Russland stürzt 2022 in eine tiefe Rezession

Konjunkturprognose Russland: Produktionseinbruch um 10 Prozent erwartet

Die Schätzungen des diesjährigen Rückganges des russischen Bruttoinlandsprodukts nähern sich der 10 Prozent-Marke. Unter anderem rechnen jetzt auch der deutsche „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, die Londoner Entwicklungsbank EBRD und BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, mit einer Abnahme der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 10 Prozent.

Der kräftige Rückgang des Einkaufsmanager-Indexes für das Verarbeitende Gewerbe signalisiert den im März begonnenen Einbruch der Produktion. Die in der letzten Woche vom russischen Statistikamt Rosstat veröffentlichten Konjunkturdaten für Februar zeigten nur eine leichte Abschwächung der Produktion.

Einkaufsmanager-Index weit unter die „Wachstumsschwelle“ gesunken

Der von IHS Markit für S&P Global durch Befragungen von Unternehmen ermittelte Einkaufsmanager-Index (PMI) sank von 48,6 Punkten im Februar auf 44,1 Punkte im März. Der stark beschleunigte Rückgang unter die „Wachstumsschwelle“ von 50 Punkten signalisiert eine weitere Verschlechterung der Geschäftsentwicklung.

Einkaufsmanager-Index für das Verarbeitende Gewerbe

IHS Markit: S&P Global: Russia Manufacturing PMI; 01.04.2022

Über die Ergebnisse der Umfrage berichtete auch FocusEconomics. Der Abschwung im März spiegelt vor allem einen sich beschleunigenden Rückgang der Produktion im Verarbeitenden Gewerbe. Die schwache Kundennachfrage, insbesondere aus dem Ausland, bewirkte den stärksten Produktionsrückgang seit fast zwei Jahren. Der Auftragsbestand sank im März. Die Lagervorräte wurden erheblich verringert.

Die Einkaufspreise der Unternehmen stiegen so schnell wie nie zuvor. Bei einem schwächeren Rubel-Kurs zogen die Kosten der Lieferanten an. Das veranlasste wiederum die Industrieunternehmen, ihre Verkaufspreise so schnell zu erhöhen wie noch nie seit Beginn der Umfragen im Januar 2003.

Die Einschätzungen der Unternehmen zu den Produktionsaussichten fielen im März zwar auf ein 22-Monats-Tief. Sie blieben jedoch im positiven Bereich.

Die Rezessionserwartungen für 2022 nähern sich der 10 Prozent-Marke

Im Durchschnitt der vom Research-Unternehmen FocusEconomics in seiner jüngsten Wochenumfrage erfassten 30 Prognosen wird in diesem Jahr mit einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Russland um 7,9 Prozent gerechnet („Consensus“). Dabei wird eine Beschleunigung des Anstiegs der Verbraucherpreise auf knapp 20 Prozent im Jahresdurchschnitt 2022 erwartet.

Entwicklung von realem Bruttoinlandsprodukt und Verbraucherpreisen
Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

FocusEconomics: Weekly Update – The war in Ukraine, 01.04.2022

FocusEconomics ermittelte auch, dass Banken und Forschungsinstitute derzeit im Durchschnitt damit rechnen, dass die Anlageinvestitionen der russischen Wirtschaft im Jahr 2022 um 20,6 Prozent sinken werden. 2023 erwarten sie einen weiteren Rückgang um 2,7 Prozent.

Eine Rezession von rund 10 Prozent prognostizierten Ende März unter anderem die Londoner Entwicklungsbank EBRD, die „Economist Intelligence Unit“, der deutsche Sachverständigenrat und BOFIT, das Konjunkturforschungsinstitut der finnischen Zentralbank.

Wachstumsprognosen 2021 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Akademie der Wissenschaften rechnet mit Rückgang um 6 bis 8 Prozent

Viele russische Institute scheuen sich offenbar noch vor der Veröffentlichung negativer Prognosen. Das Institut für Wirtschaftsprognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften (INP RAS) teilte in seiner monatlichen Schätzung zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts Ende März aber mit, es rechne für 2022 mit einer Rezession um 6 bis 8 Prozent. Direktor Alexander Shirov hatte diese Schätzung bereits Mitte März in einem Interfax-Artikel veröffentlicht.

Als Ursachen der Rezession nennt das INP in seiner neuen BIP-Schätzung:

  • Die Ende Februar eingetretene „scharfe Verschlechterung der internationalen Lage der weitreichende anti-russische Sanktionen folgten.“
  • Die Abwertung des Rubel
  • Die Straffung der Geldpolitik
  • Die Abnahme der Produktion einer Reihe von Branchen infolge der Aufgabe der Geschäftstätigkeit ausländischer Unternehmen in Russland, aufgrund der Anordnung von Ausfuhrbeschränkungen und wegen fehlender Zulieferungen aus dem Ausland.

Als größte Risiken für Russlands Wirtschaft in den nächsten Monaten sieht das INP:

  • Einen scharfen Rückgang der Realeinkommen angesichts einer Inflationsrate von rund 20 Prozent bei einem Anstieg der Nominal-Löhne um nicht mehr als 10 Prozent.
  • Eine Abnahme der Nachfrage nach Arbeitskräften aufgrund der vorläufigen oder endgültigen Aufgabe der Geschäftstätigkeit von Unternehmen
  • Ein Sinken der Investitionen (primär von ausländischen Unternehmen)
  • Die Einschränkung der Möglichkeiten für eine aktive Konjunkturpolitik, weil auf einen Teil der russischen Devisenreserven nicht zugegriffen werden kann.

BOFIT-Schätzungen für Verbrauch, Investitionen und Außenhandel

Das finnische Forschungsinstitut BOFIT schätzt den diesjährigen Rückgang des BIP auf rund 10 Prozent. Es wagte auch Schätzungen, wie sich dabei der private und öffentliche Verbrauch, die Anlageinvestitionen sowie die Aus- und Einfuhren entwickeln dürften.

Reales Bruttoinlandsprodukt 2018 bis 2022,
Verbrauch, Investitionen, Exporte und Importe;
Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent; 2022 Prognose

BOFIT, Bank of Finland: BOFIT Forecast for Russia 2022-2023; 28.03.2022

BOFIT zeigt die voraussichtliche Abnahme des BIP, wichtiger Nachfragekomponenten und der Importe im Jahr 2022 in der folgenden Abbildung:

Reales Bruttoinlandsprodukt,
Entwicklung von Importen und Nachfragekomponenten; 2011=100

Russian GDP, imports and the main demand components
are set to fall this year to levels not seen for several years

BOFIT, Bank of Finland: BOFIT Weekly; 01.04.2022

Verbrauch und Investitionen sinken noch deutlich stärker als das BIP

Das Bruttoinlandsprodukt (GDP, schwarze Linie) wird bei einem Rückgang um rund 10 Prozent im Jahr 2022 nur noch rund 3 Prozent höher sein als im Jahr 2011.

Der private Verbrauch (dunkelrote Linie) sinkt noch merklich stärker als das BIP. Er fällt auf das Niveau des Jahres 2011 zurück. Hintergrund dafür sind die sinkende Beschäftigung und niedrigere Einkommen. Wegen der schlechten Lage der Unternehmen nimmt die Beschäftigung ab und die Reallöhne sinken. Damit gehen auch die realen Haushaltseinkommen bei einer hohen Inflation von mindestens 20 Prozent zurück.

Der öffentliche Verbrauch (hellrote Linie) sinkt etwas schwächer als der private Verbrauch. Er wird 2022 voraussichtlich noch etwas niedriger sein als 2011. Insgesamt nehmen privater und öffentlicher Verbrauch 2022 um rund 14 Prozent ab.

Die gesamten Anlageinvestitionen (grüne Linie) werden laut BOFIT bei einem Rückgang um rund 20 Prozent um mindestens 15 Jahre zurückgeworfen. Dabei dürften 2022 die Investitionen ausländischer Unternehmen auf ein Minimum beschränkt bleiben (fast 15 Prozent aller Investitionen in Russland stellen Unternehmen mit ausländischer Beteiligung). Die öffentlichen Investitionen könnten nach Einschätzung von BOFIT zwar steigen. Davon kann aber nur eine geringe expansive Wirkung auf das BIP ausgehen. Der voraussichtliche kräftige Abbau der Lager dürfte den Rückgang der Importe beschleunigen und die gesamtwirtschaftliche Produktion merklich dämpfen.

Außenwirtschaft: Die Einfuhren halbieren sich, die Ausfuhren sinken wenig

Den weitaus stärksten Rückgang gegenüber dem Vorjahr wird es 2022 nach Einschätzung von BOFIT infolge der Sanktionen bei den Einfuhren geben. Sie dürften sich in diesem Jahr etwa halbieren (untere braune Linie). Damit sinken sie laut BOFIT auf das Mitte der 2000er Jahre erreichte Niveau. Als Gründe für den Einbruch der Importe nennt BOFIT nicht nur den Rückgang der Produktion und die Abwertung des Rubels, die die Einfuhren verteuert. Hinzu kämen Exportverbote durch ausländische Regierungen. Viele ausländische Unternehmen hätten zudem entschieden, ihre Ausfuhren nach Russland freiwillig einzustellen.

Russlands Exporte (blaue Linie) werden nach Einschätzung von BOFIT durch das Wachstum der Weltwirtschaft gestützt werden. Sie dürften nur um rund 2 Prozent siinken. Allerdings wolle die EU die Energieimporte aus Russland reduzieren. Russlands Ölexporte in andere Länder könnten zwar etwas zunehmen, aber die Gasexporte seien größtenteils an Pipelines in Richtung EU gebunden.

Bis Februar schwächte sich die Konjunktur nur wenig ab

Laut Schätzung des Forschungsinstituts der Vnesheconombank ist die gesamtwirtschaftliche Produktion Russlands im Februar 2022 – wie im Januar – gegenüber dem Vormonat saisonbereinigt nur geringfügig um 0,2 Prozent gesunken.

Gedämpft wurde die Produktion von der Entwicklung im Verarbeitenden Gewerbe, im Großhandel, im Dienstleistungsbereich und im Transportsektor. Wachstumsimpulse kamen vom Bereich „Bergbau und Förderung von Rohstoffen“, vom Einzelhandel und der Bauwirtschaft.

Im Vergleich zum Vorjahresmonat ist die gesamtwirtschaftliche Produktion im Februar 2022 noch um 3,0 Prozent gestiegen (Januar 2022/Januar 2021: + 4,3 Prozent).

Die folgende Abbildung des VEB-Instituts zeigt die Entwicklung der realen Umsätze im Einzelhandel (schwarze Linie) und im Dienstleistungsbereich (grüne Line) bis einschließlich Februar 2022.

Die obere graue Linie zeigt die Reallohnentwicklung bis Januar 2022. Gegenüber dem Vormonat nahmen die Reallöhne im Januar um 3,5 Prozent ab. Sie waren damit noch 1,9 Prozent höher als vor einem Jahr im Januar 2021.

Reallöhne und
reale Umsätze im Einzelhandel und im Dienstleistungsbereich
Jan. 2014 = 100

Vnesheconombank: World Economy and Markets Review; 01.04.2022

Der reale Einzelhandelsumsatz (schwarze Linie) stieg im Februar gegenüber Januar saisonbereinigt um 1,2 Prozent. Hauptursache für den Anstieg war laut VEB Institut die Zunahme der Umsätze außerhalb des Lebensmittelbereichs am Monatsende. Der Umsatz war damit 5,9 Prozent höher als vor einem Jahr.

Der reale Umsatz im Dienstleistungsbereich (grüne Line) sank hingegen im Februar gegenüber Januar um 0,7 Prozent. Sein Vorjahresniveau übertraf er aber noch um 10,1 Prozent.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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