Upps!! Russland ist DOCH nicht die Sowjetunion!

Über Klischees und alte Vorurteile

Dass seit der Wende auch in Russland 30 Jahre vergangen sind, sollte sich langsam herumgesprochen haben. Doch viele längst veraltete Bilder halten sich hartnäckig in den Hinterköpfen. Das muss auch der Autor immer wieder an sich selbst feststellen.

von Leo Ensel

Geht es Ihnen auch so? Man kann ja so schlau, belesen und weitgereist sein, wie man will – irgendwo im tiefsten Seelenwinkel ist und bleibt man dümmer als man selbst! Mir geht es jedenfalls immer wieder so mit Russland. Als Kind des Kalten Krieges und Mann, der in den Achtziger Jahren mehrfach die Sowjetunion bereiste, tappe ich immer wieder in dieselbe Falle. Hier ein paar Kostproben aus mehr als 20 Jahren.

Sommer 1998. Eine Freundin aus der russischen Provinz ist mehrere Wochen bei mir zu Besuch. „Was möchtest Du morgens zum Frühstück?“ – „Am liebsten Müsli mit Kiwi!“ – „Müsli? Kiwis?? Gibt‘s die denn bei Euch in Russland zu kaufen?“ – „Sogar Biomüsli! Was hattest Du denn gedacht?“ – Ja, was eigentlich …

Immer noch Sommer 1998. „Ach übrigens, mein Lieber. Wenn Du im Winter meine Familie in Lipezk besuchen kommst: Meine Freundinnen tragen keine Wollkopftücher! Meine Mutter auch nicht!“ – „Aber vor 15 Jahren habe ich doch selbst gesehen, wie in Moskau alle –“ – „Ja. Vor 15 Jahren!“

Lipezk, 24.12.1998. „Wir würden Sie gerne heute als Gast zu unserer Weihnachtsfeier in den Lehrstuhl für Germanistik der Pädagogischen Hochschule einladen.“ – „Aber Weihnachten ist doch hier in Russland erst am 7. Januar!“ – „Ja, aber wir Germanistinnen feiern immer auch deutsche Weihnachten. Übrigens auch Fastnacht. Ach, Sie kommen doch aus Mainz: Könnten Sie uns da nicht mal ein paar CDs mit Fastnachtsliedern schicken?“

Buchhandlung Moskau. Klassiker der Weltliteratur in wunderschönen gebundenen Ausgaben. Zu moderaten Preisen. Unter anderem Nietzsche, Kafka, Freud, Sartre. – Moment mal! Ist das nicht alles bürgerlich-dekadente Literatur? Stehen die nicht alle auf dem Index? – Ach so! Wir sind ja in Russland. Nicht in der Sowjetunion!

Die kleine Eckkneipe, die Stolowaja „Oktjabrskaja“ unweit der „Tschistye Prudy“ (Saubere Teiche) im Moskauer Zentrum. Die Wände tapeziert mit „Prawda“-Seiten aus den Siebziger und Achtziger Jahren. Über den Tischen Propagandaposter, Fotos der Parteisekretäre von Breschnew bis Gorbatschow, jubelnde Menschenmassen mit Transparenten zum 1. Mai. Die Speisekarte: Schreibmaschine auf Spiritusmatrize. Daneben ein Plakat in Postkartengröße: Der anständige Genosse warnt vor den Gefahren des Alkoholkonsums. Wachstischtuch, Alu-Besteck und das Sowjetglas. Alles mit erkennbar ironischem Augenzwinkern inszeniert. – Ja, darf man das denn hier? – Darf man. Wir sind nämlich nicht …

WDNCh. Die „Allunionsausstellung“ im Norden der Stadt, unweit des Sputnik-Denkmals und der berühmten Plastik „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ von Vera Muchina. Ein fünfzig Meter hoher Triumphbogen mit fünf symmetrisch gestalteten Arkaden, gekrönt von einem glücklichen Arbeiter-Bäuerin-Paar, diesmal mit Ährengarben. Der riesige vergoldete „Brunnen der Völkerfreundschaft“. Weitere Springbrunnen mit hohen Fontänen über das riesige Gelände verstreut. Goldene Mosaiken – nicht Jesus und Maria, sondern schon wieder Arbeiter und Kolchosnitsa! – auf dem Eingangsfries des neoklassizistischen belarussischen Palastes. Der Kosmos-Pavillon mit dem legendären Sputnik I-Satelliten. Ein muskulöser Gladiator, nein: die gigantische Plastik eines verdienten Sowjetschlachters, der einem ebenso mächtigem Bullen auf dem Palais der Fleischindustrie Paroli bietet. – Und über allem tänzelnd in den Lüften: „Obladi, Oblada“ von den Beatles. Gefolgt von „I can get no satisfaction“!

Unweit der WDNCh das riesige Halbrund des Sowjethotels „Kosmos“. Davor die große Statue von – Charles de Gaulle! – „Aber wir sind ja auch nicht mehr …“ – Reingelegt! Die stand hier nämlich schon zu Sowjetzeiten!

Patriarchenteiche, ein Kilometer vom Puschkin-Platz entfernt. Hier spielt der Beginn von Bulgakows berühmtem Roman „Der Meister und Margarita“. Coctailbar, Techno-Musik, Neonlicht in schrillen Farben. Erst auf den dritten Blick fällt es mir auf: Hier sind ja fast nur Männer! Mein Gott, wo bin ich hier denn reingeraten? Ich dachte doch immer, hier in Russland … – Ja. Dachte ich.

Die Moskauer Metro. Übrigens mit kostenlosem WLAN in allen Waggons. Neben mir eine junge Frau in ihr Buch vertieft. Ich schiele rüber, versuche die kyrillischen Buchstaben der Kapitelüberschrift zu entziffern und übersetze: „Putin Löwenherz“. – Moment! Ist das nicht das Buch „Endspiel. Die Metamorphosen des Wladimir Putin” des Journalisten Michail Sygar vom unabhängigen Fernsehsender Doschd, der nur über Internet zu empfangen ist? Kurz bevor meine Nachbarin aussteigt, gelingt es mir noch, einen Blick auf die Vorderseite des Buches zu erhaschen: Ja. Stimmt! – Wird das in Russland gedruckt? Und man kann es einfach so in der Metro lesen? – Offenbar. Putins Russland mag zwar keine Demokratie im westlichen Sinne sein, aber die Sowjetunion – wann werde ich das endlich kapieren? – ist es mit Sicherheit nicht mehr!

Das „Moskauer Wirtschaftsforum“ in der russischen Akademie der Wissenschaften. Alle in gut sitzenden Anzügen, viele mit iPads. (Über Smartphones noch ein Wort zu verlieren, lohnt sich eh nicht mehr.) Wer kommt hier eigentlich aus dem Westen und wer aus Russland? Oder sind vielleicht die einen Tick besser Angezogenen die Russen? – Tja, die Zeiten, wo russische Professoren, um zu überleben, nebenbei Taxi fahren mussten, sind lange passé!

Zugegeben: Wer masochistisch veranlagt ist und sich nochmals ein Original-Sowjetfrühstück antun möchte, sollte z.B. im Hotel „Akademitscheskaja“ in der Nähe des Gorki-Parks übernachten. Die Deshurnaja nimmt, gelangweilt wie eh und je, den Frühstücksbon in Empfang. Das „Frühstücksbuffet“: Die sowjetische Einheitswurst, Buchweizenkascha, Krautsalat, eine klebrige Haferbreimasse, wenig einladender gelblicher Scheibenkäse, geschnittenes Weißbrot, geviertelte Äpfel und Orangenscheiben. Dazu heißes Wasser für Teebeutel und Instantkaffee. That‘s it! – Aber gleich eine Straßenecke nebenan wartet ein gemütliches Café mit hervorragendem Cappuccino in allen Variationen, Croissants, die schmecken wie in Frankreich und „Organic Snacks“. Selbst Veganer kommen hier auf ihre Kosten! – Und alles trotz Sanktionen und Gegensanktionen! Auch wenn der mittelgroße Cappuccino mit umgerechnet 6.50,- € reichlich teuer ist. Trotzdem frühstücken hier nicht nur Singles mit den neuesten iPhones, sondern auch junge Familien. – Als ich im Februar 1983 das erste Mal in Moskau war, gab es dort ganze fünf Möglichkeiten, einen vernünftigen Kaffee zu trinken. Alle in Devisenhotels!

Eine Geländewagenshow auf dem Roten Platz. Dröhnende Heavy-Metal-Musik bläst bis über die Kremlmauern, der Bass geht durch alle Eingeweide. Vor den SUVs räkeln sich attraktive junge Russinnen mit atemberaubend kurzen Röcken und Ausschnitten, die tiefe Einblicke gewähren. Dazwischen wimmelt es von Touristen aus der ganzen Welt, die meisten mit ihren Selfie-Sticks beschäftigt. Passt man nicht auf, kann man auch von einem der rücksichtslos durch die Massen kurvenden Mountainbikes oder einem der neuerdings hier sehr gefragten Cityroller gerammt werden. Zur Linken der alte und neue Luxustempel GUM mit schicken weißen Holzmöbeln im Freien, wo es sich mit Blick auf Lenin gepflegt tafeln lässt. Zur Rechten, vor dem Lenin-Mausoleum schlendert lässig ein Polizist und lässt an einer langen Schnur ein Schlüsselbund durch die Luft kreisen … – Aber der Rote Platz, ich habe das vor 35 Jahren ja selbst gesehen, war doch früher eine sakrale Sphäre! Meistens leer und wenn nicht, dann pilgerten die Menschenmassen stundenlang streng geordnet in kilometerlangen Schlangen schweigend zu Lenin. – Ja. War!

Aber es kommt noch verrückter: Die stundenlange orthodoxe Osternacht in der wiederaufgebauten Kasaner Kathedrale an der Ecke des Roten Platzes zur Nikolskaja, genau gegenüber von Lenin. Dreimal umkreisen die Gäubigen in dieser Nacht mit brennenden Kerzen das Kirchengebäude – und ich mitten drin! Neugierige chinesische Touristengruppen zücken ihre Handys, um die exotische Zeremonie zu verewigen. Dreimal schaue ich vor dem Betreten des Gotteshauses schräg über die Schulter… Und mir geht unandächtigerweise ein Spontispruch aus den Achtzigern durch den Sinn: „Gott ist tot!“ Nietzsche. – „Nietzsche ist tot!“ Gott.

Im Fernzug nach Wolgograd die nächste Überraschung. In meinem Coupé muss ich für die achtzehnstündige Bahnfahrt das Bett nicht mehr beziehen. Das ist nämlich schon gemacht! Ein warmes Abendessen – wenn auch, wie in den USA, im Styroporkarton – ist im Fahrpreis mitinbegriffen. Und morgens kann man von der Provodnitsa (Schaffnerin) nicht nur Tee, sondern auch (Instant)-Cappuccino aus dem Automaten erhalten. Die schönen „Podstakanniki“, die Teeglashalter mit ihren unterschiedlichen in Metall geprägten Motiven, muss man übrigens auch nicht mehr ewig in irgendeinem Zentralnij Magasin suchen. Sie sind jetzt als Merchandising-Artikel direkt im Zug erhältlich!

Übrigens, Wolgograd. Die zentrale Weltkriegsgedenkstätte auf dem Mamajew-Hügel, wo unter der 85 Meter hohen Mutter Heimat-Statue 34.505 gefallene Sowjetsoldaten ruhen. Der Weg dorthin und die Wegweiser auf der Anlage sind nicht nur auf Russisch ausgeschildert, sondern auch auf – Deutsch! Sehr touristenfreundlich. Und sehr sinnig!

Astrachan, die 450 Jahre alte russische Stadt am Wolgadelta, circa 120 Kilometer vom Kaspischen Meer entfernt. Hundert Meter vom dortigen Kreml, in einem Geschäft für Musikinstrumente. Es sind gerade keine Kunden da und der Verkäufer übt versunken auf einer Gitarre. Was klimpert er da? „Katjuscha“? „Vetchernij svon“? „Valenki“? – Nein: „Halleluja“ von Leonard Cohen!

Wie man es auch dreht und wendet: Russland ist zwar der Rechtsnachfolger, aber Russland ist nicht die Sowjetunion! Längst nicht mehr. Was man allenfalls rein theoretisch weiß, auf Reisen kann man es anhand von tausend Alltagsvignetten er-fahren. Reisen bildet ja bekanntlich, und am Allermeisten lernt man in der Fremde über sich selbst: Über die längst veralteten Bilder in den Köpfen!

Titelbild
Titelbild: Марьян Блан / Unsplash.com
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Dieser Essay erschien zuerst bei RT Deutsch.