Ost-Ausschuss-Kolumne über Wirtschaft und Politik
Über Sinn und Unsinn russischer Protektionismus-Maßnahmen und wann es sich lohnt, jetzt in Russland zu investieren – die neue Kolumne von Jens Böhlmann.
Egoismus und Maßlosigkeit
„In der Krise halten wir zusammen“, lautet derzeit die Botschaft eines Spots, in dem an das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen und an gegenseitige Rücksichtnahme appelliert wird. Schade nur, dass diese hehren Gefühle regelmäßig an der Realität scheitern. Bei vielen Menschen reicht der Verstand noch nicht einmal soweit, im eigenen und im Interesse der Gemeinschaft, simpelste Hygiene- und Abstandsregeln einzuhalten.
Was im Kleinen gilt, setzt sich leider auch im Großen fort. Internationale Zusammenarbeit und Solidarität enden in diesen Tagen nicht selten an den Landesgrenzen. Exportbeschränkungen für Agrarprodukte und medizinische Ausrüstung machen das sehr deutlich. Auch die jüngste Auseinandersetzung um die Vorbestellung und Verteilung eines Impfstoffes gegen Corona ist ein Musterbeispiel für Egoismus und Maßlosigkeit. Allerdings haben Beschränkungen, protektionistische Maßnahmen und Abschottungen weder die Ausbreitung des Virus noch den Einfluss auf die nationalen Wirtschaften verhindern können. Wann wird der Letzte begreifen, dass die Welt viel stärker vernetzt ist, als es die Stammtischparolen vermuten lassen?
Regierungsverordnung in der Krise
In einigen Ländern nutzen die politischen Eliten die Zeit, um unpopuläre Maßnahmen zu verabschieden, die in normalen Zeiten wohl einer längeren Diskussion bedürften. Auch Russland macht da keine Ausnahme. Am 30. April wurde eine deutliche Verschärfung der Beschaffungsregeln für staatliche Organisationen verabschiedet. Danach ist es ihnen verboten, Güter, Dienstleistungen, Ausrüstungen und Ersatzteile außerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion zu bestellen, wenn sie eine bestimmte finanzielle Obergrenze überschreiten. Eine Million Rubel mag viel klingen, bei einem Wechselkurs von 80 Rubel pro Euro sind das aber nur rund 12.500 Euro. Ausnahmen werden nur dann gemacht, wenn es keinen Hersteller innerhalb der EAWU gibt.
Das Ergebnis dieser Politik ist so vorhersehbar wie ernüchternd: Beschaffung wird insgesamt teurer bei schlechterer Qualität. Nicht selten kaufen die staatlichen Einkäufer dann bei einem russischen Anbieter, der sein Portfolio aus einzelnen Komponenten zusammenstellt, die aus Ländern außerhalb der Wirtschaftsunion kommen und nur ein russisches Label tragen. Oder, es werden Waren minderer Qualität und Sicherheitsstandards angeboten. Die, wie im jüngsten Fall der Beatmungsgeräte der Firma Aventa-M, sogar letale Folgen haben. Erstaunlich wenig hört man dazu von der russischen Antimonopolbehörde, deren Aufgabe es ja eigentlich ist, genau das zu verhindern: Monopolbildung.
Aus der Not eine Tugend machen
Man kann diese Entwicklung bedauern oder handeln. Denn der Weg der Lokalisierung und Importsubstitution wird in Russland schon seit Jahren verfolgt und mit großer Wahrscheinlichkeit zukünftig noch konsequenter umgesetzt. Die Lösung ist in vielen Fällen, im Land zu produzieren. Unternehmen, die in Russland investiert haben, sind in der derzeitigen wie in anderen Krisen die Gewinner. „Wir haben dort, wo wir lokale Produktionen oder Montagen haben auch jetzt zweistellige Zuwachsraten. Das gilt sowohl für Russland als auch für Belarus und Kasachstan“, so der Senior Vice President Emerging Markets & General Director of Wilo Rus Jens Dallendörfer. „Das Währungsrisiko haben wir damit auch massiv minimiert.“ In der Tat können Unternehmen mit dem Label „Made in Russia“ an den staatlichen Ausschreibungen gleichberechtigt teilnehmen. Man kann das Marktverzerrung nennen, aber solche oder ähnliche Maßnahmen gibt es rund um den Globus.
Selektiv, aber wirksam
Für Unternehmen stellt sich die Frage, wie sie schnell und ohne zusätzliches Risiko und ohne die Marktentwicklung wirklich seriös abschätzen zu können, trotzdem in Russland Fuß fassen können. Ein Weg ist, sich mit der Neufassung des Sonderinvestitionsvertrages (SPIK 2.0) auseinanderzusetzen. Am Ende ist auch dieses Instrument eine klare Ungleichbehandlung, aber die Vorteile für das einzelne Unternehmen liegen auf der Hand. Die für die meisten mittelständischen Investoren höchste Hürde in der alten Fassung, die Investitionssumme von zehn und mehr Millionen Euro, gibt es nicht mehr. Das macht organisches Wachstum parallel zur Marktdurchdringung möglich und die schrittweise Anpassung an die geforderten Local-Content-Anteile. Der größte komparative Vorteil ist jedoch, dass man als russischer Produzent gilt. Dafür fordert der russische Gesetzgeber neueste Technologie, die auch global konkurrenzfähig, also exportierbar ist, garantiert aber im Gegenzug die Beibehaltung der Konditionen bei Abschluss des Vertrages und bestimmte steuerliche Erleichterungen. Insgesamt also ein stimmiges Paket, das den Zugang zum Markt erleichtert und sichert.
Grüner exportiert sich besser
Sinnvoll ist diese Entscheidung unternehmerisch allerdings nur, wenn die Marktgröße und -beschaffenheit eine solche Investition rechtfertigen. In vielen Fällen, bestes Beispiel sind die Automobilzulieferer, ist das nicht so. Deren Chance könnten die Exporte sein. In der am 30. April vorgestellten Industriestrategie bis 2035 sind industrielle Exporte ein fundamentaler Bestandteil. Auch unter dem Eindruck der jüngsten Kapriolen am Öl- und Gasmarkt, sollen die Anstrengungen den Export zu diversifizieren noch einmal deutlich verstärkt werden. Eine Chance international wettbewerbsfähig zu sein, ist bei der Mischung aus deutscher Qualität und schwachem Rubel allemal gegeben. Dafür müssen russische Produkte allerdings auch deutlich „ökologischer“ werden. Unter dem Druck der Politik und der Öffentlichkeit sind deutsche und europäische Firmen zu Vorreitern dieses grundlegenden Wandels geworden. Sie könnten ihren russischen Partnern mit ihren Erfahrungen den Weg nach Europa öffnen. Auch beim Thema Kreislaufwirtschaft ist Deutschland Weltspitze.
Nur Verkauf wird schwieriger
Dazu müssen allerdings beide Seiten einen Weg aus der jeweiligen Ich-bin-beleidigt-weil-Haltung finden. Nichtsdestotrotz wird Geschäft in Russland über nur konventionellen Verkauf kaum noch möglich sein, zumal die chinesischen Wettbewerber mit allen Mitteln in den russischen Markt drängen. Erfolg hat künftig, wer ein Paket aus moderner Technologie, energieeffizienten Lösungen, Produkten, die auch im Export eine Chance haben, anbietet, und zumindest zu einem teilweisen Technologietransfer bereit ist.
Noch braucht es mehr Vertrauen
Rein betriebswirtschaftlich würde sich in einigen Fällen eine Produktionsverlagerung durchaus rechnen. Die Lohnstückkosten sind zum Teil jetzt schon geringer als in anderen europäischen Standorten. „Es fehlt im Augenblick Vertrauen und Zuverlässigkeit. Aber das Potential an gut ausgebildeten Daten-Analysten, Programmierern und dem gemeinsamen Verständnis für Produktionsprozesse ist sehr gut. Viele Prozesse, die wir jetzt noch teuer in Deutschland abwickeln, könnten wir künftig zu einem Viertel des Preises nach Russland verlagern“, so ein deutscher Area-Manager. Augenblicklich wird in Russland offiziell immer noch die Freundschaft zu China propagiert. Doch auch hier zeichnet sich ein Ermüdungsbruch ab. Um es mit den Worten eines russischen Unternehmers zu sagen: „Chinesen sind einfach keine richtigen Partner. Die sehen immer nur ihren eigenen Vorteil. Kommunikativ sind sie ein Totalausfall.“ Das ist die Chance der deutschen Wirtschaft. Bei vielen der Zukunftsthemen sind hiesige Firmen sehr gut aufgestellt: Windkraft, Biotechnologie, Industrie 4.0, 3D-Druck, Flug- und Raumfahrt, digitale Transformation, Meßtechnik und nicht zuletzt auch im den Bereichen Medizintechnik und Pharmazie. Eine Kooperation scheint daher dringend geboten.
Der „Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de.
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