Essay: Russlandbilder einer Kindheit im Kalten Krieg

Essay-Serie: Neue Eiszeit und eine Welt in Trümmern – Teil I

Vor sechs Jahren trennten sich im Zuge des Ukraine-Konflikts die Wege zwischen Russland und dem Westen wohl endgültig für die kommenden Jahrzehnte. Für Menschen, deren Lebensthema ein gutes Verhältnis zwischen Ost und West ist, liegt damit eine Welt in Trümmern. Im ersten Teil dieser Essay-Serie blickt unser Autor zurück auf seine Kindheit im Kalten Krieg, als Russland für ihn ein eisiges, fremdes und bedrohliches Reich war – von dem trotzdem eine tiefe Faszination ausging.

Von Dr. Leo Ensel

Ich bin kein Kriegskind, aber ein Kind des Kalten Krieges. Mehr als die Hälfte meines Lebens lebte ich in einer gespaltenen Welt. Der Riss, der durch die ganze Welt klaffte, zog sich mitten durch mein Land, nicht selten sogar mitten durch die Familien. Der Ost-West-Konflikt hatte sich eine analoge Infrastruktur geschaffen, die bis tief in die Köpfe und Seelen der Menschen hineinragte. Das bipolare Denken, das Denken und Fühlen in Freund-Feind-Kategorien, in ‚Wir‘ und ‚Die‘, in ‚Hüben‘ und ‚Drüben‘, kurz: das Lagerdenken war fast allen Menschen, wo auch immer sie sich politisch verorteten, zur zweiten Natur geworden.

Moskau, Russland, Sowjetunion. In meiner Kindheit im Rheinland der Fünfziger und Sechziger Jahre hatten diese Worte für mich immer etwas Unheimliches, Bedrohliches. Moskau war das Zentrum des Weltkommunismus. Die Kommunisten, das waren alte kalte Männer, die vom Kreml aus die halbe Welt unterjochten und die restliche Hälfte mit Krieg und totalitärer Diktatur bedrohten. Bis in die Ostzone waren sie bereits vorgedrungen und hatten diesem Teil Deutschlands ihr Herrschaftssystem aufgezwungen. Die Menschen dort hatten sehr unter der Armut und Unfreiheit zu leiden, und meine Mutter schickte nahezu wöchentlich Päckchen nach ‚Drüben‘. Wir hatten Angst, dass „die Russen“ irgendwann einmal kommen und uns erobern würden, um auch bei uns den Kommunismus einzuführen. Wir Westdeutschen hatten zwar zum Glück die Amerikaner bei uns stationiert, aber ob die uns wirklich beschützen würden, wenn es hart auf hart käme, dessen waren wir uns nicht so sicher.

In Moskau ist es immer kalt

Einmal, während der Kubakrise, wäre es um ein Haar soweit gekommen. Ein bewaffneter Konflikt zwischen Amerikanern und Russen schien unmittelbar bevorzustehen. Meine Eltern legten Lebensmittelvorräte an: „Aktion Eichhörnchen“. Gott sei Dank ging noch einmal alles gut, Chruschtschow musste auf amerikanischen Druck seine Raketen aus Kuba wieder zurückziehen, aber dies hatte wieder einmal gezeigt, dass man der Sowjetunion nur mit massiver Gegendrohung begegnen konnte. Den „Soffjets“ durfte man nicht trauen.

Moskau, Kreml, Roter Platz – das waren Worte, Bilder, die uns Kindern Angst einflößten. Bitterkalt war es dort, die Menschen arm und vom Kommunismus gezeichnet. In langen grauen Schlangen standen sie vor halbleeren Geschäften ebenso an wie vor dem Lenin-Mausoleum. Russische Frauen schienen wenig Weibliches an sich zu haben. Sie waren meistens dick – wahrscheinlich weil es dort fast nur Kartoffeln zu essen gab –, trugen Wattejacken und verrichteten für den Aufbau des Sozialismus oft schwere Männerarbeit als Kranführerinnen, Traktoristinnen oder im Straßenbau. Im Winter hatten sie dicke Wolltücher um den Kopf gewickelt.

„Ab nach Sibirien!“ war auch so ein Satz, der Angst machte. Dieses Land mit seinen unendlichen Weiten schien alles zu schlucken. Ob Napoleons Truppen oder Hitlers Wehrmacht, hier war noch jeder Eroberungsfeldzug zu seinem verdienten Stillstand gekommen, wenn der russische Winter erbarmungslos zuschlug. In Russland gab es Wölfe und im Kreml regierten starre Greise, die auf dem Roten Platz riesige Waffenparaden mit roten Fahnen an sich vorüberziehen ließen, wobei sie sich selbst applaudierten und den bestellten jubelnden Menschenmassen frostig zuwinkten. Breschnew mit seinen zusammengewachsenen dichten schwarzen Augenbrauen war wohl für viele Menschen in Westdeutschland das Symbol für „Moskau“, „Russland“, „Sowjetunion“ und „Kommunismus“. Worte, die zu Zeiten des Kalten Krieges in der Bundesrepublik nahezu synonym waren.

Erzählungen aus Russland: unheimlich, abenteuerlich, faszinierend

In den Sechziger Jahren (1963-1966) lebte mein Onkel Alois Mertes, der im diplomatischen Dienst tätig war, zusammen mit seiner Frau, meinen Vettern und meiner Cousine, in Moskau. Ab und zu schrieb er uns, wir bewunderten die großen bunten Briefmarken mit den Kosmonauten und der ersten Frau im Weltraum und schauten fasziniert auf die kyrillische Schrift. Meine Eltern erzählten uns, wie schwer es mein Onkel und meine Tante in ihrer Moskauer Diplomatenwohnung hatten. Überall waren Abhöranlagen installiert, und wenn die beiden etwas Wichtiges miteinander zu besprechen hatten, so ging das entweder nur im Freien oder im Badezimmer bei laufender Dusche. Ein- oder zweimal im Jahr kamen sie nach Deutschland, mein Onkel brachte mir russische Münzen mit, und meine Vettern erzählten von ihrem Alltag in Moskau. Alles wirkte unheimlich, abenteuerlich und faszinierend zugleich. Wie auf einem fremden Planeten.

Einmal brachte uns Onkel Alois aus Moskau eine Matrioschka mit, die Puppe in der Puppe. Immer wieder drehten wir diese wunderschön bemalte große Holzpuppe auf, holten eine kleinere bunte Puppe heraus, in der wiederum eine noch kleinere steckte und so weiter – es schien kein Ende zu nehmen. Die vierzehnte oder fünfzehnte Puppe hatte schon kein Gesicht mehr und war so winzig klein, dass man sie leicht verlieren konnte. Meine Mutter gab jeder Puppe einen russischen Frauennamen: Nina, Olga, Anja, Natascha, Tamara, Katja, Tatjana, … Wir stellten alle Puppen in einer Reihe auf ein Bücherregal und konnten uns nicht satt daran sehen. So schöne Dinge gab es also auch in Russland!

Eines Tages im Jahre 1966, es muss von heute auf morgen gegangen sein, hörten wir, dass Onkel Alois und seine Familie nicht mehr in Moskau wohnen durften – die Regierung der Sowjetunion hatte sie des Landes verwiesen. Es handelte sich um einen diplomatischen Vergeltungsakt zur Ausweisung eines gleichrangigen sowjetischen Diplomaten in Deutschland, dem man Spionagetätigkeit nachgewiesen hatte. Auf uns alle wirkte das wie ein Schock. Wieder einmal hatte das kalte kommunistische Regime zugeschlagen.

Ein Volk und seine Leidensgeschichte

Eigentlich wurde in unserer Familie gar nicht so selten von Russland gesprochen. Und dabei gab es einen Unterschied zwischen dem schrecklichen unmenschlichen kommunistischen System und dem russischen Volk, das von ihm unterdrückt wurde. In einer Mischung von Mitleid und Bewunderung erzählte uns meine Mutter viel von den unendlichen Leiden, die dieses Volk in seiner Geschichte schon hatte durchmachen müssen: Damals unter den Zaren, dann unter den Kommunisten und schließlich im Krieg, den wir Deutschen angefangen hatten. Die „unendliche Leidensfähigkeit des russischen Volkes“ war in unserer Familie schon fast ein Topos. Meine Mutter erzählte uns von der Zärtlichkeit in den russischen Redewendungen: „Mütterchen Russland“, „Väterchen Frost“. Oder sie erzählte dramatisch vom kurzen sibirischen Frühling, wo innerhalb weniger Wochen das Eis aufbricht und der Frühling schnell in den heißen Sommer übergeht. Manchmal las sie uns russische Märchen und Geschichten vor. Eine beeindruckte mich sehr: „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ von Tolstoi.

Onkel Alois berichtete, wie einfach, herzlich und gut, wie tief gläubig die russischen Menschen seien – trotz des Kommunismus. Die russisch-orthodoxe Kirche, eine andere christliche Konfession mit ihren goldenen Zwiebeltürmen, den alten schönen Ikonen, den mehrstimmigen dunklen Gesängen und den stundenlangen Gottesdiensten, in denen die Menschen die ganze Zeit stehen mussten – das alles wurde zwar von den Kommunisten verfolgt oder zumindest behindert (die Kommunisten hatten schon aus manchen Kirchen Kinosäle oder Scheunen gemacht), aber das russische Volk würde sich niemals von seinem christlichen Glauben abwenden, da waren wir sicher. Später erfuhr ich, dass es ganz in meiner Nähe, auf der anderen Rheinseite in Wiesbaden, eine russisch-orthodoxe Kirche gab. Reiche Russen, die hier – wie auch in anderen vornehmen westeuropäischen Bädern – vor der Russischen Revolution zur Kur waren, hatten sie errichten lassen, und dort steht sie noch immer.

Das Wichtigste aber, was uns aller Angst vor „den Russen“, vor „Moskau“ und „der Sowjetunion“ zum Trotz ein anderes Bild vom russischen Volk vermittelte, das waren die wunderschönen russischen Lieder. Diese Lieder schienen die ganze Weite, die ganze schwermütige Zärtlichkeit dieses riesigen Landes und seiner Menschen zu enthalten. Nichts hat mein Verhältnis zu Russland nachhaltiger bestimmt als die herzzerreißend schönen russischen Volkslieder. Ohne dass es mir jemals richtig bewusst geworden wäre, setzte sich wohl in meinem Hinterkopf dieser Kindergedanke fest: ‚Auch wenn die Kommunisten in Moskau noch so schrecklich sind – ein Volk, das solche Lieder hat, kann nicht böse sein!‘

(Fortsetzung folgt)

Titelbild
Titelbild: Mark Gunn / Flickr.com (CC BY 2.0)(
^*^

Dieser Text erschien zuerst bei RT Deutsch.