Kolumne: Alter Glanz verblasst schnell

Ost-Ausschuss-Kolumne über Wirtschaft und Politik

Großbritannien und Russland wollen durch wirtschaftliche Dominanz an vergangene Großmachtzeiten anknüpfen. Einen konkreten Plan hat nur einer von beiden – doch internationale Kooperation funktioniert nicht als Einbahnstraße.

Kolumne von Jens Böhlmann

Wenn Phantomschmerzen real werden

Es ist erst etwa einhundert Jahre her, da war das British Empire das größte Reich, das je existiert hat. Es vereinte ein Viertel der Weltbevölkerung und der Landfläche und war die dominierende Wirtschafts-, Handels- und Seemacht. Heute ist Großbritannien eine Insel in der Nordsee, deren Wirtschaft in etwa so leistungsfähig ist wie seine ehemalige Kolonie Indien. Auch die Türkei ist nur noch ein Land, nicht mehr das Osmanische Reich, vom Römischen, dem Mongolischen und anderen ganz zu schweigen. So schnell sich wirtschaftliche oder politische Verhältnisse auch ändern, im kollektiven Gedächtnis der Nachkommen scheint der imperiale Gedanke noch lange weiter zu leben. Anders ist die Aussage des britischen Premiers zu den künftigen Handelsbeziehungen nicht zu erklären: „Wir wissen wohin wir wollen, und das ist hinaus in die Welt“. Die Handelsbilanz der Briten weist die EU mit weitem Abstand als den wichtigsten Partner aus, und im Vergleich mit den USA und China ist das Vereinigte Königreich ein wirtschaftlicher Zwerg. Wie sollen all die lauthals verkündeten großartigen Deals gelingen, wenn selbst mit der EU eine Einigung kaum möglich scheint? Der Phantomschmerz verblichener Größe könnte sich sehr bald in realen-wirtschaftlichen verwandeln.

Russland hat einen Plan

Wenn man die Liste der größten Volkswirtschaften noch etwas weiter nach unten geht, kommt die Russische Föderation. Auch hier scheint die Erinnerung an die Sowjetunion und deren Satelliten noch sehr präsent, obwohl schon damals die Mär von der internationalen wirtschaftlichen Leistungs- bzw. Konkurrenzfähigkeit nicht wirklich gestimmt hat. Der größte Stolz eines jeden Sowjetbürgers war der Besitz eines Schiguli – also eines Fiat-Nachbaus – wenn man denn jemals einen bekam. Und so richtig viele bekannte Marken sind mir aus der Sowjetunion nicht bekannt, wenn man von der Luft- und Raumfahrt einmal absieht. Die Russische Föderation macht es besser als der große Vorgänger. Zumindest in den Bereichen Land- und Ernährungswirtschaft, Chemische Industrie, Nukleartechnologie und teilweise bei der Softwareentwicklung verfügt man über exportfähige Produkte. Vom Ziel, die komplette Dominanz der Energieträger und Rohstoffe in der Statistik zu verringern und durch hochtechnologische und industrielle Exporte zu substituieren, ist das Land allerdings weit entfernt. Was Russland von Großbritannien unterscheidet ist, dass sie einen sehr konkreten Plan haben, wie dieser Zustand geändert werden könnte.

Industriegüter für den Export?

Das Ministerium für Industrie und Handel hat dafür eine ziemlich schonungslose Analyse des Status Quo und eine Industriestrategie bis 2035 vorgelegt. Derzeit trägt die Verarbeitende Industrie mit etwa 14 Prozent oder vier Mal mehr als die Landwirtschaft zur Bruttowertschöpfung bei. Der große Unterschied ist, dass landwirtschaftliche Produkte in großer Zahl exportiert werden und konkurrenzfähig sind. Eine Ursache für die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Industrie ist die deutlich überalterte Substanz, Gebäude sind zum Teil 50, die Anlagen 30 Jahre alt, stammen also noch aus sowjetischen Zeiten. Die Einstellung des ein oder anderen so genannten Spezialisten offensichtlich auch. Denn sie träumen davon, dass Russland wie früher wieder Maschinen und Anlagen in großer Zahl exportiert. Man will die eigene Schwer- und verarbeitende Industrie auf Weltklasseniveau bringen – aus eigener Kraft und ohne äußere Hilfe. Dieses „früher“ war zu Zeiten des RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe), eines abgeschlossenen Wirtschaftsraums weitestgehend ohne Wettbewerb mit erheblichen Abhängigkeiten der Partnerländer von der Sowjetunion.

Noch nicht wettbewerbsfähig

Heute fehlen – vor allem auch in den großen stattlichen Holdings – angefangen von der qualifizierten Ingenieursausbildung über die international nicht konkurrenzfähigen Zulieferer bis hin zu den kaum auf Effizienz ausgelegten Großbetrieben schlichtweg die Voraussetzungen für die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Die Autoren erkennen dieses Manko sehr genau und plädieren für deutlich verbesserte praktische und stärker an den Bedürfnissen der Industrie ausgerichtete Ausbildungsgänge. Sie empfehlen den Einsatz modernster verfügbarer Technologien, verstärkte internationale Kooperation in den Bereichen Technologie und Innovation, intensiveren Technologietransfer und die Stärkung der nationalen digitalen Plattformen. Alles richtig und notwendig. Gleichzeitig wird auch in diesem Papier der Erfolg der Politik der Importsubstitution und Lokalisierung herausgestellt.

Internationale Kooperation ist keine Einbahnstraße

Warum aber sollte ein Unternehmen seinen größten Vorteil, die technologische Marktführerschaft und das Know-how teilen, wenn ihm dann der Zugang zum Markt verwehrt oder zumindest erschwert wird? Internationale Kooperation funktioniert nicht als Einbahnstraße. Der Ausbau der nationalen Digitalplattformen ist sicher richtig, aber entscheidend ist, ob diese mit anderen kommunizieren können. Was nützt die beste Ontologie und Semantik, wenn die Sprache außerhalb Russlands niemand „versteht“? Interoperabilität ist das Schlüsselwort. Das Internet der Dinge macht weder an Landes- noch an politischen Grenzen halt, aber es entscheidet über die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen, Branchen und Ländern. Wenn der Wille der russischen Regierung darin besteht, im internationalen Geschäft mitzuspielen, dann ist Abschottung der falsche Weg. Die dominierenden Unternehmen der Plattformökonomie sitzen in den USA und China, die größten und gleichzeitig finanzstärksten Märkte sind die EU, China und die USA und Hochtechnologie wird zwischen hoch entwickelten Industrieländern gehandelt, die sich gegenseitig befruchten und antreiben.

Selbst Aston Martin gehört Italienern

Ist der Gedanke wirklich so abwegig, dass Russland sich wieder mehr Richtung Europa orientiert? Einige der weltweit leistungsfähigsten und besten Maschinen- und Anlagenbauer kommen aus Italien, Österreich, der Schweiz, Deutschland. Industrie 4.0 ist im Wesentlichen von europäischen Maschinenbauern und Automobilherstellern auf den Weg gebracht worden, in erster Linie aus Deutschland, mit allen automatisierten und digitalisierten Prozessen, die dahinterstehen. Der Green Deal der EU bietet Möglichkeiten der Partizipation auch für Russland, und Deutschland ist beim Thema alternative Energien ganz vorn und verfügt über langjährige Erfahrung und Erfolge bei der Konversion in der Industrie. Die Chancen für eine neue Partnerschaft sind allgegenwärtig. Ich erinnere noch einmal an den Beginn dieser Kolumne. Die Briten waren noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Industriebereichen Weltspitze. Davon ist nicht viel geblieben. Automobile von der Insel sind Legende. Heute gibt es kaum noch einheimische Modelle, in britischem Besitz. Selbst Aston Martin gehört einem – italienischen – Private Equity Fund. Unter den 20 größten britischen Unternehmen sind die Mehrheit Bergbau- und Energieunternehmen, nur wenige aus dem Verarbeitenden Gewerbe. Großbritannien, inklusive seiner Separationsbestrebungen, sollten sich die Russen besser nicht zum Vorbild nehmen.

Der „Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de.

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