Konjunkturprognosen für 2022 werden positiver

Bisher rechnete die Weltbank damit, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 11,2 Prozent einbricht. Jetzt erwartet sie in den „Global Economic Prospects“ nur noch einen Rückgang um 8,9 Prozent. Die neuesten Prognosen im Überblick.

Die neue Weltbank-Prognose deckt sich fast mit der Mitte April veröffentlichten Prognose des Internationalen Währungsfonds im „World Economic Outlook“ (- 8,5 Prozent).

Umfragen lassen 2022 einen weniger tiefen Einbruch erwarten

Bereits die Ergebnisse der jüngsten Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank und der Nachrichtenagentur Reuters hatten gezeigt, dass viele Beobachter 2022 mit einer weniger scharfen Rezession in Russland rechnen als bisher. Während der Mittelwert der Rezessionserwartungen bei der Mitte April durchgeführten Umfrage der Zentralbank noch 9,2 Prozent betrug, sank er in der Umfrage Ende Mai auf 7,5 Prozent. Bei der Mai-Umfrage von Reuters wurde im Durchschnitt nur noch mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 7,6 Prozent gerechnet (April-Umfrage: – 8,4 Prozent).

Auch die in der letzten Woche veröffentlichte Umfrage des Research-Unternehmens FocusEconomics bei vorwiegend westlichen Banken und Forschungsinstituten ergab, dass die Analysten jetzt in diesem Jahr eine etwas mildere Rezession in Russland erwarten (- 9,8 Prozent) als im Vormonat (- 10,2 Prozent).

Wachstumsprognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Alfa-Bank: Im ersten Halbjahr stagniert das BIP auf dem Vorjahresstand

Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa-Bank, hält die neue Rezessionsprognose der Weltbank von 8,9 Prozent noch für zu pessimistisch. Sie vermutet, dass die jetzt häufig milderen Rezessionsprognosen die Erwartung spiegeln, dass es Russland wahrscheinlich gelingen wird, die Effekte der westlichen Sanktionen durch eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Asien, insbesondere China und Indien, teilweise zu kompensieren.

Orlova geht davon aus, dass die russische Wirtschaft im ersten Halbjahr 2022 im Vergleich mit dem Vorjahr überhaupt nicht sinken, sondern stagnieren wird. Im April war das Bruttoinlandsprodukt nach ersten Berechnungen des Wirtschaftsministeriums erstmals unter seinen Vorjahresstand gesunken (- 3,0 Prozent). Für die ersten vier Monate ergab sich noch ein Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,7 Prozent.

Weltbank: Rezession 2022 schwächer als erwartet, hält 2023 aber an

Die Weltbank erwartet 2022 also immer noch einen merklich stärkeren Produktionsrückgang (- 8,9 Prozent) als die von der Zentralbank befragten Banken und Forschungsinstitute (- 7,5 Prozent).

Zudem geht die Weltbank jetzt von einer längeren Dauer der Rezession aus. Sie nimmt nun nicht mehr an, dass die russische Wirtschaft schon im nächsten Jahr die Wende zum Wachstum mit einem schwachen Produktionsanstieg um 0,6 Prozent schafft, sondern rechnet damit, dass das Bruttoinlandsprodukt 2023 um weitere 2,0 Prozent schrumpft. Zur Begründung verweist die Weltbank unter anderem auf den von der EU vereinbarten weitgehenden Stopp der Ölimporte aus Russland. Russlands Netto-Exporte würden so verringert.

Privater Verbrauch, Investitionen und Außenhandel unter Druck

Die Weltbank sieht Russlands diesjährige Konjunkturentwicklung so:

Der private Verbrauch wird durch sinkende Einkommen und Engpässe beim Angebot gedrückt. Die von der Regierung beschlossenen steuerlichen Hilfen für die privaten Haushalte tragen immerhin dazu bei, einen noch größeren Rückgang des Verbrauchs zu vermeiden. Auch die privaten Anlageinvestitionen sinken angesichts eingetrübter Wirtschaftsaussichten, hoher Kreditkosten, abnehmender ausländischer Investitionen und fehlender Zulieferungen.

Der Rückgang der inländischen Nachfrage und die westlichen Exportverbote werden zu einer Abnahme der Einfuhren Russlands führen. Die Entscheidung vieler Länder, den Export wichtiger Hightech-Güter nach Russland zu verbieten, werden der russischen Industrie wichtige Zulieferungen entziehen. Die Aufgabe der Geschäftstätigkeit ausländischer Ölgesellschaften in Russland wird die Ölförderung beeinträchtigen. Auch damit wird der Zugang zu ausländischer Technologie verhindert. Mittelfristig sieht aber auch die Weltbank für Russland Möglichkeiten, die nachteiligen Folgen der Sanktionen für die Entwicklung des russischen Außenhandels und der Investitionen durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit anderen Staaten, vor allem China und Indien, teilweise auszugleichen.

VEB-Institut: BIP-Rückgang um 3,2 Prozent im April im Vorjahresvergleich

Laut ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der Vnesheconombank ist das russische Bruttoinlandsprodukt im April noch etwas stärker gegenüber dem Vorjahresmonat gesunken (– 3,2 Prozent) als das Wirtschaftsministerium ermittelte (- 3,0 Prozent).

Im Vergleich zum Vormonat beschleunigte sich der Rückgang des BIP im April laut VEB-Institut auf 4,4 Prozent.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts (Januar 2014=100)

Vnesheconombank Institute: World Economy and Markets Review, 10.06.2022

Auch im Bergbau und im Einzelhandel sank die Produktion im April kräftig

Zum Rückgang des BIP trugen fast alle Wirtschaftszweige, vor allem Industrie, Handel, Dienstleistungen und Transportgewerbe bei. Weiter gestiegen ist die Produktion im April gegenüber dem Vormonat in der Bauwirtschaft und der Landwirtschaft.

BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, veröffentlichte dazu in seinem Wochenbericht folgende Abbildung. Sie zeigt den seit Jahresbeginn anhaltenden Rückgang der Produktion im Verarbeitenden Gewerbe (Manufacturing, obere dunkelblaue Linie), den weiteren Anstieg der Bauproduktion (Construction; hellblaue Linie), den Einbruch des realen Umsatzes im Einzelhandel (Retail Sales) und den starken Rückgang der Produktion im Bereich „Bergbau/Förderung von Rohstoffen“ im April (Mining & quarrying).

Russlands wichtigste Wirtschaftssektoren im April rückläufig

Indizes der Produktion von Bauwirtschaft, Einzelhandel, Bergbau und Verarbeitendem Gewerbe
(2018=100, saisonbereinigt)

BOFIT: BOFIT Weekly, 10.06.2022

Inflationsspitze im April wohl überschritten

Der Anstieg der Verbraucherpreise beschleunigte sich in Russland im April 2022 im Vorjahresvergleich auf 17,8 Prozent. Im Mai ließ der Preisdruck jedoch deutlich nach (Rosstat-Bericht). Gegenüber April stiegen die Preise nur noch um 0,1 Prozent. Im Monatsdurchschnitt Mai waren die Verbraucherpreise 17,1 Prozent höher als im Mai 2021. In der Woche bis zum 03. Juni sank die Inflationsrate auf 17,0 Prozent.

Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Quelle: Trading Economics: Russia Inflation Rate, 06.06.2022

Die Prognosen für die diesjährige Inflationsrate wurden spürbar gesenkt. In der Mai-Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters wurde mit einem Rückgang des Anstiegs der Verbraucherpreise im Dezember 2022 auf 16,4 Prozent gerechnet (April-Umfrage: 20,5 Prozent). Die von FocusEconomics befragten Analysten erwarten im Jahresdurchschnitt 2022 noch eine Inflationsrate von 19,8 Prozent. 2023 soll sie laut der Umfrage auf 11,5 Prozent sinken.

Die Zentralbank senkte den Leitzins wieder auf „Vorkrisen-Niveau“

Ende Februar hatte die Zentralbank ihren Leitzins von 9,5 auf 20 Prozent erhöht, um den Rubel zu stützen. Seit dem 08. April senkte sie ihn drei Mal um jeweils 300 Basispunkte, zuletzt bei einer außerplanmäßigen Sitzung am 26. Mai von 14 Prozent auf 11 Prozent.

Am Freitag, 08. Juni, nahm die Zentralbank den Leitzins weiter von 11 auf 9,5 Prozent zurück. Damit ist der Leitzins wieder auf dem Niveau vor dem Beginn der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine.

Die nächste Leitzinsentscheidung soll am 22. Juli getroffen werden.

Die Zentralbank rechnet für 2022 mit weniger Inflation und schwächerer Rezession

Die Perspektiven für die Entwicklung von Preisen und Produktion in Russland haben sich auch nach Einschätzung der Zentralbank verbessert. Ihre Inflationsprognose für Ende 2022 senkte die Zentralbank, so Präsidentin Nabiullina in ihrem Statement zur Leitzinsentscheidung, jetzt auf 14 bis 17 Prozent. Bislang hatte die Zentralbank in ihrer “Mittelfristigen Prognose“ vom 29. April mit einem Anstieg der Preise am Jahresende von 18 bis 23 Prozent gerechnet. Bis Ende 2024 will die Zentralbank die Inflationsrate wieder auf ihre Zielmarke von vier Prozent drücken.

Die Notenbank teilte in ihrer Presseerklärung zur Leitzinsentscheidung zudem mit, der Rückgang der Wirtschaftsaktivitäten im zweiten Quartal sei weniger stark ausgeprägt als sie erwartet habe. Die Abnahme des Bruttoinlandsprodukts im Gesamtjahr 2022 könne ebenfalls geringer ausfallen, als sie in ihrer Ende April veröffentlichten „Mittelfristigen Prognose“ erwartet habe (- 8 bis – 10 Prozent):

Overall, the actual decrease in economic activity in 2022 Q2 is less pronounced than the Bank of Russia assumed in its April baseline scenario. Given the above, the Bank of Russia estimates that the 2022 GDP decline could be lower than forecast in April.“

Anders Aslund: Die Sanktionen treffen Russland noch stärker als den Iran

Anders Aslund, früherer „Senior Fellow“ des Atlantic Councils in Washington, erwartet in einem Capital-Interview hingegen, dass der sanktionsbedingte Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts in den Jahren 2022 und 2023 noch höher sein wird als der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Iran nach der Verhängung von US-Sanktionen. Das iranische BIP sei innerhalb von zwei Jahren um 15 Prozent gefallen. Russland sei sehr stark in die Weltwirtschaft integriert. Deshalb gehe er davon aus, dass die Exportbeschränkungen Russland noch stärker treffen werden als den Iran.

Aslund meint:

„Der Krieg dauert jetzt drei Monate an. Innerhalb der nächsten drei Monaten werden die Vorräte abgebaut sein. Und dann werden große Teile der Produktion eingestellt. Das gilt übrigens auch für den Handel.“

Er verweist auf eine sehr weitgehende Abhängigkeit Russlands von Importen:

„Das Land kann nur wenig produzieren, ohne Teile dafür zu importieren. Keine Autos, keine Panzer, keine Raketen. Sie können keine Hygieneprodukte und kein Papier ohne die nötigen importierten Chemikalien herstellen. Im Grunde nichts, was über rudimentäre Technologien hinausgeht. Es fehlt selbst an Knöpfen für Anzüge!“

Die russischen Importe seien aber schon jetzt um 60 Prozent eingebrochen. Russland erziele durch seine Ausfuhren zwar weiterhin Erlöse, könne sich damit aber nichts kaufen.

Auch die russischen Einfuhren aus Indien und China seien massiv zurückgegangen. So habe der chinesische Huawei-Konzern seine Ausfuhren nach Russland aus Angst vor Sekundär-Sanktionen der USA eingestellt. Ähnlich verhielten sich chinesische Kreditkartenfirmen. Auch der indische Stahlkonzern Tata arbeite nicht mehr mit Russland zusammen. An Reputation unter westlichen Verbrauchern zu verlieren, wolle kaum jemand riskieren.

Auf rasch sinkende Vorräte von Produktionsmaterialien wies Anfang Juni auch die Wirtschaftszeitung „Kommersant“ hin. Laut einer Studie des Gaidar-Instituts seien die Vorräte an Materialien inzwischen so niedrig wie seit 2009 nicht mehr.

Die Kommersant-Autoren meinen, Mitte des Sommers werde es offenbar nicht mehr zu vermeiden sein, einige Produktionsanlagen wegen Materialmangels stillzulegen. Das gelte auch, wenn neue Lieferanten gefunden würden. Neue Lieferketten könnten nicht innerhalb von ein oder zwei Monaten aufgebaut werden.

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