Neue Eiszeit und eine Welt in Trümmern – Teil III: Der Friedhof der Dörfer

Besuch der weißrussischen Gedenkstätte Chatyn, 13.10.1988

Über die unfassbar grausamen Verbrechen der Deutschen auf sowjetischem Boden wissen viele gar nicht Bescheid. In Weißrussland haben SS-Einheiten tausende Dörfer vernichtet – oft mitsamt den Einwohnern. Die Gedenkstätte Chatyn soll daran erinnern und mahnen. Unser Autor hat den „Friedhof der Dörfer“ 1988 besucht und dabei ergreifende Szenen der Versöhnung erlebt.

von Leo Ensel

Vor über dreißig Jahren, zu Perestroikazeiten, nahm ich im Herbst 1988 an einer vom Friedensnetz des CVJM organisierten Friedens- und Versöhnungsreise in die Sowjetunion teil, die uns unter anderem nach Minsk, Moskau und Leningrad führte. Wir wollten mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören, welche Verbrechen Deutsche während des II. Weltkrieges den Menschen in der Sowjetunion angetan hatten. In Weißrussland besuchten wir die Gedenkstätte Chatyn.[1] Hier auf der Strecke zwischen Minsk und Witebsk gibt es einen Friedhof, der auf der Welt wohl einmalig ist: Den „Friedhof der Dörfer“. Ein Friedhof für 186 belarussische Dörfer, die während des Antipartisanenkampfes 1943 von den Deutschen abgefackelt und später nie wieder aufgebaut wurden. Nach diesem Besuch, der mich tief beeindruckte, schrieb ich mir einige Monate später den folgenden Text.

Chatyn, die Gedenkstätte für Hunderte von zerstörten weißrussischen Dörfern, für 260 Lager auf dem Gebiet von Belarus und für zweieinhalb Millionen Menschen aus Weißrussland, die während des II. Weltkrieges Opfer der Deutschen wurden.

Erst konkrete Beispiele machen das Grauen der Zahlen spürbar

Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen – das waren Orte, die schon immer für mich mit den Greueltaten der Nazis verbunden waren. Aber von Chatyn hatte ich bis kurz vor unserer Reise in die Sowjetunion noch nie etwas gehört. Auch dass es so viele Lager in der UdSSR gegeben hatte, war mir neu. Ja, dass die russische Bevölkerung 20 Millionen Opfer im Zweiten Weltkrieg zu beklagen hatte[2], das hatte ich schon gewusst. Aber was sind schon Zahlen! Erst konkrete Beispiele von Menschen aus Fleisch und Blut helfen der trägen Phantasie auf die Sprünge.

Der Schmied Josef Kaminski überlebte als einziger. Die übrigen Dorfbewohner wurden verbrannt. Foto: Wikimedia Commons (CC 3.0)

Chatyn ist so ein Beispiel. Am 22. Mai 1943 wurden hier alle 150 Einwohner des Dorfes vom SS-Sonderkommando Dirlewanger aus ihren Häusern in die Dorfscheune getrieben. Kurze Zeit später brannte bereits die Scheune lichterloh, wie auch alle übrigen Häuser des Dorfes. Bis auf den Schmied Josef Kaminski verbrannten alle Einwohner lebendigen Leibes, darunter 75 Kinder. Chatyn ist nur eines von 186 weißrussischen Dörfern, die von den Deutschen zerstört und niemals wieder aufgebaut wurden. Damit aber nicht genug. 628 Dörfer Weißrusslands wurden mit allen Einwohnern vernichtet, zudem 4.667 Dörfer mit einem Teil ihrer Einwohner.

Jede Zahl, jeder Ort, jeder Name ein Schrei

Man sieht unserer Minsker Reiseleiterin Ludmila an, dass auch für sie der Gang durch Chatyn jedesmal wieder zu einer Belastung wird. Zeitweise muss sie sich sehr zusammennehmen. Wir gehen an der Statue vorbei, die Josef Kaminski zeigt. Mit weit aufgerissenen Augen und wallendem Haar trägt er die Leiche seines Sohnes dem Betrachter entgegen. Dahinter die Schornsteine und Grundmauern der 26 Höfe von Chatyn. Das ist alles, was von den Häusern übrig geblieben ist. In Beton gegossen stehen sie noch heute. In jedem Schornstein hängt eine Glocke und jede halbe Minute weht ein Läuten über das Gelände. In jedem Schornstein sind auf einer Tafel die Namen der Bewohner des Hauses und das Alter der Kinder angegeben. Auf dem Grab der Menschen von Chatyn, eingemeißelt in  eine weiße Marmorplatte, stehen die Worte: „Ihr lieben Mitmenschen, denkt daran: Wir haben das Leben, unsere Heimat und Euch geliebt. Lebendigen Leibes sind wir verbrannt. Wir bitten Euch alle: Mögen Euch Eure Trauer und Leid Kraft und Mut geben, damit ihr für immer Frieden auf Erden stiftet. Damit nie und nimmer das Leben im Sturm des Feuers stirbt.“

Dann der Friedhof der Dörfer. 186 Gräber, für jedes Dorf ein Grab. Auf den Gräbern Urnen, in denen sich Erde aus dem jeweiligen Dorf befindet. 260 Lager gab es allein in Weißrussland.[3] In den Nischen der langen Gedenkmauer stehen auf Tafeln Namen und Zahlen. 40.000 Tote, 80.000 Tote, 200.000 Tote. Insgesamt verloren im Zweiten Weltkrieg 2.3000.000 Belarussen ihr Leben. Jeder vierte Weißrusse fehlt. An dem abschließenden Mahnmal stehen im Karree drei Birken. Wo die vierte stehen sollte, brennt zur Erinnerung ein ewiges Feuer.

Bei dem Gang entlang der Gedenkmauer von Nische zu Nische, dann von Grab zu Grab über den Friedhof der Dörfer fühle ich mich sehr alleine. Nie ist mir so deutlich geworden, wie wenig wir von den deutschen Verbrechen am russischen Volk wissen, nie war mir so bewußt, dass wir uns aus unserer historischen Schuld nicht herausstehlen können. Jede Zahl, jeder Ort, jeder Name ein Schrei. Was werden die vielen russischen Menschen empfinden, die ebenfalls durch diese Gedenkstätte gehen?

Nie zuvor habe ich so stark erlebt, wie gemeinsames Trauern verbindet und befreit

An der Stelle, wo die drei Birken stehen und das ewige Feuer brennt, legen wir frische Blumen und eine Friedenstaube nieder, die eine Frau aus unserer Gruppe extra für diese Reise getöpfert hat. Und dann geschieht etwas – fast hätte ich geschrieben: dürfen wir etwas erleben –, auf das wohl unsere ganze Reise hingezielt hatte. Neben uns, ebenfalls am ewigen Feuer, hält sich eine Reisegruppe aus Sibirien auf. Es sind vielleicht 20-30 Frauen und Männer, die meisten von ihnen wohl vierzig bis fünfzig Jahre alt. Ludmila hat eine Idee: „Wollt ihr diesen Menschen nicht etwas sagen?“ Und dann übersetzt sie, was der Sprecher unserer Gruppe den Menschen aus Sibirien mitteilt: „Wir sind eine Reisegruppe des westdeutschen CVJM. Wir sind gekommen, um mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, welche Verbrechen unsere Väter und Großväter am russischen Volk begangen haben. Wir bekennen uns zu dieser historischen Schuld und bitten das russische Volk um Verzeihung.“

Ich weiß nicht, wann ich zuletzt solch aufmerksame Gesichter gesehen habe wie die der Menschen aus Sibirien hier. Als Ludmila fertig ist mit Übersetzen, da hat sich für uns alle etwas verändert: Da weinen die russischen Männer und Frauen herzzerreißend wie Kinder, und wir, wir müssen mitweinen. Auf einmal ist der Damm gebrochen. Nie zuvor habe ich so stark erlebt, wie gemeinsames Trauern tatsächlich verbinden und befreien kann. Die Leiterin der sibirischen Reisegruppe antwortet uns und Ludmila übersetzt wieder: „In Russland gibt es ein Sprichwort: ‚Die Kinder können nichts für das, was ihre Eltern getan haben.‘ Wir sollen nach vorne schauen, die Erde gehört uns allen, so, wie die Sonne für alle Menschen scheint.“

So, wie die Sonne für alle Menschen scheint. Ich weiß auch nicht, warum dieser Satz mich im Innersten so getroffen hat und warum ich auch jetzt, Monate später, beim Schreiben dieser Zeilen mit den Tränen kämpfen muß. Ich weiß es nicht, es war nur ein Gefühl, das man in dieser Stärke sonst fast nie erlebt. Ein Gefühl, dass wir, alle Menschen auf dieser Welt zusammengehören, dass das, was geschehen ist, sich niemals wiederholen darf und dass ich allen Menschen in Ost und West wünsche, eine solche Begegnung erleben zu dürfen. Ich glaube, dann wären Kriege nicht mehr möglich.

Wir verteilen unsere Blätter mit der russischen Übersetzung des Schuldbekenntnisses der evangelischen Kirchen aus beiden deutschen Staaten. Sie werden aufmerksam von den russischen Menschen gelesen. Das gemeinsame Weinen hat uns frei und glücklich gemacht, wir können uns in die Augen sehen, als wären wir schon seit ewigen Zeiten gute Freunde.

Als wir zurück zu unserem Reisebus gehen, stellen wir fest, dass der Bus der sibirischen Gruppe direkt neben uns geparkt ist. Aus dem russischen Bus winken viele freundlich, und dann kommen sie nochmals herausgeeilt, unsere Blätter mit dem Schuldbekenntnis in der Hand. Wir sollen ihnen etwas darauf schreiben, geben sie uns zu verstehen. Etwas hilflos male ich das einzige russische Wort, das ich auf kyrillisch schreiben kann – МИР – und seine deutsche Übersetzung: Frieden. Aber was wir schreiben, ist auch gar nicht so wichtig. Am liebsten würden wir uns alle noch gegenseitig zur Erinnerung etwas schenken.

Was bleibt? Nie zuvor habe ich so stark erfahren, wieviel Trauer, aber auch wieviel Bereitschaft zu Vergebung und herzlicher Freundschaft in den russischen Menschen liegt und wie wichtig es ist, dass wir als Deutsche den ersten Schritt tun. Es ist, als hätten alle Menschen in Russland seit ewigen Zeiten auf diesen Schritt gewartet! Schuld, Trauer und Vergebung – diese Worte sind dann keine Phrasen mehr, wenn sie sich mit Begegnungen zwischen Menschen aus Ost und West verbinden. Dann können aus der gemeinsamen Trauer der Wunsch und die Kraft für eine gemeinsame Zukunft ohne Krieg und Gewalt wachsen.

So, wie die Sonne für alle Menschen scheint.

(Fortsetzung folgt)


[1] Auch ich verwendete damals das Wort „russisch“ noch weitgehend synonym für „sowjetisch“. Dass die tatsächliche Zahl der sowjetischen Opfer mit 26,6 Millionen noch wesentlich höher lag, wurde erst in den Neunziger Jahren bekannt.

[2] Die belarussische Gedenkstätte Chatyn ist nicht zu verwechseln mit der Gedenkstätte Katyn bei Smolensk, wo tausende polnische Offiziere ruhen, die der sowjetische NKWD im Mai 1940 per Genickschuss ermordete.

[3] Die meisten von ihnen waren Lager für sowjetische Kriegsgefangene.


Dieser Text erschien zuerst bei RT Deutsch.

Über diese Serie:
Seit dem Ausbruch der erneuten Spannungen zwischen dem Westen und Russland stehen diejenigen, deren Lebensthema ein gutes Verhältnis zwischen Ost und West ist, vor einem Scherbenhaufen. Unser Autor reflektiert in acht Essays Russlandbilder und Begegnungen mit Menschen im postsowjetischen Raum quer durch ein Leben. Hier geht es zu Teil 1 und 2.  
Titelbild
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