährigen Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts auf 9,9 Prozent. Ende März hatte die Bank einen noch merklich stärkeren Einbruch um 11,8 Prozent erwartet.

Die neue Unicredit-Prognose entspricht jetzt fast genau dem aktuellen „Konsens“ westlicher Beobachter der russischen Wirtschaft. Der Durchschnitt der Prognosen, den das Research-Unternehmen FocusEconomics bei seiner letzten Umfrage im Mai/Juni bei vorwiegend ausländischen Banken und Forschungsinstituten ermittelte, betrug – 9,8 Prozent.

Rubel auf Höhenflug

Die Unicredit-Analysten Artem V. Arkhipov und Ariel Chernyy stellen in ihrer neuen Prognose zunächst heraus, dass sowohl Russlands Wirtschaft als auch sein Finanzsystem die Auswirkungen der Sanktionen und die Folgen der militärischen Operationen bisher offenbar besser bewältigen als vielfach erwartet wurde.

Sie verweisen auch auf den starken Kursanstieg des Rubels. Wie die folgende Abbildung der Frankfurter Rundschau zeigt, hat sich der Rubel-Kurs gegenüber dem Euro vom 01. Februar bis zum 07. März 2022 zwar fast halbiert. Der Wert von 100 Rubel stieg seitdem aber von 0,64 Euro auf 1,75 Euro am 30. Juni (+ 173 Prozent). Gegenüber dem Kurs am 01. Februar ist der Wert des Rubels in Euro bis Ende Juni um rund 52 Prozent gestiegen.

Frankfurter Rundschau, Stefan Scholl: Russland droht eine neue Mangelwirtschaft, 01.07.2022

Die Unicredit-Analysten meinen, der Rubel sei angesichts des wachsenden russischen Handelsbilanzüberschusses auf den höchsten Stand seit 2017 gestiegen. Sie erwarten eine allmähliche Abwertung, weil die russischen Energieausfuhren sinken und die Warenimporte steigen dürften. Russland sei gezwungen, Einfuhren aus NATO-Staaten durch Einfuhren aus anderen Ländern oder inländische Produkte zu ersetzen. Zur allmählichen Abwertung werde auch beitragen, dass die russischen Kapitalverkehrskontrollen gelockert werden dürften.

Unicredit: Die Investitionen sinken noch viel stärker als der private Verbrauch

Die Unicredit-Analysten rechnen damit, dass der private Verbrauch in Russland 2022 real um 11,3 Prozent sinken dürfte (siehe folgende Tabelle). Einen noch weitaus stärkeren Einbruch erwarten sie bei den Anlageinvestitionen (- 27,4 Prozent).

Die staatliche Haushaltspolitik wird nach ihrer Einschätzung mit einem Wachstum des öffentlichen Verbrauchs um 0,5 Prozent der Konjunktur nur schwache stabilisierende Impulse geben.

Ein fühlbarer Wachstumsbeitrag wird hingegen 2022 laut Unicredit vom Außenhandel kommen. Allerdings nicht, weil die Ausfuhr steigt, sondern weil Russlands Einfuhr deutlich stärker sinken dürfte (-33,9 Prozent) als die Ausfuhr (- 19,2 Prozent).

Verwendung des Bruttoinlandsprodukts 2019 bis 2023

Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

Unicredit: CEE Quarterly 3-2022, 29.06.2022

Das Bruttoinlandsprodukt bricht 2022 um rund 10 Prozent gegenüber 2021 ein

Die folgende Unicredit-Abbildung zeigt den für 2022 erwarteten positiven Wachstumsbeitrag der Veränderung des „Außenbeitrags“ („Net exports“) in Höhe von rund 3 Prozentpunkten. Der private und öffentliche Verbrauch (consumption) und die Investitionen (Investments) drücken das Wachstum hingegen um jeweils rund 6 bis 7 Prozentpunkte. So sinkt das Bruttoinlandsprodukt insgesamt (GDP, rote Linie) 2022 gegenüber 2021 um rund 10 Prozent.

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts  gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Beiträge der Verwendungsbereiche des BIP in Prozentpunkten

Unicredit: CEE Quarterly 3-2022, 29.06.2022

2023 erwartet Unicredit eine schwache Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion . Das Bruttoinlandsprodukt dürfte um 0,7 Prozent steigen. Impulse dafür sollen vor allem von einer teilweisen Erholung der Investitionen kommen (+ 6,3 Prozent).

 Unicredit: Die Inflationsrate zieht bis zum Jahresende auf 21 Prozent an

 Der aktuelle Rückgang des Anstiegs der Verbraucherpreise wird sich nach Einschätzung der Unicredit-Analysten nicht fortsetzen. Sie rechnen damit, dass die Inflationsrate, die von 17,8 Prozent im April auf 17,1 Prozent im Mai sank, bis zum Jahresende 2022 auf rund 21 Prozent anzieht (siehe rote Linie in der folgenden Abbildung).

Die von FocusEconomics im Mai/Juni befragten Banken und Forschungsinstitute erwarten hingegen im Durchschnitt zwar auch ein erneutes Anziehen der Inflation. Sie gehen aber davon aus, dass die Inflationsrate am Jahresende 2022 „nur“ 19,9 Prozent betragen wird.

Inflationsprognose

Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr in Prozent, Leitzins der Zentralbank in Prozent

Unicredit: CEE Quarterly 3-2022, 29.06.2022

Der Leitzins wird trotz beschleunigter Inflation langsam weiter gesenkt

 Trotz der im weiteren Verlauf des Jahres 2022 beschleunigt steigenden Preise erwartet Unicredit, dass die russische Zentralbank ihren Leitzins (schwarze Linie) von derzeit 9,5 Prozent bis Ende 2022 nicht anhebt, sondern langsam weiter auf 8 Prozent senkt. In der FocusEconomics-Umfrage wurde hingegen nur mit einem Rückgang des Leitzinses auf 8,9 Prozent gerechnet.

Bis zum Ende des Jahres 2023 rechnet Unicredit mit einem Rückgang der Inflationsrate auf 7 Prozent. Auch der Leitzins wird laut Unicredit bis Ende 2023 auf 7 Prozent gesenkt. Ihr Inflationsziel von 4 Prozent (gestrichelte rote Linie) wird die russische Zentralbank bei dieser Entwicklung Ende 2023 noch nicht erreichen.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland
von
Klaus Dormann:

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