Lange schienen die westlichen Sanktionen und die Kriegs-Ausgaben in der Ukraine den soliden Zahlen im russischen Staatshaushalt wenig anhaben zu können. Doch neue Berechnungen zeigen ein unerwartet hohes Defizit.
Laut der Haushaltsplanung der Regierung war zu erwarten, dass das Defizit im föderalen Haushalt 2022 lediglich 0,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht. Nach ersten Berechnungen des Finanzministeriums dürfte es aber 2,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Die Zentralbank sieht in der defizitären Haushaltsentwicklung erhöhte Inflationsrisiken.
Auch die außenwirtschaftliche Entwicklung trübte sich im zweiten Halbjahr ein. Bis zum zweiten Quartal schraubte sich der Überschuss in der russischen Leistungsbilanz bei explosiv steigenden Energiepreisen zwar auf neue Rekordhöhen. Der Rückgang des Leistungsbilanzüberschusses im Verlauf des zweiten Halbjahres war jedoch noch schärfer als sein Anstieg in der ersten Jahreshälfte.
Hohes Defizit im Föderationshaushalt 2022
Ende September hatte Finanzminister Siluanow laut Interfax immerhin die Vermutung geäußert, dass Russlands föderales Haushaltsdefizit wahrscheinlich nicht wie geplant auf 0,9 Prozent des BIP begrenzt werden kann. Am 10. Januar teilte er nun mit, dass das Defizit im letzten Jahr voraussichtlich 2,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht hat. Der Fehlbetrag habe im Gesamtjahr rund 3,3 Billionen Rubel (47 Milliarden US-Dollar) betragen.
Nach den ersten elf Monaten des Jahres 2022 hatte der föderale Haushalt noch einen Überschuss ausgewiesen. Im Dezember ergab sich laut Bloomberg-Berechnungen jedoch ein Fehlbetrag von 3,9 Billionen Rubel (56 Milliarden US-Dollar). Er drückte den Haushalt in der Jahresbilanz 2022 ins Defizit. Im Jahr 2021 war im föderalen Haushalt noch ein kleiner Überschuss (0,4 Prozent des BIP) verzeichnet worden.
2023 wird laut Bloomberg von der Regierung ein weiteres Defizit in Höhe von rund 2 Prozent des BIP erwartet. Bei dieser Prognose sei jedoch von einem Ölpreis von rund 70 Dollar/Barrel im Jahr 2023 ausgegangen worden. Im Dezember 2022 habe der Ölpreis aber nur noch rund 50 Dollar betragen. Sollte er 2023 so niedrig bleiben, werden die föderalen Einnahmen nach Bloomberg-Berechnungen in diesem Jahr um rund 2,4 Billionen Rubel oder 1,6 Prozent des BIP niedriger ausfallen.
Zentralbank-Direktor Tremasow sieht erhöhte Inflationsrisiken
Am 27. Dezember 2022 hatte Finanzminister Siluanow in einem Briefing zum Jahresende laut Interfax.com/Finmarket.ru bereits mitgeteilt, dass die Regierung ihre Schätzung für das föderale Haushaltsdefizit im Jahr 2022 von 0,9 Prozent auf 2 Prozent des BIP anhebe. Seit dem Beginn der „Speziellen Militäroperation“ hätten sich die gesamtwirtschaftlichen Bedingungen verändert. Die Inflation sei gestiegen und die Unterstützung der Familien erfordere hohe Ausgaben.
Zum Anstieg des Haushaltsdefizits kündigte Kirill Tremasow, Direktor der Abteilung für Geldpolitik der Zentralbank, laut Finmarket.ru an, die Zentralbank werde diese deutliche Revision der Haushaltspolitik sorgfältig analysieren. Eine „weichere“ Haushaltspolitik zwinge die Zentralbank oft, eine „festere“ Geldpolitik einzuschlagen. Tremasow sieht gestiegene Inflationsrisiken, zum einen durch die veränderte Haushaltspolitik, zum anderen durch das veränderte außenwirtschaftliche Umfeld. Wenn deutlich mehr Geld durch den „Budget-Kanal“ in die Wirtschaft fließe, werde die Zentralbank den Geldzufluss durch den „Kredit-Kanal“ etwas verringern müssen (siehe auch Tremasow-Interview mit RBC TV).
BOFIT: Geplante Ausgabenentwicklung im Gesamthaushalt bis 2025
Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank BOFIT hat in seinem jüngsten Wochenbericht in der folgenden Abbildung dargestellt, wie stark die nominalen Ausgaben für einige öffentliche Aufgaben im Jahr 2022 gegenüber 2021 voraussichtlich gestiegen sind und wie sie sich laut den im Dezember erfolgten Haushaltsbeschlüssen der Duma bis 2025 weiter entwickeln sollen. Dargestellt ist die Entwicklung der Ausgaben des konsolidierten Gesamthaushalts, der neben dem föderalen Haushalt auch die Haushalte der Regionen, der Gemeinden und der staatlichen Sozialkassen umfasst.
Die gestrichelten Linien zeigen in der Abbildung, welche weitere Entwicklung der Ausgaben am Beginn der Haushaltsberatungen im September 2022 geplant war. Damals war von der Regierung vorgesehen, die Ausgaben für „Innere Sicherheit und Recht“ („Domestic security and law enforcement“) 2023 besonders stark zu erhöhen. Im Vergleich mit 2021 sollten sie 2023 um rund 85 Prozent höher sein. Von der Duma wurde im Dezember eine deutlich schwächere Anhebung um rund 50 Prozent beschlossen. Diese Steigerung wird trotzdem den Anstieg der Ausgaben für „Verteidigung“ (2023 gegenüber 2021: rund +40 Prozent) noch merklich übertreffen. Die Ausgaben für „Verwaltung“ sollen 2023 rund 15 Prozent höher sein als 2021, am schwächsten sollen die Ausgaben für „Wirtschaft“ steigen.
Die Struktur der geplanten Staatsausgaben hat sich seit September teilweise geändert
BOFIT, Bank of Finland: BOFIT Weekly, 20.01.2022
Auf der rechten Seite der Abbildung ist erkennbar, dass die Ausgaben für Bildung und das Gesundheitswesen von 2021 bis 2025 relativ gleichmäßig steigen sollen. 2025 sollen sie rund 30 Prozent höher sein als 2021. Die Ausgaben für Sozialleistungen sollen merklich schwächer wachsen.
Real sind Russlands Staatseinnahmen gesunken
Zur Entwicklung der nominalen staatlichen Einnahmen merkt BOFIT an:
2022 haben der Rückgang der Produktion der russischen Wirtschaft und die Abnahme ihrer Importe die Staatseinnahmen sinken lassen. Das gilt nicht nur für den föderalen Haushalt, sondern auch für den konsolidierten Gesamthaushalt. Nur weil Gazprom eine sehr hohe zusätzliche Produktionssteuer auferlegt wurde, stiegen die nominalen staatlichen Einnahmen 2022 gegenüber dem Vorjahr
Inflationsbereinigt sind nach Schätzung von BOFIT die Einnahmen im konsolidierten Gesamthaushalt und im Haushalt der Föderation bereits im späten Frühjahr gesunken. In der zweiten Jahreshälfte habe der reale Rückgang der Einnahmen im Gesamthaushalt 10 bis 15 Prozent und im Föderationshaushalt 15 bis 20 Prozent betragen.
Der stark gestiegene Leistungsbilanzüberschuss sinkt jetzt rasch
Die russische Regierung hat ihre Veröffentlichungen über die Entwicklung des Außenhandels mit Waren und Dienstleistungen zwar weitgehend eingestellt. Die russische Zentralbank veröffentlicht aber noch einige Angaben zur Entwicklung wichtiger Komponenten der Zahlungsbilanz.
Die Entwicklung des Überschusses in der russischen Leistungsbilanz war im Verlauf des Jahres 2022 vor allem von den sehr stark schwankenden Energiepreisen und den zunehmend wirksamen Sanktionen bestimmt. Der Überschuss ist zunächst in den beiden ersten Quartalen stark gestiegen. Im zweiten Quartal erreichte er einen neuen Rekord-Wert (76,7 Milliarden US-Dollar), fiel dann aber wieder rasch zurück.
Leistungsbilanzüberschuss Russlands
Quartalswerte in Millionen Dollar
Trading Economics: Russian Current Account Narrows Sharply in Q4, 17.01.2023
Im vierten Quartal 2022 war der Leistungsbilanzüberschuss nach ersten Berechnungen der Zentralbank mit nur noch 31,4 Milliarden US-Dollar fast 60 Prozent niedriger als im zweiten Quartal. Wichtigste Ursache dafür dürften die im Verlauf des zweiten Halbjahres stark gesunkenen Gas- und Ölpreise sein.
Auch im Vergleich mit dem vierten Quartal 2021 sank der Leistungsbilanzüberschuss Im vierten Quartal 2022. Er war mit 31,4 Milliarden US-Dollar rund 33 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor (47,0 Milliarden US-Dollar).
Im gesamten Jahr 2022 ist Russlands Leistungsbilanzüberschuss aber trotz seines starken Rückgangs im Verlauf des zweiten Halbjahres auf einen neuen Rekord-Wert von 227,4 Milliarden US-Dollar gestiegen. Er war damit rund 86 Prozent höher als im Jahr 2021 (122,3 Milliarden US-Dollar). Dazu trug vor allem bei, dass die russischen Erlöse aus der Ausfuhr von Waren und Dienstleistungen 2022 kräftig stiegen. Ursache dafür war wohl hauptsächlich, dass die Erlöse aus Energieexporten aufgrund der im Jahresdurchschnitt höheren Preise von Öl und Gas wuchsen.
Außerdem sanken die russischen Ausgaben für die Einfuhr von Waren und Dienstleistungen unter dem Einfluss der Sanktionen im Vergleich der Jahre 2022 und 2021.
Die russische Zentralbank merkt in ihrem Bericht zur Entwicklung der Zahlungsbilanz hinsichtlich der Entwicklung der Einfuhren von Waren und Dienstleistungen im Verlauf des Jahres 2022 aber an, dass der Wert der Einfuhren zwar im Jahresvergleich 2022 gegenüber 2021 sank. Dabei sei der im ersten Halbjahr 2022 beobachtete Rückgang der Einfuhren gegenüber dem ersten Halbjahr 2021 aber von einer allmählichen Erholung der Einfuhren abgelöst worden.
In der folgenden Abbildung aus dem Bericht der russischen Zentralbank zeigt die blaue Linie die Entwicklung des Saldos der Leistungsbilanz („Current account“). Dargestellt sind außerdem die Salden der Bilanz des Außenhandels mit Waren und Dienstleistungen (orange Säule) und der „Bilanz der primären und sekundären Einkommen“ (grüne Säule).
Komponenten der Leistungsbilanz in den Jahren 2017 bis 2022,
Milliarden US-Dollar
Russian Central Bank: Estimate of Key Aggregates of the Balance of Payments of the Russian Federation, 17.01.2023
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Weltbank und UniCredit: Russland bleibt 2023 in tiefer Rezession, 18.01.2023
- Konjunktur: Kontroverse Prognosen für 2023, 09.01.2023
- Bleibt Russlands Wirtschaft langfristig in der Rezession stecken? 02.01.2023
- Russland in der Weltwirtschaft – Konjunkturprognosen aus Kiel und Moskau, 28.12.2022
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Berichte zum Rückzug von BASF/Wintershall Dea aus Russland: Hessenschau, Deutsche Welle
- Johannes Teyssen, Alpiq-Präsident, zur Energiemarktentwicklung: Handelszeitung und AWP-Video
- Janis Kluge im AHK-Podcast mit Thomas Baier: Ist die russische Wirtschaft robuster als erwartet?
- Erklärvideos: “Joe blogs” zu “Russlands Wirtschaftsdesaster“; TLDR EU News zum “G7 Price Cap“
- Kommt die Gaskrise im nächsten Jahr? Kontroverse Meinungen von Ben Aris und Andrey Gurkov