In Kommentaren zur Entwicklung der russischen Wirtschaft liest man es immer häufiger: Russlands Konjunktur laufe in diesem Jahr „besser als erwartet“. Die Wirtschaft erwies sich im Oktober wieder als „überraschend resilient“. Über die neuesten Wachstumsprognosen und Analysen.
Die Anlageinvestitionen sind in den ersten neun Monaten im Vorjahresvergleich sogar deutlich gestiegen. Die Sanktionen lassen die gesamtwirtschaftliche Produktion zumindest in diesem Jahr viel weniger sinken als viele erwarteten.
Das bestätigen unter anderem die von Rosstat veröffentlichten Oktober-Daten zur Produktion in der Industrie, in der Bauwirtschaft und der Landwirtschaft sowie im Bereich der Dienstleistungen. Die in vielen Branchen anziehende Produktion trägt zur anhaltend niedrigen Arbeitslosenquote bei. Zudem signalisieren Umfragen im Verarbeitenden Gewerbe eine kräftige Belebung der Geschäftsaktivitäten im November (siehe Schluss dieses Artikels).
Laut der am Freitag veröffentlichten monatlichen Konjunkturumfrage des Moskauer Büros der Nachrichtenagentur Reuters rechnen die beteiligten 15 Banken und Forschungsinstitute für 2022 im Durchschnitt jetzt nur noch mit einem Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um 3,0 Prozent. Das entspricht fast genau der Prognose der Regierung (- 2,9 Prozent).
Ein baldiges starkes Abflauen der Rezession erwarten aber nur wenige
Im nächsten Jahr wird sich die Rezession laut der Reuters-Umfrage allerdings in kaum abgeschwächtem Tempo fortsetzen (- 2,5 Prozent). Eine Izvestia-Umfrage lässt 2023 sogar einen weiteren Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 3,3 Prozent erwarten (nach einem Rückgang um 3,6 Prozent im laufenden Jahr). Die von der Regierung für das nächste Jahr prognostizierte deutliche Abschwächung der Rezession auf nur noch 0,9 Prozent erscheint vielen Beobachtern unrealistisch.
Manche Analysten halten eine Verschärfung der Rezession für möglich
Auch Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa-Bank, stellt in einem Kommentar zur Konjunkturentwicklung im Oktober fest, dass sich die Wirtschaft 2022 besser als erwartet entwickelte. Sie geht jetzt davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr nicht wie bisher von ihr erwartet um 3 Prozent sinken dürfte, sondern nur um 2 bis 2,5 Prozent. In den ersten 10 Monaten 2022 war das reale Bruttoinlandsprodukt nach Berechnungen des Wirtschaftsministeriums 2,1 Prozent niedriger als im Vorjahr.
Andererseits warnt Orlova aber. Sie meinte am Freitag bei einer Wirtschaftskonferenz in Moskau laut Reuters, es sei nicht ausgeschlossen, dass sich die Rezession im nächsten Jahr deutlich verschärfen könnte (auf 5 bis 6 Prozent). Davon ging Mitte November auch die OECD aus. Die internationale Wirtschaftsorganisation erwartet, dass sich Russlands Rezession von 3,9 Prozent im laufenden Jahr auf 5,6 Prozent im Jahr 2023 beschleunigt.
Die Prognosen für 2023 klaffen noch weit auseinander
Die Meinungen über den Konjunkturverlauf sind also sehr geteilt. Nicht alle Analysten rechnen mit einem mehr oder weniger starkem Rückgang der Produktion. Einige Analysten nehmen weiterhin an, dass die russische Wirtschaft nach einer scharfen Rezession im Jahr 2022 im nächsten Jahr ihr stark gesunkenes Produktionsniveau halten kann und im Jahresdurchschnitt annähernd stagniert (Helaba, OPEC-Sekretariat).
Die Ergebnisse der derzeit noch laufenden Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank sollen am 08. Dezember veröffentlicht werden. Ihre eigene „mittelfristige Prognose“ will die Zentralbank nicht bei der nächsten Leitzinsentscheidung am 16. Dezember, sondern erst im nächsten Februar aktualisieren. In ihrer Ende Oktober veröffentlichten Prognose hielt sich die Zentralbank für 2023 viele Möglichkeiten offen. Sie veranschlagte den voraussichtlichen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im nächsten Jahr auf 1 Prozent bis 4 Prozent.
BIP-Prognosen 2022 bis 2023
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Eurasische Entwicklungsbank erwartet 2023 weiteren BIP-Rückgang um 2 Prozent
Relativ nah an den Planzahlen der russischen Regierung, die erstmals im September genannt wurden und inzwischen Basis der Haushaltsplanung sind, liegen die Prognosen der Eurasischen Entwicklungsbank. Sie erwartet in ihrem Jahresausblick 2023 nach einem Rückgang des BIP um rund 3 Prozent im Jahr 2022 für das nächste Jahr allerdings nur eine Abschwächung der Rezession auf 2 Prozent. Die Regierung geht hingegen davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt 2023 nur noch um 0,8 Prozent gegenüber 2022 sinkt.
Prognosen der Eurasischen Entwicklungsbank zur Entwicklung von realem Bruttoinlandsprodukt, Verbraucherpreisen, Leitzins und Rubelkurs
Eurasian Development Bank: The EDB Macroeconomic Outlook, 29.11.2022
Weitere Prognosen der EDB:
Der jährliche Anstieg der russischen Verbraucherpreise, der am Jahresende 2022 12,6 Prozent betragen dürfte, wird sich bis Ende 2023 etwa halbieren und auf 6,0 Prozent sinken. Bereits im Oktober 2022 hat sich der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise auf 12,6 Prozent verringert.
Der Leitzins der russischen Zentralbank, der zuletzt Mitte September auf 7,5 Prozent gesenkt wurde, wird von 10,6 Prozent im Jahresdurchschnitt 2022 auf 7,9 Prozent im Jahresdurchschnitt 2023 fallen.
Der Kurs des Rubels, der im Jahresdurchschnitt 2021 73,6 Rubel je US-Dollar betrug, wird im Jahresdurchschnitt 2022 auf 68,4 Rubel je US-Dollar aufwerten und dieses Niveau im Jahresdurchschnitt 2023 halten.
Vergleich der Produktionsentwicklung in den EDB-Partnerstaaten
Während Russlands BIP im nächsten Jahr laut der EDB-Prognose voraussichtlich weiter um 2,0 Prozent sinkt, werden die anderen Partnerstaaten der Eurasischen Entwicklungsbank ein Wachstum der Wirtschaft verzeichnen: Armenien um 4,2 %, Belarus um 0,3 %, Kasachstan um 4,2 %, Kirgisistan um 3,5 % und Tadschikistan um 6,5 %.
EDB-Prognosen zur Wirtschaftsentwicklung in Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan im Jahr 2023
Inflationsrate am Jahresende in Prozent, Wechselkurse der Landeswährungen in US-Dollar im Jahresdurchschnitt, Veränderungsrate des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in %; Eurasian Development Bank: The EDB Macroeconomic Outlook, 29.11.2022
Prognosen der Wneschekonombank (Bank für Außenwirtschaft) zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in den Partnerstaaten der Eurasischen Entwicklungsbank weichen von den obigen Prognosen der EDB nur wenig ab. In Russland erwartet die Wneschekonombank 2023 allerdings nicht nur eine Abschwächung der Rezession auf 2,0 Prozent, sondern auf 1,0 Prozent (siehe Vortrag von A. Klepach: „Integration in Eurasien und die neue Realität“ vom 01.12.22)
EDB-Prognose: Russlands BIP-Rückgang im Vorjahresvergleich verdoppelt sich bis zum ersten Quartal 2023 auf rund 8 Prozent
Im ersten Quartal 2022 war Russlands Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum Vorjahresquartal noch um 3,5 Prozent gestiegen. Nach Beginn des Ukraine-Krieges sank das BIP im zweiten Quartal 2022 gegenüber dem zweiten Quartal 2021 dann um 4,1 Prozent. Im dritten Quartal 2022 war es nach vorläufigen Angaben von Rosstat 4,0 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor.
Die EDB hat diese vierteljährliche Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in der folgenden Abbildung dargestellt.
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts Russlands gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent (ab viertem Quartal 2022: Prognose)
Eurasian Development Bank: The EDB Macroeconomic Outlook, 29.11.2022
Im vierten Quartal 2022 wird der Rückgang des BIP gegenüber dem Vorjahresquartal laut der EDB-Abbildung auf rund 7 Prozent steigen und im ersten Quartal 2023 rund 8 Prozent erreichen. Im zweiten und dritten Quartal 2023 wird das BIP dann nur noch rund 1 Prozent niedriger sein als ein Jahr zuvor. Im vierten Quartal 2023 dürfte die gesamtwirtschaftliche Produktion ihr Vorjahresniveau wieder erreichen.
Wichtigster Risikofaktor für diese Prognose, das berichtet RBK, ist laut dem „Zentrum für Länderanalysen der EDB“ das geplante Ölembargo der EU gegenüber Russland. Es soll am 05. Dezember im Hinblick auf Lieferungen von Rohöl aus Russland nach Europa auf dem Seeweg in Kraft treten. Die EU-Staaten und weitere G7-Staaten haben zudem auch eine Preisobergrenze für Lieferungen von russischem Öl beschlossen (ZDF-Bericht). Ab dem 05. Februar 2023 soll das EU-Embargo auch die Lieferungen von Ölprodukten aus Russland umfassen.
Der Index der gesamtwirtschaftlichen Produktion stieg im Oktober wieder
Die folgende Abbildung aus dem am Freitag veröffentlichten Wochenbericht des Forschungsinstituts der Wnescheconombank macht deutlich, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion derzeit zwar erheblich unter dem vor einem Jahr erreichten Niveau liegt. Im September und Oktober 2022 war das reale BIP laut VEB-Institut jeweils 4,6 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Die gesamtwirtschaftliche Produktion hat sich aber nach dem starken Einbruch im Frühjahr seit der Jahresmitte stabilisiert.
Laut den ersten Berechnungen des VEB-Instituts ist der Index des realen Bruttoinlandsprodukts im Oktober um 0,7 Prozent gegenüber September gestiegen. Der Rückgang im September um 0,6 Prozent gegenüber August wurde damit ausgeglichen.
Index des saisonbereinigten realen Bruttoinlandsprodukts (Jan. 2014 = 100)
VEB Institute: World Economy and Markets Review, 02.12.2022
Impulse für das gesamtwirtschaftliche Wachstum kamen zum einen von der Industrieproduktion, die im Oktober gegenüber September saisonbereinigt laut VEB-Institut um 0,7 Prozent stieg (Ostexperte.de berichtete vor einer Woche). Zuwächse der Produktion gab es aber auch in den Bereichen Bauwirtschaft, Landwirtschaft, Warentransport, Großhandel und Dienstleistungen.
Im Oktober nur sehr schwache Wachstumsimpulse vom privaten Verbrauch
Die folgende Abbildung zeigt, dass der reale Umsatz im Bereich der Dienstleistungen (dunkelgrüne Linie) im Oktober allerdings fast auf dem erreichten Niveau stagnierte (+ 0,1 Prozent gegenüber September).
Für den Einzelhandel (schwarze Linie) errechnete das VEB-Institut für den Monat Oktober eine völlige Stagnation des realen Umsatzes auf dem Stand des Vormonats.
Einen Bestimmungsfaktor für die Entwicklung des privaten Verbrauchs im Einzelhandels- und Dienstleistungsbereich bildet die Entwicklung der Reallöhne (graue Linie). Sie waren im September 0,4 Prozent höher als im August.
Indizes der Reallöhne sowie der realen Umsätze des Einzelhandels und der Dienstleistungen (Jan. 2014 = 100)
VEB Institute: World Economy and Markets Review, 02.12.2022
Im Vergleich zum Vorjahresmonat waren die Reallöhne im September 2022 um 1,4 Prozent niedriger. Der reale Einzelhandelsumsatz sank im Oktober 2022 gegenüber Oktober 2021 um 9,7 Prozent. Demgegenüber nahm der reale Umsatz im Dienstleistungsbereich im Oktober im Vorjahresvergleich um 0,7 Prozent zu.
Zum diesjährigen tiefen Einbruch des Einzelhandelsumsatzes trug laut RIA Rating vor allem der starke Rückgang im PKW-Handel bei. Er habe bereits 2021 wegen eines mangelnden Angebots begonnen. 2022 habe er sich wegen stark steigender Preise und weil sich westliche Anbieter vom russischen Markt zurückzogen verschärft, so RIA Rating.
Kräftiges Wachstum der Bauproduktion
Die Bauproduktion stieg im Oktober gegenüber September laut den ersten Berechnungen des VEB Instituts um 2,7 Prozent. Sie war damit 9,6 Prozent höher als vor einem Jahr im Oktober 2021.
RIA Rating nennt als Gründe für den starken Anstieg der Bauproduktion staatliche Investitionen in die Infrastruktur und die staatliche Förderung der Aufnahme von Hypothekendarlehen.
Index der Bauproduktion (Jan. 2014 = 100)
VEB Institute: World Economy and Markets Review, 02.12.2022
Mit dem Wachstum der Bauproduktion stiegen die Anlageinvestitionen
Die realen Anlageinvestitionen wuchsen im Zeitraum Januar bis September 2022 im Vorjahresvergleich nach Angaben von Rosstat um 5,9 Prozent. Im dritten Quartal waren sie 3,1 Prozent höher als im Vorjahr.
Die Impulse für das Wachstum der Anlageinvestitionen kamen von den Bauinvestitionen. Das zeigen laut Angaben von Olga Belenkaya, Chef-Volkswirtin des Finanzportals Finam.ru, die Veränderungen der Struktur der Anlageinvestitionen.
Der Anteil der Wohnungsbauinvestitionen an den Anlageinvestititonen stieg von 5,8 Prozent in den ersten neun Monaten 2021 auf 6,9 Prozent in den ersten neun Monaten 2022. Der Anteil der sonstigen Bau- und Infrastrukturinvestitionen an den Anlageinvestitionen stieg von 42,6 Prozent auf 47,3 Prozent.
Gleichzeitig sank der Anteil der Investitionen in Maschinen, Ausrüstungen und Fahrzeuge an den gesamten Anlageinvestitionen von 38,4 Prozent auf 33,2 Prozent.
Gute Vorzeichen für die Industrieproduktion im November
Der durch Befragungen von Unternehmen von S&P Global ermittelte „Einkaufsmanager-Index für das Verarbeitenden Gewerbe“ ist im November von 50,7 Indexpunkten auf 53,2 Indexpunkte gestiegen, den höchsten Stand seit Januar 2017 (orange Linie in der folgenden Abbildung).
Das Wachstum der Geschäftsaktivitäten, das durch eine Überschreitung der rot markierten „Wachstumsschwelle“ von 50 Indexpunkten angezeigt wird, beschleunigte sich aufgrund der gestiegenen Inlandsnachfrage. Die Aufträge aus dem Ausland gingen hingegen weiter zurück. Die Unternehmen berichteten außerdem über einen Anstieg der Beschäftigung und eine Aufstockung der Lagervorräte.
Entwicklung der Einkaufsmanager-Indizes
im Verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich
VEB Institute: World Economy and Markets Review, 02.12.2022
Der Einkaufsmanager-Index für den Dienstleistungsbereich wird am 05. Dezember veröffentlicht.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Russlands Wirtschaft: gestiegene Industrieproduktion und düstere Perspektiven, 28.11.2022
- Ist Russlands Wirtschaft eine „Insel der Stabilität“? 21.11.2022
- „Die Prognose der russischen Konjunktur ist mit großer Unsicherheit behaftet“, 14.11.2022
- Abgeschwächte Geschäftsaktivitäten und Produktionsrückgang, 07.11.2022
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Kudrin-Rücktritt: ru: Alexei Kudrin resigns; Merkur.de: Putin-Weggefährte schmeißt hin
- Was der Krieg Russland kostet: Presse-Britefing des US-Außenministeriums, Kommersant-Bericht
- dpa: Öl-Embargo und Preisdeckel gegen Russland: Welche Folgen hat das?
- Klaus-Jürgen Gern, IfW Kiel im N-TV-Intervview:. Wirkt der Preisdeckel für russisches Öl?