Ist Russlands Wirtschaft eine „Insel der Stabilität“?

Russlands Vize-Premier Andrej Beloussow spricht aus, was sich die ansässige Wirtschaft wünscht. Wie viel Stabilität gibt es wirklich? Die neuesten Prognosen im Vergleich.

„Beloussow nannte Russland eine Insel der Stabilität“ ist in einer KommersantSchlagzeile vom letzten Freitag zu lesen. Sie bezieht sich auf Äußerungen von Russlands Erstem Stellvertretenden Ministerpräsidenten Andrei Beloussow gegenüber Journalisten beim Treffen der APEC-Staaten in Bangkok. Im Vergleich mit der unsicheren Entwicklung der Weltwirtschaft und vor allem der Wirtschaft in den EU-Staaten sei die Entwicklung der russischen Wirtschaft leichter vorherzusagen und stabiler, meinte Beloussow dort.

Er verwies zur Lage in der EU laut Interfax auf die hohen Preissteigerungen, die eine Straffung der Geld- und Fiskalpolitik erforderten und die Unternehmen verunsicherten.  Niemand könne langfristig planen. Außerdem sei das „Schuldenproblem“ der EU nicht gelöst. Die Kombination dieser Faktoren bedrohe die Stabilität der Wirtschaft in der EU. Im Vergleich mit diesen Problemen sei Russland, so Beloussow, vielleicht eine „Insel der Stabilität“, so seltsam dies angesichts der Sanktionen auch erscheine.

Die Konjunkturprognosen für die russische Wirtschaft bleiben umstritten

Den Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 veranschlagte Beloussow in Bangkok auf 2,8 bis 3 Prozent. Die Investitionen in der russischen Wirtschaft näherten sich ihrem Tiefpunkt meinte er. Die Nachfrage der Verbraucher habe ihr Tief bereits durchschritten. Beloussow wies darauf hin, dass die Arbeitslosenquote in Russland unter 4 Prozent liege und das Beschäftigungsniveau hoch sei.

Im nächsten Jahr wird Russlands Bruttoinlandsprodukts zwar auch nach Einschätzung Beloussows weiter sinken, aber nicht stärker als ein Prozent gegenüber 2022, so RIA Novosti. Mit diesen Prognosen folgt er weitgehend der Haushaltsplanung der Regierung, die nach einem Rückgang des BIP um 2,9 Prozent im Jahr 2022 im nächsten Jahr einen weiteren Rückgang um 0,8 Prozent annimmt.

Die russische Zentralbank schließt dieses deutliche Abflauen der Rezession in ihrer mittelfristigen Prognose vom 28.10.2022 zwar auch nicht aus. Sie hält sich aber eine breite „Prognose-Spanne“ offen: Russlands BIP kann nach ihrer Einschätzung im nächsten Jahr um 1,0 Prozent, aber auch um bis zu 4,0 Prozent sinken (nach einem diesjährigen Rückgang um 3,0 bis 3,5 Prozent). Zumindest der Zentralbank scheint die weitere Konjunkturentwicklung in Russland also noch ziemlich ungewiss.

Russische Analysten erwarten schwächere Rezession als westliche Analysten

Deutlich unterschiedliche Erwartungen zeigen auch die Ergebnisse von Umfragen bei Analysten zu den Perspektiven der russischen Wirtschaft. Das Institut der Deutschen Wirtschaft hat in der folgenden Abbildung die Ergebnisse einer Mitte Oktober durchgeführten Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank mit Umfrageergebnissen des Unternehmens „Consensus Economics“ verglichen.

Die Abbildung ist einem Vortrag von IW-Direktor Prof. Dr. Michael Hüther und Dr. Simon Gerards Iglesias bei einer Veranstaltung des IW zur Diskussion des IW-Reports „Wirtschaftliche Entwicklung durch Rückschritt – zu den Perspektiven der russischen Volkswirtschaft“ entnommen (siehe Ostexperte.de-Bericht vom 24.10.2022)

Konjunkturentwicklung in Russland:

Ergebnisse von Analysten-Umfragen von Consensus Economics und der russischen Zentralbank

Michael Hüther, Simon Gerards Iglesias (Institut der Deutschen Wirtschaft): Impulsvortrag: Wirtschaftliche Entwicklung durch Rückschritt – zu den Perspektiven der russischen Volkswirtschaft, 16.11.2022

Laut dem von „Consensus Economics“ in einer Umfrage bei fast ausschließlich westlichen Banken und Instituten ermittelten „Consensus Forecast Eastern Europe“ ist in Russland nach einem diesjährigen BIP-Rückgang um 4,6 Prozent im nächsten Jahr mit einem weiteren Rückgang um 3,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu rechnen.

Die Ergebnisse der Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank vom 20.10.2022. bei vorwiegend russischen Banken und Instituten entsprechen viel stärker den Erwartungen der russischen Regierung. Laut der Zentralbank-Umfrage wird das BIP 2022 um 3,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr sinken und 2023 um 2,1 Prozent.

Russlands Wirtschaft Im dritten Quartal 2022: Stabilisierung auf gedrücktem Niveau

Laut der am 16. Oktober veröffentlichten „vorläufigen Schätzung“ des russischen Statistikamtes Rosstat ist das reale Bruttoinlandsprodukt Russlands im dritten Quartal 4,0 Prozent niedriger gewesen als im dritten Quartal 2021 (siehe Trading Economics-Chart).

Im Vergleich gegenüber dem vorangegangen zweiten Quartal 2022 stieg das BIP nach Schätzung des Forschungsinstituts der Wneschekonombank nur um 0,1 Prozent. Damit gelang tatsächlich eine Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Produktion, allerdings auf einem nach Schätzung des VEB-Instituts im Vergleich zum zweiten Quartal fast 6 Prozent niedrigeren Niveau.

Die folgende Abbildung aus dem am Freitag veröffentlichten Wochenbericht des VEB-Instituts zeigt, wie sich der Index der saisonbereinigten gesamtwirtschaftlichen Produktion vom vierten Quartal 2018 bis zum dritten Quartal 2022 entwickelt hat. Rosstat veröffentlichte noch keine Angaben zur Entwicklung der Produktion gegenüber dem Vorquartal.

Index der vierteljährlichen Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts,

4. Quartal 2018 = 100; saisonbereinigt

Forschungsinstitut der Vnesheconombank: World Economy and Markets Review, 18.11.2022

Das BIP ist jetzt etwas niedriger als Ende 2018

Im Rückblick auf das Jahr 2020 ist erkennbar, dass das Bruttoinlandsprodukt in der Corona-Krise vom 1. zum 2. Quartal 2020 noch stärker eingebrochen ist (- 7,4 Prozent) als jetzt vom 1. zum 2. Quartal 2022 (- 5,8 Prozent). Damals erholte sich das BIP im 3. Quartal 2020 sehr schnell (+ 5,3 Prozent), während es im aktuellen 3. Quartal 2022 gegenüber dem zweiten Quartal 2022 fast stagnierte (+ 0,1 Prozent). So ist das BIP im dritten Quartal 2022 nach ersten Schätzungen des VEB-Instituts nur etwa ebenso hoch gewesen wie zwei Jahre zuvor. Im Vergleich zum vierten Quartal 2018 ist es sogar noch etwas niedriger.

Das BIP war im dritten Quartal 4,0 Prozent niedriger als vor einem Jahr

Der von Rosstat ermittelte Rückgang des BIP gegenüber dem dritten Quartal 2021 war mit – 4,0 Prozent schwächer als Russlands Wirtschaftsministerium Anfang November geschätzt hatte (- 4,4 Prozent).

In der folgenden Abbildung des VEB-Instituts zeigt die schwarze Linie die Veränderungsrate des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahresquartal.

Die Abbildung informiert außerdem über die Beiträge einiger Herstellungsbereiche zur Veränderungsrate des Bruttoinlandsprodukts.

Reales Bruttoinlandsprodukt

Veränderung gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent (schwarze Linie);

Beiträge der Herstellungsbereiche zur Veränderungsrate in Prozentpunkten

Forschungsinstitut der Vnesheconombank: World Economy and Markets Review, 18.11.2022

Insbesondere der Groß- und Einzelhandel bremste im dritten Quartal die Erholung

Der hellblaue Säulenteil in der Abbildung zeigt, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion im dritten Quartal 2022 laut den Berechnungen des VEB-Instituts vor allem vom Groß- und Einzelhandel geschwächt wurde. Groß- und Einzelhandel trugen zum Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 4 Prozent rund 2 Prozentpunkte bei.

Im Großhandel sank die Wertschöpfung gegenüber dem Vorjahresquartal um fast ein Viertel (- 22,6 Prozent). Hintergrund dafür ist wohl hauptsächlich der Einbruch der Gasexporte. Der Handel mit festen, flüssigen und gasförmigen Energierohstoffen stellt laut RBC.ru nach Angaben von Rosstat rund ein Drittel der Wertschöpfung im Großhandel. Die Wertschöpfung im Einzelhandel sank um 9,1 Prozent.

Auch die Wertschöpfung im Transport-Bereich verringerte sich überdurchschnittlich (- 5,5 Prozent, dunkelbrauner Säulenteil).

Im „Verarbeitenden Gewerbe“ sank die Wertschöpfung hingegen unterdurchschnittlich um rund 2 Prozent. Zum Rückgang des Bruttoinlandsprodukts trug es deswegen nur wenig bei (dunkelgrüner Säulenteil).

Gestützt wurde die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion hingegen vom Anstieg der Wertschöpfung in der Bauwirtschaft (+ 6,7 Prozent) und der Landwirtschaft (+ 6,2 Prozent, grauer Säulenteil).

Der orange Säulenteil zeigt die Summe der Bremswirkungen der übrigen Wirtschaftsbereiche.

Erwartungen für die weitere Konjunkturentwicklung bis Ende 2023

„Bloomberg Economics“ erwartet laut einem Yahoo-Bericht aufgrund von Analysten-Umfragen folgende vierteljährliche Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Vergleich zum Vorjahr:

Nachdem das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal um 4,0 Prozent niedriger war als vor einem Jahr, vergrößert sich der Rückgang im Vergleich zum Vorjahresquartal im laufenden vierten Quartal 2022 und im ersten Quartal 2023. Ein Grund dafür ist, dass das Bruttoinlandsprodukt vor einem Jahr im vierten Quartal 2021 auf einen Rekordstand stieg und diesen im ersten Quartal 2022 annähernd hielt (Basiseffekt). Ein anderer Grund ist, dass die Sanktionen die Produktion zunehmend beeinträchtigen.

Almanas Stanapedis, Russland-Experte des Research-Unternehmens FocusEconomics, meint, dass außerdem die mit der Teil-Mobilisierung wachsenden Kosten des Krieges in der Ukraine der Wirtschaftsentwicklung schaden werden. Zudem verhießen die weltweit gesunkenen Energiepreise und deutlich verringerte Erdgaslieferungen nach Europa für die außenwirtschaftliche Entwicklung Russlands nichts Gutes.

Im ersten Quartal 2023 dürfte das Bruttoinlandsprodukt laut einer Bloomberg-Umfrage rund 8 Prozent niedriger sein als ein Jahr zuvor.

Für das gesamte Jahr 2022 prognostiziert Bloomberg derzeit im Vorjahresvergleich einen Rückgang des BIP um 3,5 Prozent. 2023 rechnet Bloomberg mit einem weiteren Rückgang um 2 Prozent. Diese Erwartungen entsprechen fast völlig den durchschnittlichen Ergebnissen der Oktober-Umfrage der Zentralbank bei Analysten.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

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