Sberbank erwartet für Russland „zweite Runde“ der Rezession

Der Rückgang des russischen BIP im Oktober sorgt für etwas unterschiedliche Prognosen

Während der ersten Corona-Welle im Frühjahr brach die Produktion der russischen Wirtschaft stark ein. Im Mai war das saisonbereinigte Bruttoinlandsprodukt dann rund 10 Prozent niedriger als im Januar. Im September war dieser Rückgang jedoch bereits rund zur Hälfte wettgemacht. Wie stark sich nun die neue Welle von Corona-Infektionen auf die weitere Entwicklung der Produktion auswirken dürfte, wird von führenden russischen Banken etwas unterschiedlich beurteilt.

So erwarten die Konjunkturexperten der Sberbank, dass es im vierten Quartal 2020 wahrscheinlich einen erneuten, aber im Vergleich zum Frühjahr geringfügigen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion von Monat zu Monat geben wird. Der Chefvolkswirt der Vnesheconombank, Andrey Klepach, geht hingegen davon aus, dass die Produktion bis zum Jahresende stagnieren dürfte. Einig sind sich die beiden Banken, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 rund 4 Prozent niedriger sein dürfte als im Vorjahr. Das entspricht auch der Prognose der Regierung (- 3,9 Prozent).

Sberbank: Im vierten Quartal sinkt das BIP wahrscheinlich

Die Research-Abteilung der Sberbank veröffentlichte am 16.11. in ihrem Wochenbericht folgende Abbildung zur voraussichtlichen Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion bis zum Jahresende. Gezeigt wird die Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts in Indexwerten (Januar 2020=100). Die schwarzen Punkte markieren die Monatswerte, die grünen Striche die Quartalswerte.

Die Sberbank warnt:

„Im Oktober könnte die zweite Runde der Rezession beginnen“

(Schätzungen und Modell-Prognosen für das Bruttoinlandsprodukt; Januar 2020 = 100)

Sberbank: Wochenbericht: Global Economy News November 9 – 15; Seite 7; 16.11.2020

Die Abbildung zeigt, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion durch die Beschränkungen während der ersten Welle der Corona-Infektionen im zweiten Quartal 2020 fast 10 Prozent niedriger war als im ersten Quartal. Seit dem Tiefpunkt der Produktion im Mai hat sich das Bruttoinlandsprodukt in einem V-förmigen Verlauf bis zum September kräftig um rund 6 bis 7 Prozent erholt. Im Juni, Juli, August und September wurde damit gut die Hälfte des Einbruchs in den Monaten März, April und Mai aufgeholt.

Ab Oktober wird das BIP nach Einschätzung der Sberbank wahrscheinlich erneut sinken, aber viel schwächer als im Frühjahr. Es dürfte einen „double dip“ geben. Wenn die Produktion danach wieder zunimmt, wird der Verlauf der Produktionslinie dem Buchstaben W ähneln (siehe auch: Leopold Stefan, Aloysius Widmann; Der Standard: Prognosen: Welche Form hat die Corona-Wirtschaftskrise: Ein U oder doch ein W? 09.11.2020)

Vnesheconombank: Stagnation des BIP im vierten Quartal

Anders als die Sberbank erwartet Andrey Klepach, der Chefvolkswirt der Vnesheconombank, nicht, dass das saisonbereinigte BIP im Verlauf des vierten Quartals sinken wird. Er geht von einer Stagnation des BIP im weiteren Jahresverlauf aus. Das zeigt das folgende Chart aus seinem Vortrag vom 18. November bei der „Internationalen Konferenz für makroökonomische Analyse und Prognose“ des Konjunkturforschungsinstituts der Russischen Akademie für Wissenschaften (obere hellgrüne Linie).

Monatliche Entwicklung des saisonbereinigten Bruttoinlandsprodukts (2010=100) und des Urals-Ölpreises

A.N. Klepach; Vnesheconombank Institute: Russian economy on the way to a new development model. Medium and long-term challenges and the field of solutions; Präsentation; S. 5;
Video des Vortrags; Pressemeldung des VEB Instituts zum Vortrag; 18.11.2020

Im gesamten Jahr 2020 dürfte das Bruttoinlandsprodukt nach Einschätzung Klepachs bei einem Urals-Preis von 41 Dollar/Barrel um 4,0 Prozent niedriger sein als 2019 (Die Regierung erwartet einen Rückgang um 3,9 Prozent).

Bis 2024 nur ein schwaches Wachstum

Der VEB-Chefvolkswirt erwartet bis 2024 nur einen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion zwischen 2,3 Prozent und 2,8 Prozent. 2021 werde die russische Wirtschaft bei einem Ölpreis von 44 Dollar/Barrel voraussichtlich um 2,3 Prozent wachsen. Auch 2022 dürfte ihr Wachstum bei langsam weiter steigenden Ölpreisen kaum höher sein (2,4 Prozent). Das wäre jeweils ein Prozentpunkt weniger als die Regierung erwartet.

Damit würde der Rückgang der Wirtschaftsleistung um 4 Prozent im Jahr 2020 erst im Sommer 2022 aufgeholt sein. Mit diesen Prognosen für die Entwicklung von Bruttoinlandsprodukt und Ölpreis bleibt Klepach bei seinen Einschätzungen, die das VEB-Institut bereits Anfang Oktober auch in englischer Übersetzung veröffentlichte.

Jährliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts und Ölpreise 2019 bis 2024

A.N. Klepach; Vnesheconombank Institute: Russian Economy During the COVID-19 Pandemic and Energy Market Turbulence; Seite 7; 02.10.2020

Die Helaba rechnet nur mit einer kurzen Belebung des Wachstums

Die Hessische Landesbank erwartet im Russland-Kapitel ihres Kapitalmarktausblicks „Märkte und Trends 2021“ im laufenden Jahr 2020 einen etwas geringeren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (- 3,8 Prozent) als die Regierung und die Vnesheconombank.

Zu den aktuellen Möglichkeiten der russischen Regierung, der Wirtschaft mit ihrer Haushaltspolitik Wachstumsimpulse zu geben, meint Helaba-Analyst Patrick Heinisch:

„Zwar hat Russland grundsätzlich gesunde Staatsfinanzen und die Verschuldung ist durch Corona um sieben Prozentpunkte auf nur etwa 20% des BIP gestiegen. Russland leidet aber unter einer geringen Einnahmenbasis von nur 16% des BIP. Große Wachstumsimpulse sind von der Fiskalseite also nicht zu erwarten, da 2020 vor allem wegen des niedrigen Ölpreises Einnahmeausfälle von 35 Mrd. US-Dollar zu verzeichnen waren.“

Wegen des Sparzwangs habe die Regierung jetzt auch die Termine für die Fertigstellung der „13 nationalen Entwicklungsprojekte“, verschoben. Das sei keine gute Nachricht für das ohnehin schwache Wachstum der Investitionen. Die Diversifizierung der Wirtschaft werde sich verzögern.

Im nächsten Jahr traut Heinisch der russischen Wirtschaft mit 3 Prozent dennoch eine raschere Erholung zu als die Vnesheconombank (+ 2,3 Prozent) und viele andere Beobachter. Dabei geht die Helaba allerdings für 2021 auch von einem deutlich stärkeren Anstieg der Ölpreise auf „bis zu 60 US-Dollar“ aus als die Vnesheconombank (44 Dollar).

Schon im Jahr 2022 rechnet die Helaba allerdings bereits wieder mit einer Abschwächung des Wachstums auf nur noch 2,0 Prozent. Heinisch verweist als Wachstumshindernisse für die russische Wirtschaft auf „institutionelle Defizite, ein niedriges Produktivitätswachstum und ein trübes Geschäftsklima.“

Wie entwickelt sich das BIP in der Corona-Krise im Vergleich zum Vorjahr?

Wenn man die Quartalswerte des russischen Bruttoinlandsprodukts mit ihrem im Vorjahr erreichten Stand vergleicht, zeigt sich seit dem Ausbruch der Pandemie folgendes Bild:

  • Im zweiten Quartal 2020 sank das BIP im Vergleich mit dem zweiten Quartal 2019 um 8,0 Prozent.
  • Im dritten Quartal war es dank einer kräftigen Erholung aber nur noch 3,6 Prozent niedriger als vor einem Jahr.
  • Im vierten Quartal dürfte der Rückgang des BIP gegenüber dem Vorjahr aufgrund der neuen Infektionswelle laut einer Bloomberg-Umfrage allerdings wieder auf 4,3 Prozent zunehmen.

Die Zentralbank erwartet im vierten Quartal einen Rückgang um 5 Prozent

Die Zentralbank geht laut Interfax sogar von einem noch etwas schärferen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im vierten Quartal aus. Kirill Tremasov, Leiter der Abteilung für Geldpolitik, meinte bei einem Treffen mit Vertretern der Finanzwirtschaft im russischen Unternehmerverband, die rasche Erholung der Wirtschaft, die es im dritten Quartal gegeben habe, lege infolge der zweiten Welle der Pandemie jetzt „eine Pause“ ein, die bis zum Frühjahr dauern könne.

Die Zentralbank rechne zwar nicht mit einem erneuten „harten Lockdown“, wie es ihn im zweiten Quartal gegeben habe. Die mit der zweiten Infektionswelle erhöhten epidemiologischen Risiken hätten aber schon an sich restriktive Effekte. Sie zeigten sich im Rückgang der Verbraucherausgaben, insbesondere im Dienstleistungsbereich, weniger im Einzelhandel.

Tremasov erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt im vierten Quartal das Vorjahresergebnis um 5 Prozent oder sogar etwas mehr unterschreiten dürfte. Im gesamten Jahr 2020 werde der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion aber dennnoch wohl näher bei minus 4 Prozent als bei minus 5 Prozent liegen.

Wenn Mitte 2021 die Impfungen in Gang kämen und sich als wirksam erwiesen, könnte es eine beschleunigte Erholung der Wirtschaft geben, fügte Tremasov hinzu.

Wirtschaftsministerium: Der BIP-Rückgang hat sich bereits verschärft

Eine erste Schätzung für die BIP-Entwicklung im Oktober veröffentlichte am Freitag das Wirtschaftsministerium in seinem Monatsbericht auf der Basis der von Rosstat veröffentlichten Konjunkturdaten für Oktober. Laut Wirtschaftsministerium beschleunigte sich der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahresmonat im Oktober voraussichtlich auf 4,7 Prozent (blaue Linie in der folgenden Abbildung).

Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts

Monatliche und vierteljährliche Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Wirtschaftsministerium: Bild der Wirtschaftsaktivität Oktober 2020; Seite 2; 20.11.2020

Die Industrieproduktion war im Oktober auch deutlich niedriger

Zur Verschärfung des Rückgangs der gesamtwirtschaftlichen Produktion trug auch die Entwicklung der Industrieproduktion bei. Sie war im Oktober 5,9 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Im September hatte sie ihren Vorjahresstand laut den revidierten Rosstat-Berechnungen nur noch um 3,6 Prozent unterschritten. Das zeigt die folgende Abbildung der Veränderungsraten der Industrieproduktion aus dem Wochenbericht des Rechnungshofes.

Entwicklung der Industrieproduktion

(Veränderung gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent)

Dmitry A. Zaitsev; Rechnungshof: Economic Monitoring Nov 11–18; S. 10; 19.11.2020

Innerhalb der Industrie sank dabei im Oktober die Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“ im Vorjahresvergleich um 4,4 Prozent (blaue Linie in der folgenden Abbildung). Im August und September hatte das Verarbeitende Gewerbe seine Vorjahresproduktion hingegen bereits geringfügig übertroffen. Ursache für den Rückgang war vor allem die Abnahme der Produktion von Investitionsgütern und in Raffinerien. In den konsumorientierten Industriezweigen nahm die Produktion hingegen weiter zu.

Die Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ war im Oktober noch 8,8 Prozent niedriger als vor einem Jahr (rote Linie).

Entwicklung der Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“ und im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“

(Veränderung gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent)

Dmitry A. Zaitsev; Rechnungshof: Economic Monitoring Nov 11–18; S. 11; 19.11.2020

In den ersten 10 Monaten war die Industrieproduktion insgesamt 3,1 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Analysten der Sovcombank und von Uralsib Capital rechnen für das Gesamtjahr mit einem Rückgang um 3 bis 3,5 Prozent, berichtet der Rechnungshof.

Saison- und kalenderbereinigt stagnierte die Industrieproduktion im Oktober

Betrachtet man die saison- und kalenderbereinigte Entwicklung der Industrieproduktion von Monat zu Monat, so hielt sie sich im Oktober nach ersten Rosstat-Berechnungen auf dem im September erreichten Niveau (blaue Linie). Von ihrem Rückgang im April/Mai hat sich die bereinigte Industrieproduktion bisher kaum erholt. Der Verlauf ähnelt bisher dem Buchstaben L.

Rosstat: Industrieproduktion im Januar bis Oktober 2020; Tabelle mit Chart; 17.11.2020

Wie lange wird die Erholung dauern?

Tatiana Evdokimova, Mitarbeiterin des „Joint Vienna Institute“ und frühere Chef-Volkswirtin für Russland bei der Nordea Bank, verglich in der folgenden Abbildung die bisherige Entwicklung der russischen Industrieproduktion in der „Corona-Krise“ (dunkelblaue Linie) mit der Entwicklung in der Weltfinanzkrise 2008/2009.

Sie meint in ihrem Tweet, der Rückgang der Industrieproduktion sei jetzt zwar geringer als 2008. Er könnte aber möglicherweise noch länger anhalten. Nach dem tiefen Einbruch im Herbst 2008 hatte Russlands Industrieproduktion erst nach 2 Jahren den Rückgang aufgeholt.

Titelbild
Titelbild: unsplash.com [/su_spoiler]^*^

Quellen und Lesetipps:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Konjunkturberichte für Oktober 2020

Der Rückgang der Industrieproduktion beschleunigte sich im Oktober auf 5,9 Prozent

Das Bruttoinlandsprodukt war im dritten Quartal 3,6 Prozent niedriger als im Vorjahr

Wöchentliche Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik

Sonstige periodische Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik

Zentralbank: Berichte und Prognosen

Weitere Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland

Deutsch-russische Wirtschaftsbeziehungen