Die fünf führenden deutschen Konjunkturforschungsinstitute haben in den beiden letzten Wochen ihre „Sommerprognosen“ veröffentlicht. Zur Entwicklung der russischen Wirtschaft veröffentlichten alle Institute zumindest Prognosen zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion und der Verbraucherpreise.
Die Einschätzungen der Institute zur Entwicklung des russischen Bruttoinlandsprodukts klaffen in den Sommerprognosen noch etwas weiter auseinander als in den „Frühjahrsprognosen“.
Einerseits erwartet das Essener RWI Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung 2023 einen weiteren Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts um 2,0 Prozent. Er wäre damit kaum schwächer als 2022 (- 2,1 Prozent).
Andererseits hob das Kieler Institut für Weltwirtschaft seine Russland-Prognose deutlich weiter an. Statt eines leichten Rückgangs des BIP um 0,4 Prozent erwartet das IfW jetzt ein Wachstum der Wirtschaft von 1,0 Prozent.
Rund 6 Monate vor Jahresschluss unterscheiden sich diese Prognosen also noch um 3 Prozentpunkte: Ein Zeichen für die weiterhin hohe Unsicherheit von Prognosen für die russische Wirtschaft.
BIP-Prognosen 2023 und 2024
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Welches Institut erhöhte seine BIP-Prognose für Russland am meisten?
Verglichen mit seiner „Frühjahrsprognose“ für die Entwicklung des russischen Bruttoinlandsprodukts hob das Institut für Wirtschaftsforschung Halle seine BIP-Prognose für 2023 am stärksten an. Während es vor drei Monaten noch einen Rückgang des BIP um 1,1 Prozent erwartete, rechnet es jetzt mit einem Anstieg um 0,8 Prozent: Eine „Aufwärtsrevision“ um 1,9 Prozentpunkte. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft erhöhte seine Russland-Prognose um 1,4 Prozentpunkte, das Münchner ifo Institut um 1,1 Prozentpunkte. Nach diesen kräftigen Aufwärtsrevisionen erwarten alle drei Institute jetzt im laufenden Jahr ein Wachstum der russischen Wirtschaft.
Das Berliner DIW, das im Frühjahr keine Prognose für Russland veröffentlichte, rechnet hingegen mit einem Anhalten der Rezession in Russland. Es veranschlagt den weiteren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts auf 1,1 Prozent.
Das Essener RWI sieht die Perspektiven der russischen Wirtschaft weiterhin besonders skeptisch. Es hob seine BIP-Prognose für 2023 zwar um 0,8 Prozentpunkte an. Nach Einschätzung des RWI wird der BIP-Rückgang in diesem Jahr damit aber kaum schwächer sein (- 2,0 Prozent) als 2022 (- 2,1 Prozent).
RWI: 2023 kann Russlands Wirtschaft erneut um rund 2 Prozent schrumpfen
Das Essener RWI geht als einziges Institut in seiner „Sommerprognose“ ausführlich auf die Konjunkturentwicklung in Russland ein. Es meint, „alles in allem könnte die Wirtschaftsleistung im laufenden Jahr einen weiteren Rückgang um 2,0% verzeichnen und im nächsten Jahr um 1,0% zunehmen“. Zur Begründung verweist es u.a. auf folgende Entwicklungen:
Im ersten Quartal dieses Jahres setzte sich in Russland der Rückgang der Wirtschaftsleistung im Vorjahresvergleich fort (- 1,9 Prozent).
Das Volumen der Einzelhandelsumsätze sank infolge schrumpfender Realeinkommen um 7,3%. Das Volumen der Neuwagenverkäufe betrug weniger als die Hälfte des Niveaus vor der Invasion.
Ein kräftiger Anstieg der Anlageinvestitionen milderte den Rückgang. Dieser war größtenteils auf öffentlich geförderte Investitionsprojekte zurückzuführen.
Höhere Rüstungsausgaben und die Produktion von Militärgütern begrenzten den BIP-Rückgang zusätzlich. Allerdings ließen die Aufwendungen für den Krieg und die Konjunkturimpulse die Staatsausgaben in die Höhe schnellen.
Die Wirkung der westlichen Sanktionen werde immer stärker spürbar
Trotz der Umgehung von Sanktionen und einer starken Zunahme des russischen Handels mit Ländern wie China, Indien oder der Türkei werden die Wirkungen der gegen Russland verhängten westlichen Sanktionen laut den Beobachtungen des RWI seit Anfang 2023 immer stärker spürbar, zum Beispiel im Außenhandel und im Staatshaushalt. So würden Russlands Exporterlöse sinken während die Ausgaben für Importe stiegen. Die Embargos auf Öl und Ölprodukte sowie der Ölpreisdeckel und der Rückgang der Gasexporte haben, so das RWI, die Staatseinnahmen Russlands aus Gas- und Erdölgeschäften in den ersten Monaten dieses Jahres deutlich verringert. Die staatlichen Mittel zur Unterstützung der Wirtschaft würden so begrenzt.
Die längerfristigen Wachstumsaussichten Russlands sind beeinträchtigt
Das RWI verweist darauf, dass der russischen Wirtschaft wegen der Mobilisierung für die Streitkräfte und der Abwanderung „in größerem Ausmaß“ Arbeitskräfte fehlen. Insbesondere die langfristigen wirtschaftlichen Folgen des „Braindrains“ dürften nach Einschätzung des RWI beträchtlich sein. Die angespannte Lage am Arbeitsmarkt – im April sank die Arbeitslosenquote auf 3,3 Prozent – steigere den Druck, die Löhne weiter zu erhöhen. Zusätzlich beeinträchtige das westliche Exportverbot für Hochtechnologie die längerfristigen Wachstumsaussichten Russlands.
Die Inflation zieht in der zweiten Jahreshälfte wieder an
Das RWI nimmt auch zur Entwicklung der Verbraucherpreise in Russland Stellung. Eine Zunahme des Angebots an Konsumgütern und „der Basiseffekt“ hätten zu einer Verlangsamung des Preisanstiegs im Vorjahresvergleich geführt. Durch die Abschwächung der jährlichen Inflationsrate auf 2,3 Prozent im April und ein starkes Wachstum der Löhne sei der Rückgang der Realeinkommen zuletzt etwas gedämpft worden.
Allerdings dürften der nachlassende Basiseffekt, ein schwacher Rubel,
eine starke Verbrauchernachfrage sowie der angespannte Arbeitsmarkt die Inflation
in der zweiten Jahreshälfte wieder anziehen lassen.
Das RWI erwartet, dass der Anstieg der Verbraucherpreise im Jahresvergleich 2023/2022 noch 5,5 Prozent erreicht (2022/2021: + 13,8 Prozent) und im nächsten Jahr auf 4,7 Prozent sinkt.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
Russland: Weitere Rezession oder Wachstum der Wirtschaft? 12.06.23
Russische Analysten auf der Spur der IWF-Wachstumsprognosen, 06.06.23
Die Russland-Sanktionen werden verschärft – Wie wirkten sie bisher? 30.05.23
Russische Wirtschaft: EU, UN und EBRD folgen Wachstumsprognosen nicht, 22.05.23
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft: Cathrina Claas Mühlhäuser ist neue Vorsitzende
- Susan Stewart; SWP aktuell: Die deutsche Russlandpolitik festigen.
- Isabel Hilton: Germany’s great escape von russischer Energie
- ZDF: Sanktionen gegen Russland. Im Alltag sind die Auswirkungen wenig spürbar.
- SZ, Reuters: Exporte in Russlands Nachbarstaaten mehr als verdoppelt