Neue Eiszeit und eine Welt in Trümmern – Teil II: Krieg und Frieden
Seit dem Ausbruch der erneuten Spannungen zwischen dem Westen und Russland liegt für Menschen, deren Lebensthema ein gutes Verhältnis zwischen Ost und West ist, eine Welt in Trümmern. Im zweiten Teil dieser Essay-Serie reflektiert unser Autor die Bilder, die ihm in seiner Jugend über den Russlandfeldzug vermittelt wurden – in der Schule und in seiner Familie, wo der Großvater in beiden Weltkriegen als Arzt in Russland war. Und er beschreibt zwei sehr unterschiedliche eigene Reisen in die Sowjetunion.
von Leo Ensel
Der Krieg. In der Schule lernten wir so gut wie nichts darüber. Auch in dem Mainzer humanistischen Gymnasium, wo ich 1973 Abitur machte, hörte die Geschichte merkwürdigerweise kurz vor dem Ersten Weltkrieg auf. Über den I. Weltkrieg, die Weimarer Republik, Hitlers Machtergreifung, den Nationalsozialismus, den II. Weltkrieg und die Ausrottung der Juden hörten wir fast nichts. Dies war nicht nur in unserem Gymnasium so, sondern entsprach damals offenbar der Generallinie westdeutscher Kultusbürokratie. Wenn ich etwas vom Zweiten Weltkrieg erfuhr, wenn mir jemand erzählte, dass wir Deutschen ihn angefangen und damit große Schuld gegenüber unseren Nachbarvölkern auf uns geladen hatten, dann vermittelten mir das meine Eltern.
Dass es sich beim Krieg gegen die Sowjetunion jedoch um einen Vernichtungsfeldzug gehandelt hatte, in dem noch nicht einmal die ‚normalen‘ Regeln der Kriegsführung galten, dass es das Ziel der Nazis war, die slawischen Völker größtenteils auszurotten und den Rest zu versklaven, dass allein bei der Belagerung Leningrads ungefähr so viele Menschen ums Leben kamen wie in Treblinka vergast wurden, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen mit 3,3 Millionen Toten die zweitgrößte Opfergruppe der Nazis sind – das alles erfuhr ich erst ab Mitte der Achtziger Jahre.
Mein Großvater war in beiden Weltkriegen in Russland
Mein Großvater mütterlicherseits (Jahrgang 1891) war in beiden Kriegen in Russland. Im I. Weltkrieg als Sanitätsoffizier und im II. Weltkrieg als Oberstabsarzt und Leiter eines Armeelazaretts. Mein Großvater, ein hochgebildeter kultivierter Mann, Facharzt für Inneres und Leiter eines katholischen Krankenhauses in Saarbrücken, war kein Nazi. Ein Widerstandskämpfer war er nicht; ich weiß aber, dass er und seine Frau dem Regime gegenüber soweit auf Distanz gingen, wie das damals möglich war, ohne sich und die achtköpfige Familie zu gefährden. Meine Großeltern mochten die Nazis nicht. Als Vertretern des katholischen Bildungsbürgertums war ihnen die nationalsozialistische rassistische Weltanschauung zuwider. Mein Großvater war außerordentlich belesen. Natürlich kannte er die klassischen russischen Schriftsteller; mein erstes Buch eines russischen Autors habe ich von ihm geschenkt bekommen: „Krieg und Frieden“.
1998 schrieb ich dazu in mein Tagebuch:
Mein Großvater war kein Nazi, er war kein Rassist – „Untermenschen“ gab es für ihn nicht –, und ich glaube, er liebte das russische Volk.
Aber er war in beiden Kriegen in Russland als Soldat.
Wo ist er dort genau gewesen? Was hat er erlebt? Was hat er gewußt von den deutschen Greuelttaten an und hinter der Front?
„Wir haben schreckliche Dinge gesehen. Ich möchte nicht mehr weiterleben.“ Diesen Satz berichtete meine Mutter von ihm. Er muss auch oft von Russland, vom Krieg erzählt haben. Was hat er genau berichtet? Wie weit ging er dabei ins Detail? Was wissen meine Tanten noch von seinen Erzählungen?
Es existieren noch Tagebuchaufzeichnungen und Fotos, die mein Großvater in Russland gemacht hat.
Warum habe ich, Jahrgang 1954, mich eigentlich bisher für alles kaum interessiert?
Warum bin ich, der Enkel, bis heute – Frühjahr 1998 – nie auf die Idee gekommen, mir Gedanken darüber zu machen, wo mein Großvater genau in Russland gewesen ist, was er dort getan und erlebt hat, was und wie er später darüber berichtet hat? Obwohl doch in unserer Familie – im Gegensatz zu sehr vielen anderen – darüber gesprochen wurde!
Warum habe ich meine Tanten bis jetzt nicht danach gefragt?
Warum habe ich mir Großvaters Aufzeichnungen aus Russland noch nicht geben lassen, obwohl sie doch in meiner Familie erhältlich sind? Warum habe ich mir die Fotos nicht angesehen?
Und – noch merkwürdiger – warum habe ich, obwohl ich vor zehn Jahren mit einer Friedensgruppe selbst eine Friedens– und Versöhnungsfahrt nach Weißrussland unternommen, die Gedenkstätten dort besucht und mit Menschen gesprochen habe, warum habe ich die einfache und nächstliegende Gedankenverbindung nicht gezogen, dass mein Großvater im I. Weltkrieg auch in Weißrussland war? Warum fällt mir das erst zehn Jahre später auf?
Woher kommen diese Denkblockaden?
Ich werde anfangen, Fragen zu stellen.[1]
Jugendreisen streng nach Protokoll
Anfang der Achtziger Jahre spitzte sich der Kalte Krieg zwischen West und Ost noch einmal gefährlich zu. Die Sowjetunion war in Afghanistan einmarschiert und die NATO hatte gerade die Stationierung neuer atomar bestückter Mittelstreckenraketen in Westeuropa beschlossen. Die Reaktionen des Warschauer Paktes waren abzusehen. Eine neue äußerst gefährliche Umdrehung der Rüstungsspirale mit einer weiteren Verkürzung der Vorwarnzeiten stand unmittelbar bevor.
Als sich gegen diese Vernichtungslogik in vielen westeuropäischen Ländern und nicht zuletzt in der Bundesrepublik Protest in Gestalt der neuen Friedensbewegung artikulierte, war ich dabei. Ich schrieb unter anderem ein Buch über Angst und atomare Aufrüstung und als ich es Anfang 1983 beendet hatte, flog ich im Februar für eine Woche – wie es der Zufall wollte, war kurz zuvor der Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew gestorben – nach Moskau. Ich wollte einfach wissen, wie es auf der anderen Seite aussah, wie die Stadt und die Menschen aussahen, die wir mit unseren Raketen bedrohten.
Die Fahrt mit dem Kölner Jugendreisebüro „Interkontakt“ war außerordentlich preiswert und eine der typischen Touristenreisen in die UdSSR, wie sie damals üblich waren. In Moskau bekam unsere Gruppe einen russischen Reiseleiter zugeteilt, der hervorragend Deutsch sprach, uns locker, gewitzt und nicht ohne Charme die Moskauer Sehenswürdigkeiten und die Errungenschaften der Sowjetunion präsentierte – und zugleich unauffällig dafür sorgte, dass sich niemand von der Gruppe entfernte.
Igor forderte uns auf, bei einem organisierten Treffen mit einem Politikwissenschaftler von der Lomonossow–Universität ruhig kritische Fragen zu stellen – „von Sacharow bis zu den SS 20“. Er wußte genau, welche Anfragen die Westler an die Politik der Sowjetunion hatten. Wie jedoch zu erwarten, entpuppte sich diese Veranstaltung schnell als Farce. Der Wissenschaftler vertrat starr die offizielle Parteilinie, während unser Reiseleiter sich als pseudoliberales Aushängeschild derselben Politik erwies. Ich erinnere mich noch, wie er auf unsere Frage, warum denn Nikita Chruschtschow nicht auch an der Kremlmauer beerdigt sei, antwortete, er sei nicht würdig gewesen.
Auch das sogenannte Freundschaftstreffen mit Komsomolzen war kein wirkliches Kennenlernen, sondern hatte eher offiziösen Charakter. Nach dem Austausch der mitgebrachten Geschenke wurden die sich zaghaft anbahnenden Gespräche nach einer halben Stunde durch laute Discomusik abgewürgt und als es zwei Stunden später 22.00 war, verschwanden wie auf ein Kommando plötzlich nahezu alle unsere russischen Gastgeber und ließen uns verdutzt alleine. Der Eindruck, dass es sich hier um eine von Parteifunktionären bestellte Gruppe gehandelt hatte, drängte sich förmlich auf. Wir fanden das schade und fühlten uns etwas hereingelegt, denn wir hätten gerne mehr aus erster Hand über das Leben von Jugendlichen, Schülern und Studenten in der Sowjetunion erfahren. Immerhin stellte ich bei dieser Reise zu meiner Verblüffung fest, dass das Zentrum des von Reagan so genannten „Reich des Bösen“, der Kreml, zur Hälfte aus Kirchen besteht. Auch dass im Russischen das Wort „Mir“ sowohl „Frieden“ als auch „Welt“ bedeutet, gab mir zu denken.
Ein Jahr später – Breschnews Nachfolger Juri Andropow war ebenfalls gerade gestorben – fuhr ich wieder mit „Interkontakt“ für eine Woche nach Leningrad, eine Reise, die im Prinzip so ähnlich verlief wie die erste: Schlösser, Paläste, Kanäle, Museen, der Panzerkreuzer Aurora – Sehenswürdigkeiten aller Art und wieder ein organisiertes ‚Freundschaftstreffen‘, aber keine wirklichen Kontakte mit der Bevölkerung.
„Kommt nach Sibirien, kommt nach Wolgograd!“
Völlig anders hingegen gestaltete sich meine dritte Fahrt in die Sowjetunion im Herbst 1988. Seit dreieinhalb Jahren war Michail Gorbatschow an der Macht, Worte wie „Perestroika“ und „Glasnost“ gingen um die ganze Welt und das innenpolitische Klima in der UdSSR war längst liberaler als in der DDR. In dieser bewegten Zeit nahm ich an einer vom Friedensnetz des CVJM organisierten Friedens- und Versöhnungsfahrt in die UdSSR teil, die uns nach Minsk, Moskau und Leningrad führte. Diesmal hatten wir vor Ort keine Reiseleiterin mehr, die die offizielle Parteilinie abspulte, sondern eine junge Frau, die sich mit ganzem Herzen das Anliegen unserer Reise zu eigen gemacht hatte. Wir wollten mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören, welche Verbrechen deutsche Soldaten während des II. Weltkrieges an den Völkern der Sowjetunion begangen hatten und suchten den Kontakt mit den Menschen. Mit Ludmilas Hilfe hatten wir in der weißrussischen Gedenkstätte Chatyn – dem ‚Friedhof der Dörfer‘ – und auf dem Leningrader Piskarowskoje-Friedhof Begegnungen mit russischen Menschen, die ich nie vergessen werde.
„Kommt nach Sibirien, kommt nach Wolgograd und sagt es auch den Menschen dort“, sagte mit Tränen in den Augen eine junge Frau zu uns, nachdem wir auf einer Gedenkstätte um Vergebung gebeten hatten für das, was Deutsche den Menschen in der UdSSR angetan hatten. Wir lagen uns in den Armen und weinten zusammen mit Menschen, die wir noch nie gesehen hatten.
(Fortsetzung folgt)
[1] Dieses mir selbst gegebene Versprechen habe ich Jahre später eingelöst: Im Jahre 2004 erstellte ich mit einer Cousine eine Dokumentation über die Route unseres Großvaters im II. Weltkrieg. Wir transkribierten die Tagebuchaufzeichnungen und Feldpostbriefe aus der Sowjetunion; meine Cousine scannte über 1000 Fotos ein, die mein Großvater dort mit seiner Leica aufgenommen hatte und ich recherchierte die Verbrechen, die von Wehrmacht und SS auf diesem Streckenabschnitt begangen wurden. Ein Jahr später, im Mai 2005, reiste ich auf den Spuren der Kriegsroute meines Großvaters bis in den Donbass, wo ich mich unter anderem mit Veteran/inn/en traf und ihnen die Fotos meines Großvaters aus der Besatzungszeit gab. (Ich werde in einer der kommenden Folgen darüber berichten.)
^*^Die erste Folge der Serie erschien hier.
Dieser Text erschien zuerst bei RT Deutsch.