Michail Gorbatschow: Zum Denkmal degradiert, als Warner ignoriert!

Gorbatschow in Deutschland: Zum Denkmal degradiert, als Warner ignoriert!

Die Gorbatschow-Rezeption in Deutschland ist opportunistisch. Zwar wird der ehemalige Präsident der Sowjetunion, der am 2. März 89 Jahre alt wurde, nach wie vor als Held gefeiert – sobald er aber, wie in seinem jüngsten Buch, Kritik an der deutschen Russlandberichterstattung oder gar am Unilateralismus der USA äußert, wird er peinlichst ignoriert.

von Leo Ensel

Mit der Gorbatschow-Rezeption in Deutschland ist das so eine Sache. Einerseits ist er der Held, der den INF-Vertrag und eine weitgehende nukleare Abrüstung erzwang, den Kalten Krieg und das Wettrüsten (wie sich leider jetzt herausstellt: für eine gewisse Zeit) beendete, die Mauer zum Einsturz brachte und die Deutsche Einheit ermöglichte. Als solcher wird er hier gefeiert, mit Preisen überhäuft und zu jeder Jubiläumsveranstaltung als gern gesehener Ehrengast eingeladen.

Michail Sergejewitsch Gorbatschow bei einem Besuch in der Schweiz 1985. Foto: Wikimedia Commons

Aber wehe, wenn Michail Gorbatschow sich mal zu aktuellen Themen äußert und hier Meinungen vertritt, die nicht dem deutschen medialen Mainstream entsprechen oder gar Kritik an der deutschen Russlandberichterstattung äußert! Dann ist schnell Schluss mit lustig, will sagen: mit der Gorbi-Verehrung. Am Allerschlimmsten ist es jedoch, wenn der Präsident der ehemaligen Sowjetunion offen und ungeschminkt den aktuellen militärpolitischen Kurs von USA und NATO kritisiert und dabei Positionen vertritt, die – da hört sich doch alles auf! – sich auch noch in vielen Punkten mit denen des aktuellen Präsidenten Russlands decken.

„Als ob man es mit einer gezielten Kampagne zu tun hat“

Bereits vor zwölf (!) Jahren verfasste Gorbatschow, damals noch Vorsitzender des russischen Lenkungsausschusses des Petersburger Dialoges, einen offenen Brief An meine Freunde, die deutschen Journalisten, in dem er mehr Sachlichkeit und Verständnis (das zweifelhafte Etikett „Russlandversteher“ war damals noch nicht erfunden) in der deutschen Russlandberichterstattung einforderte. Er kritisierte hier nicht nur das was, sondern auch das wie. Unter anderem schrieb er:

„Beim aufmerksamen Blick auf die Flut von Veröffentlichungen in Deutschland wird man schwer den Eindruck wieder los, als ob man es mit einer gezielten Kampagne zu tun hat, als ob alle aus einer einzigen Quelle schöpften, die eine Handvoll Thesen enthält (in Russland gebe es keine Demokratie; die Meinungsfreiheit werde unterdrückt; eine arglistige Energiepolitik werde durchgesetzt; die Machthaber drifteten immer weiter in Richtung Diktatur ab – und so weiter und so fort.) Diese Thesen werden in verschiedenen Tonarten wiederholt. Die Zeitungsmacher scheinen auch keinerlei Interessen jenseits dieser Aussagen zu haben. Mehr noch: diejenigen, die aus der Reihe tanzen, bekommen das zu spüren.“

Wohlgemerkt: Das Zitat stammt vom März 2008, einem Zeitpunkt, als das Wort „Mainstream“ noch nicht Mainstream war. Und mit „denjenigen, die aus der Reihe tanzen und das zu spüren bekommen“, war damals bereits die ehemalige Russlandkorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz gemeint. Dass sich die Situation seitdem verbessert hätte, wird wohl niemand ernsthaft behaupten!

„Das neue Deutschland will sich überall einmischen“

Weiter gehts: Als Gorbatschow im Zuge der Ukrainekrise immer wieder vor einem neuen Krieg in Europa warnte, der „unweigerlich in einen Atomkrieg münden würde“ und dabei auch die deutsche Ukrainepolitik scharf kritisierte – am Eindringlichsten in einem Spiegel-Interview im Januar 2015 sowie in seinem jüngsten Buch „Was jetzt auf dem Spiel steht“ –, da wurde das zwar für einen Moment zur Kenntnis genommen, in die Mainstreamerzählung ging Gorbatschows unbequemes Statement jedoch nicht ein. Dabei hatte er mit klaren Worten nicht gespart:

„Wenn angesichts dieser angeheizten Stimmung einer die Nerven verliert, werden wir die nächsten Jahre nicht überleben. Ich sage so etwas nicht leichtfertig. Ich mache mir wirklich allergrößte Sorgen.“

Und zur Ukrainepolitik des wiedervereinten Deutschland:

„Das neue Deutschland will sich überall einmischen. In Deutschland möchten anscheinend viele bei der neuen Teilung Europas mitmachen. Deutschland hat im Zweiten Weltkrieg schon einmal versucht, seinen Machtbereich nach Osten zu erweitern. Welche Lektion braucht es noch?“

Am Übelsten nahm man Gorbatschow aber, dass er zwar Putins autoritären Führungsstil kritisierte, westliche Gedankenspiele, ihn zu stürzen jedoch als „saudumm und höchstgefährlich“ bezeichnete und – Todsünde!! – obendrein auch noch die „Annexion der Krim“ ausdrücklich verteidigte.

Im Frühling 2017 legte er in einem Interview mit der Bild-Zeitung nochmal nach:

„Die Sprache der Politiker und hohen Militärs wird immer militanter, die Militärdoktrinen werden immer härter formuliert. All das wird von Massenmedien aufgegriffen und noch mehr angeheizt. Das Verhältnis zwischen den Großmächten verschlechtert sich immer weiter. Es entsteht der Eindruck, die Welt stelle sich auf einen Krieg ein.“

„Das Streben der USA nach absoluter militärischer Überlegenheit“

Es war daher auch nur eine Frage der Zeit, dass der Vater des INF-Vertrages zu dessen Kündigung durch die USA und Russland öffentlich Stellung beziehen würde. Dies geschah erstmals Mitte Februar 2019, anderthalb Wochen nach Trumps Ankündigung der Kündigung und zeitgleich zur Tagung der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel, in einem Essay, den die russische Zeitung Wedomosti veröffentlichte. Und es nimmt kein Wunder, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten in Deutschland nur äußerst reduziert über Gorbatschows scharfes Statement berichteten: In der Tagesschau wurde, verborgen im Bericht über die NATO-Tagung, mit zwei Sätzen verschämt darauf verwiesen, dass er die Kündigung des Vertrages durch die USA kritisiert habe. Ein ergänzender Hintergrundbericht auf der Tagesschau-Homepage? Fehlanzeige!

Letzteres unternahm zwar das ZDF, dies allerdings in einer atemberaubend nichtssagenden Weise. Konnte man dort doch, man höre und staune, erfahren, dass Gorbatschow „vor einem Aus des INF-Vertrags gewarnt“ und „auf die Gefahr eines neuen Wettrüstens“ verwiesen habe. Wer hätte das gedacht?

Alle, die über keine Russischkenntnisse verfügen und Näheres wissen wollten, mussten sich schon anderswo informieren. Bei Sputnik und – etwas reduzierter, aber ausführlicher als bei ARD und ZDF – bei NTV konnte man dann Gorbatschow im Klartext lesen:

„Man kann nur schließen, dass hinter der Ausstiegsentscheidung der USA nicht die von amerikanischen Anführern genannten Gründe stehen, sondern etwas ganz anderes. Die USA wollen alle Beschränkungen im Bereich der Rüstung abschaffen, um absolute militärische Überlegenheit zu erreichen. Wohl um der Welt ihren Willen zu diktieren – wofür sonst?“

Dieselbe Strategie des Ignorierens wiederholte sich im Herbst letzten Jahres, als Gorbatschow punktgenau zum 30. Jahrestag des Mauerfalls sein ‚politisches Testament‘ „Was jetzt auf dem Spiel steht – Mein Aufruf für Frieden und Freiheit“ publizierte. Zwar gestatteten ihm die deutschen Medien in diesem Kontext ein zeitlich befristetes Comeback in Gestalt einiger Interviews – sein jüngstes Buch jedoch einmal sorgfältig zu rezensieren, das hielt so gut wie kein deutsches Leitmedium für nötig!

Zum Denkmal degradiert, als Warner ignoriert

Und so hat es denn mit der Gorbatschow-Rezeption in Deutschland eine sehr traurige Bewandtnis. Sie ist, vorsichtig gesprochen, einseitig. „Voluntaristisch“ käme der Wahrheit näher. Der einzige Begriff, der jedoch wirklich ins Schwarze trifft, lautet „opportunistisch“!

Was die Vergangenheit angeht, ist er zum Denkmal degradiert und was seine Warnungen für die Zukunft und vor allem seine Kritik an USA und NATO betrifft, wird er ignoriert.

Schade!

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Titelbild: Flickr.com
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Dieser Text erschien zuerst bei RT Deutsch.