Russlands Konjunktur: IWF erwartet mehr Wachstum als die Regierung

Der IWF zeichnet für 2022 ein neues Bild der Produktionsentwicklung

Am Dienstag veröffentlichte der Internationale Währungsfonds ein Update seines „World Economic Outlook“. Der IWF sieht die Produktionsentwicklung der russischen Wirtschaft bis 2022 jetzt deutlich günstiger als in seiner „Herbstprognose“ vor drei Monaten. Er rechnet sogar mit mehr Wachstum als Russlands Regierung. Grund zum Optimismus sind auch die in der letzten Woche vom russischen Statistikamt Rosstat veröffentlichten Daten. In der verarbeitenden Industrie und  der Landwirtschaft stieg die Produktion im Jahr 2020. Der Rückgang des realen Einzelhandelsumsatzes trübt aber die Hoffnungen.

Aktuelle Konjunkturentwicklung im Dezember

Im Dezember hat sich das Konjunkturbild insgesamt weiter aufgehellt. Der Rückgang der Produktion in der Industrie (- 0,2 Prozent) und im Transportgewerbe (- 1,3 Prozent) schwächte sich weiter ab.

Im Einzelhandel verschärfte sich die Abnahme des realen Umsatzes (- 3,6 Prozent) hingegen am Jahresende erneut. Das Minus des realen Umsatzes im Dienstleistungsbereich war im Dezember noch fast ebenso hoch (- 12,5 Prozent) wie im November (- 13,8 Prozent).

2020 drückten Öl-, Gas- und Kohleförderung die Industrieproduktion

In der folgenden Abbildung aus dem Konjunkturbericht des Wirtschaftsministeriums für Dezember zeigt die schwarze Linie, wie sich der Rückgang der Industrieproduktion gegenüber dem Vorjahresmonat nach dem tiefen Einbruch im Frühjahr bis zum Dezember auf – 0,2 Prozent verringerte (schwarze Linie).

Entwicklung der Industrieproduktion

Veränderung gegenüber Vorjahresmonat in Prozent (schwarze Linie) Beiträge der Industriebereiche zur Veränderungsrate in Prozentpunkten (Säulenteile)

Wirtschaftsministerium: Bild der Wirtschaft Dezember 2020; 28.01.2021

Die farblich unterschiedlichen Säulenteile zeigen, welche Beiträge die einzelnen Bereiche der Industrie zur Veränderungsrate der Industrieproduktion leisteten (gelb=Wasser- und Abwasserversorgung; grau=Energieversorgung; blau=Verarbeitendes Gewerbe; grün=Bergbau und Rohstoff-Förderung). Klar erkennbar ist, dass der Rückgang der Industrieproduktion seit Mai vor allem von der Einschränkung der Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (grüne Säulenteile) verursacht wurde.

Die Rohölförderung wurde im Rahmen der Vereinbarungen Russlands mit der OPEC+ verringert. Sie sank 2020 gegenüber 2019 um 8,7 Prozent. Die Erdgasförderung ging nur wenig schwächer zurück (- 7 Prozent). Die Kohleförderung war sogar 9,4 Prozent niedriger als 2019. Das berichtet Finmarket.ru.

Im Jahresvergleich 2020/2019 sank die Produktion des gesamten Bereichs „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ um 7 Prozent. Dieser Rückgang war nach Berechnungen von Dmitry Dolgin (ING Bank) zu rund 85 Prozent für die Abnahme der gesamten Industrieproduktion um 2,9 Prozent verantwortlich.

Die starke Einschränkung der Förderung von Rohstoffen war auch der Hauptgrund für den Rückgang der Transportleistungen um 4,9 Prozent.

Das Verarbeitende Gewerbe (blaue Säulenteile) lieferte im ersten Quartal 2020 und im November und Dezember 2020 hingegen positive Wachstumsbeiträge. Die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes war im Dezember 4,4 Prozent höher als vor einem Jahr.

Wichtige Produktionsbereiche blieben 2020 trotz Krise leicht im Plus

Im Jahresvergleich 2020/2019 stieg die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes um 0,3 Prozent. Die Bauproduktion nahm um 0,1 Prozent zu und die Agrarproduktion war in den ersten elf Monaten 1,5 Prozent höher als 2019.

Siehe auch: Olga Belenkaya; FINAM: Crisis year – the failure was not so deep; finam.ru; 29.012021

Im Verarbeitenden Gewerbe gelang es, die Rückgänge bei der Produktion von Mineralölprodukten, in der Metallverarbeitung und in der Kraftfahrzeugindustrie durch eine Steigerung der Produktion von verbrauchsnahen Erzeugnissen auszugleichen. Es wurden zum Beispiel mehr Nahrungsmittel, Textilien, Arzneimittel, Möbel und mehr Produkte für die Renovierung von Gebäuden hergestellt.

Einzelhandel und Dienstleistungen noch tief im Minus

Die Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie trafen 2020 vor allem den Einzelhandel und – noch weit härter – den Dienstleistungsbereich.

Der reale Umsatz des Einzelhandels sank 2020 um 4,1 Prozent gegenüber 2019. Dabei war der Rückgang im Bereich der Nahrungsmittel nur halb so hoch (-2,6 Prozent) wie bei den übrigen Waren des Einzelhandels (- 5,2 Prozent). Der Dienstleistungsbereich verlor gut ein Sechstel seines realen Umsatzes (- 17,3 Prozent).

Siehe auch: Olga Belenkaya; FINAM: Crisis year – the failure was not so deep; finam.ru; 29.012021

Der reale Umsatzrückgang im Einzelhandel verschärfte sich Ende 2020 erneut

Im dritten Quartal 2020 hatte sich der reale Einzelhandelsumsatz von seinem tiefen Einbruch im zweiten Quartal um 16 Prozent weitgehend erholt. Er war nur noch 1,6 Prozent niedriger als im dritten Quartal 2019. Im Verlauf des vierten Quartals hat  sich der Umsatzrückgang gegenüber dem Vorjahr aber wieder verschärft. Im Dezember 2020 erreichte er 3,4 Prozent.

Dmitry Dolgin, ING Bank, hat die Entwicklung des realen Einzelhandelsumsatzes in der folgenden Abbildung dargestellt (graue Linie). Der Rückgang des realen Einzelhandelsumsatzes wird von einer Verschlechterung der Stimmung der Verbraucher begleitet. Die rote Linie zeigt die von Rosstat in Umfragen ermittelte Eintrübung der Kauflaune (FocusEconomics-Bericht).

Retail trade weakened at the end of 2020, in line with consumer sentiment

Dmitry Dolgin; ING: Russia: Consumer confidence takes a hit; Figure 1; 28.01.2021

Die Corona-Krise brachte erneut schmerzhafte Einkommenseinbußen

Hinter den Umsatzverlusten in den verbrauchsnahen Wirtschaftsbereichen steht der Rückgang der real verfügbaren Einkommen. Sie waren im Jahresdurchschnitt 2020 um 3,5 Prozent niedriger als 2019. Im Lockdown im zweiten Quartal 2020 waren sie im Vorjahresvergleich um 7,9 Prozent eingebrochen. Im vierten Quartal unterschritten sie ihr Vorjahresniveau noch um 1,7 Prozent.

Im Vergleich mit dem im Jahr 2013 erreichten Niveau hat die Bevölkerung einen realen Einkommensverlust von insgesamt 10,6 Prozent zu verzeichnen, wie die folgende Abbildung von Olga Belenkaya zeigt.

Real verfügbare Einkommen rund 11 Prozent niedriger als 2013 Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Olga Belenkaya; FINAM: Crisis year – the failure was not so deep; finam.ru; 29.012021; siehe auch: Moscow Times: Pandemic Pushed Russians’ Household Finances to Decade Low; 29.012021

Hoffnungen auf eine schnelle und kräftige Erholung der russischen Wirtschaft macht aber der Internationale Währungsfonds.

Die IWF-Prognosen für Russland sind seit Juni viel günstiger geworden

Vor einem halben Jahr sah der IWF die Produktionsentwicklung der russischen Wirtschaft im Vergleich mit anderen Beobachtern noch relativ pessimistisch. Im Update seiner „Frühjahrsprognose“ ging er im Juni 2020 davon aus, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 um 6,6 Prozent zurückgehen wird. Das war deutlich mehr als damals Analysten bei einer Reuters-Umfrage erwarteten (- 4,5 Prozent).

Inzwischen schätzt der IWF die Wachstumsaussichten Russlands aber viel optimistischer ein. In seiner „Herbstprognose“ Mitte Oktober nahm er seine Rezessionserwartungen für 2020 bereits auf – 4,1 Prozent zurück. Im Update seiner „Herbstprognose“ veranschlagt der IWF jetzt den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2020 mit – 3,6 Prozent erneut deutlich geringer.

Russlands Bruttoinlandsprodukt ist nach Einschätzung des IWF damit 2020 kaum stärker gesunken als die Produktion der gesamten Weltwirtschaft (- 3,5 Prozent). Zum Vergleich: Die russische Regierung hat ihrer Budget-Planung eine etwas stärkere Abnahme des russischen BIP um 3,9 Prozent im Jahr 2020 zugrunde gelegt.

Wachstumsprognosen 2020 bis 2022

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Am 1. Februar wird das Statistikamt Rosstat seine erste Schätzung zum Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion im letzten Jahr vorlegen.

IWF: Bis 2022 zieht Russlands Wachstums auf 3,9 Prozent an

Auch die Wachstumsperspektiven bis 2022 haben sich nach Ansicht des IWF deutlich aufgehellt. Seine Wachstumsprognose für 2021 vom Oktober hebt er jetzt um 0,2 Prozentpunkte auf 3,0 Prozent an. Die russische Regierung geht von einem kaum stärkeren Anstieg um 3,3 Prozent aus.

Noch deutlich optimistischer sieht der IWF Russlands Wachstum im Jahr 2022. Bisher erwartete er ein Abflauen des Produktionsanstiegs auf 2,3 Prozent. Jetzt rechnet er mit einer Beschleunigung auf 3,9 Prozent. Das wäre sogar spürbar mehr als die Regierung für 2022 ansetzt (+ 3,4 Prozent).

Gründe für die starke Aufwärtsrevision seiner Prognose für 2022 nennt der IWF in seiner neuen Prognose nicht. Da rätselt auch Tatiana Evdokimova, frühere Chef-Volkswirtin der Nordea-Bank, in einer Twitter-Meldung:

„For some reason, the IMF became much more optimistic on Russian growth prospects in 2021 and even more so in 2022.“

Im internationalen Wachstumsvergleich liegt Russland jetzt im „Mittelfeld“

Tatiana Evdokimova hat in der folgenden Abbildung die Prognosen des IWF für das Wachstum zahlreicher Länder im Zeitraum 2020 bis 2022 in seiner „Herbstprognose“ vom Oktober 2020 (rote Säulen) mit seinen neuen Prognosen vom Januar 2021 (blaue Säulen) verglichen. Für kein anderes Land habe der IWF das kumulative Wachstum für den Zeitraum 2020 bis 2022 so stark nach oben revidiert wie für Russland, stellt sie fest.

Bestätigen sich die neuen IWF-Prognosen, würde Russland 2022 eine 3,2 Prozent höhere gesamtwirtschaftliche Produktion erreichen als 2019 (eingekreiste blaue Säule). Die Planung der Regierung geht von einem geringeren Anstieg um 2,6 Prozent aus. Im Oktober hatte der IWF für den Zeitraum 2020 bis 2022 nur ein kumuliertes Wachstum von 0,9 Prozent erwartet (rote Säule).

Prognosen für die kumulative Veränderung des Bruttoinlandsprodukts bis 2022 (Veränderung 2022/2019 in Prozent)

Tatiana Evdokimova: „For some reason, the IMF became much more optimistic,,,; Tweet, 26.01.2021; Bildadresse

Experten vermuten laut Tellerreport und RT.com, dass der IWF seine Wachstumserwartungen für Russland vor dem Hintergrund des Beginns von Impfungen weiter Teile der Bevölkerung und der staatlichen Hilfsmaßnahmen für Unternehmen und Bevölkerung angehoben hat. Außerdem könne ein Anstieg der Ölpreise das Wachstum beschleunigen.

Die Abbildung zeigt, dass der IWF in den drei Jahren 2020 bis 2022 vor allem in den großen asiatischen Entwicklungsländern ein viel stärkeres Wachstum als in Russland erwartet. Etwas stärker als Russland wachsen auch Polen (als einziges EU-Land), die USA und Australien.

Deutlich schwächer als Russland wachsen die Niederlande und Deutschland, wo das Bruttoinlandsprodukt 2022 nach den starken Produktionseinbrüchen des Jahres 2020 kaum höher sein wird als 2019.

Frankreich dürfte 2022 das Niveau von 2019 nicht ganz erreichen.

Großbritannien, Spanien und Italien, aber vor allem die großen Entwicklungsländer Mexiko, Südafrika und Argentinien werden auch 2022 im Vergleich zu 2019 noch beträchtlichen Aufholbedarf haben.

Titelbild
Titelbild: unsplash.com
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Quellen und Lesetipps:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Konjunkturberichte für Dezember und das Jahr 2020

Die Industrieproduktion war 2020 2,9 Prozent niedriger als im Vorjahr

Internationaler Währungsfonds: World Economic Outlook Update January 2021

Nord Stream 2

Deutsch-russische Beziehungen

Russland-Konferenzen der IHK Düsseldorf am 14.01.2021 und am 09.12.2020

Wöchentliche Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland

Vnesheconombank Institute:World Economy and Markets Review“ mit Russland-Themen:

Sberbank: Wochenbericht „Global Economic News“ mit folgenden Russland-Themen:

Marina Voitenko; politcom.ru: Wirtschaftspolitischer Wochenrückblick; jeweils donnerstags

  • 28.01.: January 2021 – Mixed mood: Vollzug Föderalhaushalt 2020; Preisanstieg; Zahlungsbilanz
  • 21.01.: On the way to qualitative growth: Rückblick auf Gaidar-Forum
  • 14.01.: Oil prices matter: Hohe Ölpreisvolatilität im Jahr 2020; Ölpreisprognose für 2021 nach OPEC+Abkommen auf 50 bis 55 Dollar/Barrel gestiegen; voraussichtliche Rubel-Aufwertung auf rund 70 Rubel/Dollar kann Inflation auf 3,5 bis 4 Prozent bis Ende 2021 dämpfen.

Dmitry A. Zaitsev; Rechnungshof-Wochenbericht:Economic Monitoring

BOFIT (Bank of Finland): BOFIT Weekly (Russland und China im wöchentlichen Wechsel; donnerstags finnische; freitags englische Ausgabe); BOFIT Russia Statistics

Sonstige periodische Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik

Russlands Wirtschaft am Jahreswechsel 2020/2021 – Rückblick und Ausblick

Weitere Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland