„Corona-Ferien“: Hohe Produktionsausfälle durch „arbeitsfreie“ Tage

Alfa Bank senkt BIP-Prognose aber nur auf – 3 Prozent

Am Dienstag teilte das Statistikamt Rosstat weitere Ergebnisse für die Entwicklung der russischen Wirtschaft im „arbeitsfreien“ Monat April mit. Der Rückgang der Produktion durch die angeordneten Einschränkungen der Wirtschaft war zwar teilweise weniger stark als erwartet wurde. Insbesondere im Konsumbereich sank die Produktion aber noch mehr als befürchtet. Auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt verschlechterte sich deutlich.

Wirtschaftsministerium schätzt BIP-Einbruch im April auf 12 Prozent

Am Donnerstag veröffentlichte das Wirtschaftsministerium seinen Monatsbericht „Bild der Wirtschaftsaktivität“ zu den Rosstat-Daten für April. Es schätzt, dass das reale Bruttoinlandsprodukt im April wegen der Beschränkungen der Wirtschaftsaktivitäten in Russland und der ungünstigen Entwicklung der Wirtschaft von Handelspartnern um 12 Prozent niedriger war als vor einem Jahr. In der folgenden Abbildung zeigt die blaue Linie den tiefen Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Produktion im April.


Wirtschaftsministerium: Bild der Wirtschaftsaktivität April 2020; 28.05.2020

Die blauen Punkte zeigen die vierteljährlichen Veränderungsraten des BIP im Vorjahresvergleich, die von Rosstat berechnet wurden. Im ersten Quartal 2020 wuchs das BIP noch um 1,6 Prozent. In den ersten vier Monaten ist es nach den ersten Berechnungen des Wirtschaftsministeriums aber 1,9 Prozent niedriger gewesen als vor einem Jahr.

Industrie- und Bauproduktion sanken schwächer als erwartet

Dass die Industrieproduktion im April 6,6 Prozent niedriger war als im April 2019, hatte Rosstat bereits am 21. Mai bekannt gemacht. Die meisten Beobachter hatten mit einem noch stärkeren Rückgang gerechnet. Der Rückgang des Gütertransports um 6 Prozent im April entsprach in etwa der Abnahme der Industrieproduktion.

Besser als erwartet entwickelte sich im April auch die Bauproduktion (- 2,3 Prozent). Dmitry Polevoy, Chef-Volkswirt des staatlichen „Russian Direct Investment Fund“ meint, neben der Lockerung von Restriktionen und der Fortführung staatlicher Großprojekte könnten auch Probleme bei der Erhebung der Statistik zum moderaten Rückgang beigetragen haben.

Einzelhandel und Dienstleistungen brachen noch stärker als befürchtet ein

Beim realen Einzelhandelsumsatz  war von den Analysten im Durchschnitt mit einem Rückgang um rund 18 Prozent im April gerechnet worden. Laut Rosstat sank er aber sogar um fast ein Viertel (- 23,4 Prozent). Überdurchschnittlich stark war dabei der Einbruch im Bereich der Nicht-Lebensmittel (-36,7 Prozent). Dazu trug der Rückgang der PKW-Verkäufe um 72,4 Prozent bei.

Der Umsatz bei den privaten Dienstleistungen brach noch stärker als der Einzelhandel um rund 38 Prozent ein.

Die Arbeitslosigkeit ist schlagartig gestiegen

Auch der Anstieg der Arbeitslosenquote auf 5,8 Prozent im April übertraf die Erwartungen.

Polevoy geht davon aus, dass sich die wachsende Arbeitslosigkeit auch in der Entwicklung der Reallöhne niederschlägt. April-Daten liegen für die Reallöhne noch nicht vor. Im März stiegen sie noch unerwartet stark um 5,9 Prozent. In einigen von der Pandemie besonders betroffenen Branchen begannen die Reallöhne laut Polevoy aber bereits im März zu sinken.

Alfa Bank-Prognosen für Mai

Die Alfa Bank veröffentlichte eine tabellarische Übersicht zur Entwicklung der Produktion wichtiger Branchen und der Arbeitslosenquote. In der letzten Spalte zeigt sie auch Prognosen der Alfa Bank für Mai.

Quelle: Natalia Orlova, Anna Kiyutsevskaya; Alfa Bank: April Russia Macro stats – Revising down our GDP forecast on weak April retail trade; siehe auch Bankir.ru; 27.05.2020

Chef-Volkswirtin Natalia Orlova erwartet, dass sich der Rückgang der Industrieproduktion im Mai auf 9 Prozent beschleunigt. Dafür spreche, dass im Mai bisher ein deutlich stärkerer Rückgang des Energieverbrauchs verzeichnet wurde (- 5 Prozent) als im April (- 3 Prozent).

Der Rückgang des realen Einzelhandelsumsatzes wird angesichts des anhaltenden „lockdown“ nach ihrer Einschätzung im Mai mit 19 Prozent nur wenig schwächer sein als im April. Für das gesamte zweite Quartal rechnet Orlova mit einem realen Umsatzrückgang im Einzelhandel um 17 Prozent.

Wirtschaftsminister rechnet mit 6 Prozent niedrigeren Realeinkommen

Im zweiten Quartal 2020 werden die privat verfügbaren Realeinkommen nach Einschätzung des russischen Wirtschaftsministers Reshetnikov 6 Prozent niedriger sein als vor einem Jahr. Ohne Hilfsmaßnahmen der Regierung würden sie um 7,5 Prozent sinken. Das berichtet ura.news.

In einer Rede vor der Duma teilte der Minister auch mit, dass die Arbeitslosenquote im Jahresdurchschnitt voraussichtlich 5,5 Prozent erreichen werde. Am Jahresende könnte sie auf 5,7 Prozent steigen.

Alfa Bank bleibt relativ optimistisch

Wegen des Einbruchs im Einzelhandel und der voraussichtlichen Beschleunigung des Rückgangs der Industrieproduktion senkte die Chef-Volkswirtin der Alfa Bank ihre Prognose für das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Jahr 2020 jetzt von – 1 Prozent auf – 3 Prozent. Aber auch mit dieser Prognose bleibt Natalia Orlova merklich zuversichtlicher als die russische Regierung (- 5 Prozent) und die Zentralbank (- 4 bis – 6 Prozent). Neue Prognosen der schwedischen Nordea, der Rating Agentur Fitch, der Bank of America und der Citibank sehen die russische Wirtschaft in diesem Jahr hingegen inzwischen ähnlich schwach wachsen wie die Zentralbank.

Wachstumsprognosen 2020 bis 2022
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

   202020212022
Nordea, Stockholm05/27/2020-4.53.6
Alfa Bank, Moskau05/27/2020-3
Fitch Ratings05/26/2020-53
Bank of America05/26/2020-5.64.5
Citibank05/22/2020-4.33.9
Helaba, Frankfurt05/22/2020-33
Commerzbank, Frankfurt05/22/2020-21.1
Russisches Wirtschaftsministerium,
Basisszenario laut TASS
05/21/2020-5
Urals 31,1 $/b
2.8
Urals 35,4 $/b
3
Urals 42,2$/b
Russian Academy of Sciences05/20/2020-5.32.92.1
Economist Intelligence Unit, London05/19/2020-5.21.31.7
HSE Umfrage05/18/2020-4.332.3
Berenberg Bank, Hamburg05/18/2020-53.52.5
ING Bank, Amsterdam05/15/2020-2.52
Macro Advisory, Moskau05/15/2020-3.52.5
EBRD, London05/13/2020-4.54
OPEC, Wien05/13/2020-4.5
FocusEconomics
Consensus Forecast
05/12/2020-4.13.1
DekaBank, Frankfurt05/12/2020-5.33.2
JP Morgan05/11/2020-44.5
Interfax-Umfrage05/07/2020-3.52.5
HSE, Development Center05/07/2020-43.1
EU Kommission; Brüssel05/06/2020-51.6
WIIW, Wien05/06/2020-71.5
Reuters-Umfrage04/30/2020-3.4
Sberbank, Moskau04/30/2020-4.23.12
Moody’s Rating04/28/2020-5.52.2
Russische Zentralbank,
Basisszenario
04/24/2020- 4 bis - 6
Urals 27 $/b
2,8 bis 4,8
Urals 35 $/b
1,5 bis 3,5
Urals 45 $/b

Analysten erwarten Zinssenkung und befürworten weitere staatliche Hilfen

Angesichts der April-Daten erwartet Natalia Orlova von der Zentralbank eine „aggressivere“ Politik. Sie rechnet damit, dass am 19. Juni der Leitzins von 5,5 Prozent auf 4,75 Prozent gesenkt wird. Dmitry Polevoy hält angesichts des aktuellen Wachstumseinbruchs in vielen Bereichen neben einer weiteren Senkung der Leitzinsen auch zusätzliche staatliche Hilfen für erforderlich.

Auch Dmitry Dolgin, Chef-Volkswirt Russland der ING, meint, dass weitere Unterstützungsmaßnahmen des Staates erforderlich sein dürften, um das Vertrauen der Verbraucher wiederherzustellen. Er macht darauf aufmerksam, dass der Umsatz des Einzelhandels mit dauerhaften Konsumgütern im April um 36,7 Prozent einbrach.

Der „Kollaps“ im Einzelhandel sei vor allem durch den Abbau von Konsumentenkrediten verursacht worden. Jede fühlbare Erholung der Verbraucherstimmung erfordere eine Stabilisierung der Beschäftigungslage. Sie sei nicht erreichbar, solange die Regierung nichts zur Stärkung des geringen Vertrauens im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen und anderer von der Pandemie besonders betroffener Bereiche tue. Auch Dolgin schließt deswegen nicht aus, dass Forderungen nach einer weiteren Lockerung der Finanz- und Geldpolitik zunehmen werden.

Orlova im OAOEV-Gespräch: Regierung hält sich mit Rettungspaketen zurück

In einer Video-Konferenz, die der OAOEV mit der Chefvolkswirtin der Alfa-Bank am 26. Mai durchführte, meinte Orlova allerdings, die russische Regierung sei derzeit nicht bereit, extrem hohe Summen für Unterstützungsmaßnahmen auszugeben. Im Krisenjahr 2009 habe Russland mit fünf Prozent des BIP ein wesentlich größeres Rettungspaket für die Wirtschaft geschnürt als 2020.

Dr. Christiane Schuchart, Regionaldirektorin Russland des OAOEV, schreibt in ihrem Bericht zu Orlovas Einschätzungen der makroökonomischen Auswirkungen der Corona-Epidemie in Russland unter anderem auch:

Hinsichtlich der Folgen der aktuellen Krise seien die Unternehmen aus den Sektoren Handel, Sport und Freizeit am meisten betroffen und würden sich erst langsam erholen, zumal hier die Zahl der kleinen Unternehmen am höchsten sei. Andere Sektoren spürten zwar die Auswirkungen des Lockdowns, würden sich aber wahrscheinlich ganz gut erholen, so die Sektoren Transport, Bau, Finanzen und Immobilien. …

„Mit Blick auf das ganze Land sei die Corona-Krise vor allem eine Krise der Großstädte. Der Unterschied zu den Regionen sei enorm. Dass Russland sehr groß sei und im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hier nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in Großstädten lebe (ca. 25 Prozent), sei in diesem Fall ein Vorteil. …“

„Auch die Politik der Importsubstitution, die in den letzten Jahren stark vorangetrieben wurde, erweise sich jetzt als hilfreich, da Russland dadurch weniger integriert in internationale Lieferketten sei. Dennoch habe man die Auswirkungen der Werksschließungen in China und Europa stark gespürt. Diese Entwicklung führe aber zu einem neuen Impuls für eine zunehmende Importsubstitution mit einem Fokus auf die Industrieproduktion.“

Loko Invest: BIP-Rückgang im April könnte zweistellig sein

Nach Einschätzung der Anlagegesellschaft Loko Invest könnte der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion im April zweistellig gewesen sein, obwohl die Ölförderung noch auf Rekordniveau lag. Die für Mai vereinbarte Einschränkung der Ölförderung werde dazu beitragen, dass die Produktionsdaten im Mai und Juni in der Industrie und im Transportbereich noch schwächer ausfallen könnten. Im Konsumbereich erwartet Loko Invest ab Mai hingegen auch einen weniger starken Rückgang.

Auf seiner Telegram-Seite bietet Loko Invest mit Tabellen und Abbildungen detaillierte Informationen zu zahlreichen weiteren Konjunkturdaten:

Titelbild
Titelbild: Astemir Almov / Unsplash.com
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Quellen und Lesetipps:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Coronavirus in RF: Liveticker, Presseschau, Russland-Analysen, Russia Analytical Digest

Corona-Informationen von GTAI, OAOEV, WKO, AEB, AHK; IWF

Corona-Themenseiten des Wirtschaftsministeriums und der Zentralbank

Konjunktur im April/März: Monatsberichte von Wirtschaftsministerium, Rosstat, Zentralbank

Russlands Industrieproduktion im April 2020

Wirtschaftswachstum im ersten Quartal 2020

Weitere viertel- und halbjährlich erscheinende Konjunkturberichte

Wirtschaftsministerium: Prognose der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bis 2023

Wirtschaftsministerium: Plan zur Erholung der Wirtschaft; Prognose 2. Quartal 2020

Rede Putins vom 11. Mai zum Ende der arbeitsfreien Zeit und weiteren staatlichen Hilfen

Konjunkturentwicklung und Wirtschaftspolitik in Russland

Wirtschaftspolitik in der Corona-Krise weltweit

Ölpreiseinbruch und Konjunktur in Russland und weltweit

Länderprofil; Russland in Zahlen; Jahresberichte