Düstere Zeiten: Russlands Wirtschaft unter Sanktionen

Wie entwickelt sich Russlands Wirtschaft unter den Sanktionen?

Russischsprachige Ökonomen fordern ein Ende der Kampfhandlungen und prognostizieren düstere Zeiten für die Konjunktur. Wie verändern die Sanktionen Russlands Wirtschaft?

Russischsprachige Ökonomen haben einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie ein sofortiges Ende der russischen Kampfhandlungen in der Ukraine fordern. Sie erwarten, dass diese „äußerst negative Folgen“ für die russische Wirtschaft haben werden. Sie rechnen mit steigenden Preisen, sinkenden Einkommen und Investitionen, einer Entwertung der Ersparnisse, weiteren Kürzungen von Sozialausgaben und einem sich beschleunigenden Verlust von Humankapital durch Auswanderung. Der Brief, der auch von bekannten in Russland arbeitenden Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, trägt inzwischen über 300 Unterschriften.

Zur Stabilisierung der Finanzmärkte erhöhte die russische Zentralbank am 28.02. ihren Leitzins von 9,5 Prozent auf 20 Prozent. Wie stark wird sich der Rubelkurs trotzdem abschwächen und den ohnehin hohen Anstieg der Verbraucherpreise weiter beschleunigen? Wie wird sich der Ölpreis entwickeln? Bricht die gesamtwirtschaftliche Produktion tief ein?

Einige Rating-Agenturen und Banken, darunter die Frankfurter DekaBank, wagten bereits erste quantifizierte Schätzungen zu den Auswirkungen der „militärischen Sonderoperation“ auf die russische Konjunktur. Die Schätzungen differieren verständlicherweise beträchtlich.

Die politische Entwicklung hat auch das Angebot an Informationen zur Entwicklung der russischen Wirtschaft verschlechtert. Etliche Research-Abteilungen von (zum Teil sanktionierten) Banken veröffentlichten in der letzten Woche im Internet keine neuen Berichte oder waren dort nicht erreichbar. Das Forschungsinstitut der Vnesheconombank veröffentlichte am Samstag aber seinen Wochenbericht mit Informationen zur aktuellen Entwicklung von Produktion und Preisen.

Von diesem Stand geht Russland in die nächste Rezession

Nach ersten Berechnungen des VEB-Instituts sank die gesamtwirtschaftliche Produktion im Januar gegenüber dem Vormonat saisonbereinigt um 0,2 Prozent. Das Niveau des Vorjahresmonats wurde wie im Dezember um 4,4 Prozent übertroffen.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts
Jan. 2014=100

Vnesheconombank Institute: „World Economy and Markets Review“; 05.03.2022

Die Industrieproduktion war dabei im Januar laut VEB Institut saisonbereinigt 0,8 Prozent niedriger als im Dezember. Auch in der Bauwirtschaft und der Landwirtschaft schwächte sich die Produktion im Januar ab. Zuwächse gab es im Groß- und Einzelhandel, im Dienstleistungsbereich und beim Warentransport.

Der Anstieg der Verbraucherpreise hat sich zuletzt weiter beschleunigt. In der Woche bis zum 25. Februar erreichte die jährliche Inflationsrate 9,4 Prozent. In der Vorwoche waren die Preise 8,8 Prozent höher als vor einem Jahr.

Auf eine deutliche Konjunkturabschwächung deutete auch die Entwicklung der im Februar durch Umfragen bei Unternehmen ermittelten IHS Markit Einkaufsmanager-Indizes nicht hin. Der PMI für das Verarbeitende Gewerbe sank im Februar mit 48,6 Indexpunkten zwar etwas unter die „Wachstumsschwelle“ von 50 Punkten. Da der Einkaufsmanagerindex fur den Dienstleistungsbereich aber auf 52,1 Punkte stieg, verbesserte sich auch der kombinierte Index. Er erhöhte sich von 50,3 auf 50,8 Punkte.

IHS Markit meinte zu den Ergebnissen der Unternehmensbefragung. die Firmen hätten sich zwar im Hinblick auf die weiteren Geschäftsaussichten im Februar noch sehr optimistisch gezeigt. Es sei jedoch zu erwarten, dass die gegen die russische Wirtschaft verhängten Sanktionen ihre Wachstumsmöglichkeiten auf breiter Front behindern werden.

Igor Yurgens: In Russland sind viele zu Opfern beim Lebensstandard bereit

Der Stellvertretende Vorsitzende des russischen Industriellenverbandes, Igor Yurgens, meinte in einem Deutschlandfunk-Interview am 03. März, angesichts des derzeitigen hohen Niveaus der Öl- und Gaspreise denke er nicht, dass jetzt das Ende der russischen Wirtschaft gekommen sei wie von US-Präsident Biden behauptet werde. Die „finanziellen Konsequenzen“ der Geschehnisse können, so Yurgens, übersehen werden. Die Folgen des durch die Sanktionen verursachten „Shutdowns“ bei der Lieferung von Technologien seien aber schwer zu überschauen.

Yurgens räumte auf eine Frage hin ein, dass sich Russland diese kriegerischen Auseinandersetzungen nicht „leisten“ könne, wenn der erreichte Lebensstandard gehalten werden solle. Viele Menschen in Russland seien jedoch zu Opfern beim Lebensstandard bereit.

Die Meinung der Bevölkerung zu den Ereignissen sei gespalten, vor allem in der „eher gebildeten Schicht“. Er schätze, dass rund 75 Prozent der Bevölkerung zur „schweigenden Mehrheit“ gehören, die sagen würde: „Wir verteidigen unsere Heimat“. Rund 25 Prozent der Bevölkerung sei jedoch total gegen das, was passiere. Yurgens merkt an, dass in 51 Städten Protest-Demonstrationen stattgefunden hätten.

Wirtschaftspolitisch erwartet der Stellvertretende Vorsitzende des Industriellenverbandes offenbar verstärkte Eingriffe des Staates in die Wirtschaft. Er weist darauf hin, dass Arbeitgeber und Investoren jetzt sogar in den am meisten am Markt orientierten Bereichen der russischen Wirtschaft begonnen hätten, wieder von „staatlicher Planwirtschaft“ zu sprechen.

Globalpolitisch rechnet Yurgens damit, dass jetzt eine „weltweite Teilung“ unausweichlich ist. Es werde eine von Russland und China geführte Gruppe von Staaten geben (u.a. mit dem Iran und Venezuela). Wenn das passiere, werde es zum „großen Showdown zwischen Demokratien und Autokratien“ kommen. Die Rückkehr des „Kalten Krieges“ sei eine vollendete Tatsache.

Was wurde bisher konjunkturell erwartet? Prognosen der HSE-Umfrage

Eine vom 14. bis 21. Februar durchgeführte Konjunktur-Umfrage der Moskauer „Higher School of Economics“ bei 26 russischen und ausländischen Banken und Forschungsinstituten ergab, dass für 2022 im Durchschnitt ein Rückgang des Wirtschaftswachstums auf 2,4 Prozent erwartet wurde. Damit hätte es sich im Vergleich mit dem Anstieg um 4,7 Prozent im letzten Jahr fast halbiert.

Hinsichtlich der Inflationsentwicklung hielten die Befragten bis zum Jahresende 2022 einen Rückgang des Anstiegs der Verbraucherpreise auf 5,6 Prozent für wahrscheinlich. Der Leitzins der Zentralbank werde dabei im Jahresdurchschnitt bei 9,08 Prozent liegen.

Konsensprognosen für 2022-2028
(HSE-Umfrage vom 14. Bis 21. Februar 2022)

Higher School of Economics: Consensus Forecast; 22.02.2022

Banken und Institute gingen in der HSE-Umfrage Mitte Februar noch davon aus, dass der Wechselkurs am Jahresende 74,8 Rubel je US-Dollar betragen werde. Laut Trading Economics fiel der Rubel am 04. März jedoch auf ein neues Rekordtief (118 Rubel/US-Dollar).

Der Urals-Ölpreis stieg laut Neste Oil im gleitenden 5 Tages-Durchschnitt am 04. März auf rund 94 Dollar/Barrel (Brent: rund 113 Dollar/Barrel). In der HSE-Umfrage wurde angenommen, dass der Urals-Ölpreis im Jahresdurchschnitt 2022  nur 77,1 Dollar/Barrel erreicht (2021: rund 69 Dollar/Barrel).

Weitreichende Sanktionen gegenüber Russland beschlossen

Die DekaBank zählt in ihrem am Freitag veröffentlichten Russland-Bericht in den „Emerging Markets Trends“ einige der bisher gegenüber Russland verhängten Sanktionen auf:

  • Persönliche Sanktionen gegen die russische Führungs- und Wirtschaftselite inklusive Präsident Putin,
  • Exportverbote im Technologiebereich,
  • Sperrung des EU- und US-Luftraums für russische Fluggesellschaften
  • Sanktionen gegen einige der großen russischen Finanzinstitute, mit denen ihnen der Zugang zu Hartwährungs-Transaktionen und zum Zahlungsnachrichtensystem SWIFT verwehrt wird.

Ständig aktualisierte Informationen zu den Sanktionen bieten vor allem der Ost-Ausschuss, die AHK Russland, die GTAI sowie die Wirtschaftskammer Österreich (PDF-Sanktionsbericht).

Russische Währungsreserven stiegen auf Rekordstand

In einer Mitte Februar veröffentlichten Präsentation für Investoren zum russischen Finanzsektor wies die russische Zentralbank als „Garanten finanzieller Stabilität“ noch auf ihre hohen Währungsreserven und die niedrige Auslandsverschuldung Russlands hin.

Seit dem Frühjahr 2015 sind Russlands Währungsreserven fast ständig erhöht worden. Im September 2021 erreichten sie laut der folgenden Abbildung 614,1 Milliarden US-Dollar (blaue Linie). Am Jahresende 2021 betrugen sie rund 630 Milliarden US-Dollar (siehe BOFIT Weekly und Trading Economics). Die russische Zentralbank teilte am 03. März laut Reuters mit, sie werde in ihren Berichten in den nächsten drei Monaten ihre Gold- und Devisenreserven mit 643,2 Milliarden US-Dollar angeben.

Die Auslandsverschuldung Russlands betrug 2020 in Relation zum Bruttoinlandsprodukt rund 33 Prozent. Die Währungsreserven erreichten 2020 rund 41 Prozent des BIP.

Zentralbank: „Russian Financial Sector“; PDF; 16.02.2022

DekaBank: Zentralbank kann über die Hälfte der Reserven nicht nutzen

Wegen der westlichen Sanktionen kann die russische Zentralbank nach Angaben der DekaBank aber „über 50 Prozent“ ihrer internationalen Währungsreserven nicht nutzen, um die Auswirkungen der schnell eingesetzten Flucht westlicher Portfolio- und Direktinvestoren aus Russland abzufedern. In der folgenden Abbildung der DekaBank zeigen die grau schraffierten Kreissegmente die durch die Sanktionen blockierten Reserven in Euro, US-Dollar und britischem Pfund (Anteil insgesamt: rund 55 Prozent).

Daria Orlova; DekaBank: Russland: Nach Ukraine-Invasion innerhalb weniger Tage ein Default-Kandidat; in: Emerging Markets Trends; 04.03.2022

Russland am Rand eines „Defaults“: Baldige Zahlungsausfälle zu erwarten

Die in Gold oder chinesischen Renminbi angelegten Anteile der Reserven können, so DekaBank-Analystin Daria Orlova, aufgrund von Transaktionsverboten nicht frei in Hartwährungen umgetauscht werden. Sie sieht die aktuelle Lage so:

„Die russische Zentralbank hat ihre massiven Devisenmarktinterventionen eingestellt. Russland versucht nun, mit Kapitalverkehrskontrollen und einer Not-Anhebung des Leitzinses (von 9,5% auf 20%) den Bank-Run zu stoppen und das Bankensystem vor dem Zusammenbruch zu bewahren. …

Die Zentralbank hat den Wertpapierbrokern die Abwicklung des Verkaufs russischer Wertpapiere für ausländische Investoren verboten, auch die Durchleitung der Coupon- und Dividendenzahlungen ans Ausland soll gestoppt werden… .

Somit stehen Russland und zahlreiche seiner Finanzinstitute und Unternehmen innerhalb weniger Tage am Rande eines (technischen) Defaults, selbst diejenigen, die wie viele Rohstoffunternehmen über ausreichend Mittel in Devisen verfügen.“

Auch der IWF hält die Finanz-Sanktionen für sehr wirksam

Ähnlich konkrete Warnungen finden sich in einer am 05. März veröffentlichten Stellungnahme des IWF-Stabes zu den wirtschaftlichen Folgen der militärischen „Spezial-Operation“ in der Ukraine zwar nicht.

Auch der IWF-Stab stellt jedoch fest, dass die Möglichkeiten der russischen Zentralbank, ihre internationalen Währungsreserven zur Stützung des Rubels und des russischen Finanzsystems zu nutzen, durch die gegen sie verhängten Sanktionen stark eingeengt sind. Die internationalen Sanktionen gegenüber dem russischen Bankensystem und der Ausschluss einer Reihe von Banken vom SWIFT-System haben nach Einschätzung des IWF die Fähigkeiten Russlands, Zahlungen für seine Ausfuhren zu erhalten, für seine Einfuhren Zahlungen zu leisten und sich an grenzüberschreitenden finanziellen Transaktionen zu beteiligen, in signifikantem Ausmaß unterbrochen.

Nach Meinung des IWF ist es zwar noch zu früh, die volle Wirkung dieser Sanktionen abschätzen zu können. Man habe jedoch bereits einen scharfen Rückgang der Preise von Finanzanlagen sowie des Wechselkurses der russischen Währung feststellen können.

Rating-Agenturen stufen Kreditwürdigkeit Russlands tief ab

Die externen Ratingagenturen, so die DekaBank, haben ihre Einschätzungen der Bonität Russlands bereits „deutlich in den spekulativen Bereich“ gesenkt (Fitch: B; Moody’s: B3; S&P: CCC-; siehe Forbes.ru).

Die Kapitalmärkte seien den Ratingagenturen jedoch noch vorausgeeilt. Sie kalkulierten bereits einen Zahlungsausfall des russischen Staates ein. Nach Einschätzung der DekaBank können die neu eingeführten Kapitalverkehrskontrollen sowie die Sanktionen der USA gegenüber dem russischen Finanzministerium bereits „in den nächsten Wochen“ eine Reihe von Defaults im Banken- und Unternehmensbereich sowie des russischen Staates auslösen.

IWF: Sehr ernste wirtschaftliche Konsequenzen der militärischen Gewalt

Der IWF stuft die wirtschaftlichen Folgen der Kampfhandlungen in der Ukraine in seiner Stellungnahme auch als „sehr ernst“ ein. Allerdings bestehe aktuell noch eine sehr hohe Unsicherheit über die weitere Entwicklung.

Der IWF verweist zum einen darauf, dass die gegenüber Russland verhängten Sanktionen auch für die Entwicklung der Weltwirtschaft und der Finanzmärkte substanzielle Folgen haben werden. Außerdem seien die Energie- und Rohstoffpreise gestiegen und erhöhten den Inflationsdruck, der bereits von der Unterbrechung von Lieferketten und der Erholung der Produktion von der Pandemie ausgehe.

In vielen Ländern, so der IWF, werde sich die Krise als „nachteiliger Schock“ auswirken und zwar sowohl im Hinblick auf die Entwicklung der Preise als auch der Produktion. Schätzungen, wie stark sich die Inflation beschleunigt und die Produktion sinken dürfte, bietet die Stellungnahme des IWF jedoch nicht.

DekaBank: Russlands BIP sinkt 2022 um 5,5 Prozent

Nach Einschätzung der DekaBank werden die Sanktionen des Westens in Russland eine „schwere Rezession“ und einen „erheblichen Anstieg der Inflationsrate“ auslösen, deren Umfang allerdings noch nicht vollends beziffert werden könne.

Der folgenden Tabelle aus dem DekaBank-Bericht lässt sich jedoch entnehmen, dass die Bank jetzt für 2022 mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 5,5 Prozent und einem Anstieg der jahresdurchschnittlichen Inflationsrate auf 22,2 Prozent rechnet.

2023 kann sich der Preisanstieg laut DekaBank sogar noch weiter auf 30 Prozent beschleuigen. Die Rezession werde im nächsten Jahr anhalten, sich aber deutlich abschwächen. Das BIP werde 2023 noch um 1,5 Prozent sinken.

Trotz der 2022 zu erwartenden tiefen Rezession wird die russische Regierung nach Einschätzung der DekaBank das Defizit im Staatshaushalt in diesem Jahr auf 0,9 Prozent des BIP begrenzen können.

Daria Orlova; DekaBank: Russland: Nach Ukraine-Invasion innerhalb weniger Tage ein Default-Kandidat; in: Emerging Markets Trends; 04.03.2022

Russland dürfte längere Zeit von der Weltwirtschaft ausgeschlossen bleiben

DekaBank-Analystin Daria Orlova meint, dass angesichts der anhaltenden militärischen Angriffe Russlands in der Ukraine eine Ausweitung der Sanktionen durch ein Verbot von Energieexporten nicht ausgeschlossen werden könne.

Sie geht davon aus, dass Russland für längere Zeit de facto von der Weltwirtschaft ausgeschlossen bleiben dürfte. Die Erfahrung zeige, dass Sanktionen deutlich schneller verschärft als gelockert würden.

Veranstaltungshinweis:

Das Brüsseler Forschungsinstitut Bruegel lädt ein zu einer Online-Diskussion zum Thema „War in Ukraine: Reflections on the Economic Consequences“ am 10. März um 10 Uhr. Mit Sergei Guriev sollen die Folgen des Krieges in der Ukraine für Russland und die Weltwirtschaft diskutiert werden.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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Deacons docs / Shutterstock.com