Wie tief drücken die Sanktionen Russlands Bruttoinlandsprodukt?

Präsident Putin vermied in seiner Rede beim Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg Prognosen zur Entwicklung des russischen Bruttoinlandsprodukts. Wirtschaftsminister Maksim Reschetnikow hingegen bezifferte den Rückgang des Wachstums. Die aktuellen Prognosen im Überblick.

Der diesjährige Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion werde wahrscheinlich auf 5 bis 6 Prozent beschränkt werden können. Auch die Inflationsrate werde am Jahresende deutlich niedriger sein als bisher erwartet wurde, sagte Wirtschaftsminister Reschetnikow auf dem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg vergangene Woche. Sein deutscher Kollege Robert Habeck sprach in einem ARD-Interview hingegen von einem Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um 10 Prozent. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft rechnet aktuell mit einem Rückgang um 8 Prozent, das Münchner ifo Institut um 8,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Putin beim SPIEF: Sanktionen eröffnen Russland auch Chancen

Präsident Putin zeigte sich in seiner Rede beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg optimistisch. Natürlich hätten die Sanktionen die russische Wirtschaft vor viele Herausforderungen gestellt. Es gebe Probleme bei der Beschaffung von Ersatzteilen. Der Zugang zu vielen Technologien sei für russische Unternehmen jetzt versperrt. Lieferketten seien gestört. Aber andererseits stimuliere all das die russische Wirtschaft auch, selbst Lösungen zu entwickeln und völlige Eigenständigkeit zu erreichen.

Der Präsident meinte, „der wirtschaftliche Blitzkrieg“ gegen Russland sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Gleichzeitig hätten sich Sanktionen in den letzten Jahren als eine zweischneidige Waffe erwiesen. Sie fügten ihren Urhebern selbst einen vergleichbaren, wenn nicht noch größeren Schaden als Russland zu. Man sehe, wie sich die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in Europa und auch in den Vereinigten Staaten verschlimmert hätten. Die Preise für Lebensmittel, Strom und Kraftstoff stiegen, die Lebensqualität in Europa sinke und Wettbewerbsvorsprünge von Unternehmen gingen verloren.

Zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Russland gab Putin keine Prognosen ab. Ziel der Regierung sei ein „robustes Wachstum“ zu gewährleisten und die Belastung von Bevölkerung und Unternehmen durch die Inflation zu verringern. Am langfristigen Inflationsziel von 4 Prozent halte sie fest.

Reschetnikow: Das BIP wird 2022 wahrscheinlich nur um 5 bis 6 Prozent sinken…

Russlands Wirtschaftsmininister Maksim Reschetnikow teilte laut Forbes.ru beim SPIEF mit, die Regierung erwarte in diesem Jahr jetzt einen weniger starken Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion als bisher. Ende Juni werde sie neue Prognosen veröffentlichen. Mitte Mai hatte das Wirtschaftsministerium in einer ersten Fassung seiner Prognosen für die Haushaltsplanung den diesjährigen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Basisszenario auf 7,8 Prozent veranschlagt. Reschetnikow meinte jetzt beim SPIEF, es sei wahrscheinlich, dass der Rückgang auf 5 bis 6 Prozent beschränkt werden könne.

… und die Inflationsrate wird Ende 2022 deutlich niedriger als 17,5 Prozent sein

Die bisherige Prognose der Regierung, dass die Inflationsrate am Jahresende 2022 noch 17,5 Prozent erreichen werde, wird laut Reschetnikow deutlich gesenkt werden. Das kündigte er in einem Interview mit RBC TV an.

Die folgende Abbildung des Forschungsinstituts der Vnesheconombank zeigt den Anstieg des Verbraucherpreisindex gegenüber dem jeweiligen Vorjahresmonat zusammen mit dem jährlichen Anstieg des Indexes in der Woche bis zum 10.06.2022, in der die Verbraucherpreise 16,7 Prozent höher waren als ein Jahr zuvor. Bis zum April 2022 hatte sich der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat auf 17,8 Prozent beschleunigt. Im Mai war er auf 17,1 Prozent gesunken.

Verbraucherpreisindex, Anstieg gegenüber Vorjahr in Prozent

Vnesheconombank Institute: World Economy and Markets Review, 17.06.2022

Der Wirtschaftsminister zeigte sich sogar besorgt, dass Russland am Beginn einer „Deflationsspirale“ stehe, weil die Verbraucherpreise zuletzt vier Wochen in Folge gegenüber der Vorwoche nicht mehr gestiegen seien. Bei sinkendem Preisniveau könne es für Bevölkerung und Banken profitabler sein mehr zu sparen, was das Wachstum der Wirtschaft schwächen könne.

Zentralbankpräsidentin Nabiullina bat Pressevertreter beim SPIEF laut Finmarket.ru-jedoch, mit dem Begriff „Deflation“ vorsichtiger umzugehen. Rückgänge des Preisniveaus von Woche zu Woche oder von Monat zu Monat könnten saisonal bedingt sein. „Deflation“ sei ein stetiger Rückgang des Preisniveaus im Vergleich zum Vorjahr.

Wenn sich in den kommenden Wochen bestätige, dass es einen anhaltenden Rückgang der jährlichen Inflationsrate gebe und sich gleichzeitig zeige, dass auch die Inflationserwartungen sinken, könne man aber mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sich am Jahresende eine jährliche Inflationsrate am unteren Rand der Prognosespanne der Zentralbank von 14 bis 17 Prozent ergeben werde (Hinweise auf weitere Medienberichte zum SPIEF 2022 sind am Schluss des beigefügten PDF-Dokuments aufgeführt).

Habeck: Russlands BIP ist um 10 Prozent gesunken

Ein viel ungünstigeres Bild der Wirtschaftsentwicklung in Russland als der russische Wirtschaftsminister vermittelte der deutsche Wirtschafts- und Klima-Minister Robert Habeck in einem Interview mit den ARD-Tagesthemen. Er meinte zur Frage, ob die gegenüber Russland verhängten Sanktionen greifen werden, unter anderem (Minute 2:32):

„Die russische Wirtschaft ist schwer getroffen. Sie haben eine Inflation von 17 Prozent. 17 Prozent! Das Bruttoinlandsprodukt ist um 10 Prozent zurückgegangen. Das ist doppelt so viel wie bei uns während der Corona-Pandemie. Die Investitionen sind um 34, 35 Prozent zurückgegangen. Das sind dramatische Zahlen. Und sie werden sich noch verstärken.

Also – was kann man sagen? Putin verdient eine Menge Geld mit dem Export von fossilen Energien. Ja, das stimmt. Aber er kann sich immer weniger davon kaufen.“

Bei seiner Behauptung, Russlands BIP sei um 10 Prozent zurückgegangen, dachte der Wirtschaftsminister vermutlich an Prognosen, die von einer Abnahme des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 um 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr ausgehen.

Im ersten Quartal 2022 war die gesamtwirtschaftliche Produktion in Russland nach Angaben des russischen Statistikamtes Rosstat noch 3,5 Prozent höher als vor einem Jahr, wie auch die folgende Abbildung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft zeigt.

Kiel Institut für Weltwirtschaft: Weltwirtschaft im Sommer 2022; 15.06.2022; Seite 20

Saisonbereinigt sinkt das Bruttoinlandsprodukt nach ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der Vnesheconombank seit März. Gegenüber Februar war es im März 1,2 Prozent niedriger. Im April sank es gegenüber März beschleunigt um 4,4 Prozent. Ergebnisse für Mai wurden noch nicht veröffentlicht (siehe Wochenbericht des Instituts vom 10.06.2022, Seite 5).

Index des realen Bruttoinlandsprodukts (Januar 2014=100)

Vnesheconombank Institute: World Economy and Markets Review, 10.06.2022

Im ersten Quartal 2022 stagnierte das BIP nach den Berechnungen des Forschungsinstituts der Vnesheconombank saisonbereinigt auf dem Stand des Vorquartals.

Kieler Institut für Weltwirtschaft: „Die russische Wirtschaft bricht ein“

Das Kieler Institut für Weltwirtschaft geht in seiner am 15. Juni veröffentlichten „Sommerprognose“ davon aus, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal 2022 gegenüber dem Vorquartal nur „leicht“ geschrumpft ist.

Das IfW vermutet aber, dass es im Frühjahr zu einem „starken Einbruch der Produktion“ gekommen ist. Für das gesamte Jahr 2022 rechnet es im Vergleich zum Vorjahr mit einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 8 Prozent und für 2023 mit einem weiteren Rückgang um 5,5 Prozent.

Zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Russland schreibt das Kieler Institut in seinem Bericht „Weltwirtschaft im Sommer 2022“ auf Seite 4:

“Die vom statistischen Amt ausgewiesene Verlangsamung des Anstiegs des Bruttoinlandsprodukts im Vorjahresvergleich von 5 auf 3,5 Prozent lässt darauf schließen, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion bereits im ersten Quartal gegenüber dem Vorquartal leicht geschrumpft ist.”

Der  “dramatische Einbruch der Importe im Frühjahr” deute darauf hin, dass es unter dem Eindruck der “massiven Wirtschaftssanktionen” in Russland zu einem “starken Einbruch der Produktion” gekommen sei.

Auf Seite 11/12 begründet das IfW seine Prognose eines “Einbruchs der russischen Wirtschaft” so:

“Mit dem Ukrainekrieg haben sich die Rahmenbedingungen drastisch geändert. Viele westliche Unternehmen haben sich aufgrund der Sanktionen, häufiger aber noch als freiwillige Konsequenz aus der geopolitischen Situation, aus Russland zurückgezogen oder ihre Geschäftstätigkeit stark reduziert. Der resultierende Einbruch der Importe und damit verbundene Probleme in den Produktionsketten lassen einen starken Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion erwarten.

Wir rechnen mit einer Schrumpfung um 8 Prozent in diesem und um 5,5 Prozent im nächsten Jahr. Eine rasche Erholung ist nicht zu erwarten; der geringere internationale Austausch von Waren, aber auch von Dienstleistungen und Knowhow verschlechtert die Wachstumsaussichten für die russische Wirtschaft auf längere Sicht massiv.”

Wie das IfW die Entwicklung von Rubel und Inflationsrate sieht

Zur raschen Erholung des Rubels und zur Senkung des Leitzinses meint das IfW:

“Der Rubel ist gegenüber dem Dollar inzwischen zwar höher bewertet als vor dem Krieg, nachdem er anfangs stark abgewertet hatte. Dies wurde durch eine hohe Nachfrage nach russischer Währung im Rohstoffhandel und Devisenbeschränkungen zur Unterbindung der Kapitalflucht erreicht. So wurde der Leitzins, der Anfang März zur Stützung des Wechselkurses auf 20 Prozent mehr als verdoppelt worden war, seit April schrittweise wieder auf zuletzt 9,5 Prozent gesenkt.”

Das Kieler Institut erwartet, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise in Russland im Jahresvergleich 2022/2021 auf 17,5 Prozent beschleunigt und 2023 nur auf 12,0 Prozent abnimmt (siehe Tabelle S. 22). Dazu schreibt es:

“Obwohl vom Wechselkurs nun keine Inflationsimpulse mehr ausgehen, ist weiterhin mit einem deutlichen Preisauftrieb zu rechnen, weil viele Güter als Folge von fehlenden Importen Mangelware sein werden und den steigenden Einkommen – zur Stützung der Nachfrage wurde eine zweistellige Erhöhung der Renten und Mindestlöhne beschlossen – nicht ausreichend reale Güter entgegenstehen.”

Die Prognosen des Ifo Institut weichen nur wenig von den IfW-Prognosen ab

Das Münchner ifo Institut erwartet in seiner ebenfalls am 15 Juni veröffentlichten “Sommerprognose” eine ähnliche Entwicklung der Verbraucherpreise in Russland wie das IfW. 2022 werde die Inflationsrate 17,7 Prozent erreichen (IfW: 17,5 Prozent). Für 2023 rechnet das ifo Institut mit einem etwas rascheren Rückgang der Inflationsrate auf 10,4 Prozent (IfW: 12,0 Prozent).

Hinsichtlich der BIP-Entwicklung erwartet das ifo Institut für 2022 einen noch etwas stärkeren Rückgang (- 8,7 Prozent) als das IfW (-  8,0 Prozent). 2023 wird Russlands BIP nach ifo-Einschätzung dann aber schwächer schrumpfen (- 3,6 Prozent) als das Kieler Institut erwartet (- 5,5 Prozent).

Zu den Wirkungen der Sanktionen haben sich kürzlich u.a. auch Professor Alexander Libman, Osteuropa-Institut der FU Berlin, in einem Deutschlandfunk-Interview  und der  Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, Professor Reint Gropp, in einem MDR-Podcast geäußert.

 

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
Sergej Bobylew / TASS